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›Alles, was bleibt‹ ist eine unsentimentale und doch berührende Annäherung an den Tod. Die weltweit führende forensische Anthropologin und Anatomin Sue Black zieht hier das Fazit ihrer bahnbrechenden Karriere. Sie setzt sich mit den Spielarten des Todes, ihren Ängsten, dem Sterben ihrer Eltern und ihrer eigenen Sterblichkeit auseinander und plädiert für einen anderen Umgang unserer Gesellschaft mit dem Tod. Dabei erzählt sie von ihrem außergewöhnlichen Werdegang, der mit einem Ferienjob in einem Schlachthaus begann. Aber auch über ihre Einsätze für die Vereinten Nationen und mit dem British Forensic Team berichtet sie. So war sie 1999 im Kosovo, später in Sierra Leone und Grenada sowie 2005 nach der Tsunami-Katastrophe in Thailand, um die Identitäten der Verstorbenen zu ermitteln.

 

Sue Black porträtiert in ›Alles, was bleibt‹ die verschiedenen Gesichter des Todes, die sie kennengelernt und erforscht hat. Wie in der Forensik rekonstruiert auch ihr Buch die Geschichte des gelebten Lebens durch den Tod, und so handelt es ebenso vom Leben wie vom Tod – diesen unzertrennlichen Teilen des großen Ganzen.

 

 

»Da mich der Tod täglich bei meiner Arbeit begleitet, habe ich begonnen, ihn zu akzeptieren. Er gibt mir keinen Grund, mich vor seiner Anwesenheit zu fürchten.«

SUE BLACK

Autor

© Janice Aitken, University of Dundee

SUE BLACK, geboren 1961 im schottischen Inverness, ist weltweit eine der bedeutendsten forensischen Anthropologinnen. Ihre Fachkompetenz hat entscheidend zur Lösung vieler berühmter Kriminalfälle beigetragen und die Arbeit des British Forensic Teams bei Fällen unterstützt, die sowohl im Vereinten Königreich als auch weltweit für Aufsehen gesorgt haben. Sue Black berät seit vielen Jahren Krimiautoren.

 

Kathrin Bielfeldt hat u. a. Bücher von Piper Kerman, Lisa Belkin, Kim Gordon und Pete Townshend übersetzt.

 

Jürgen Bürger arbeitet seit über dreißig Jahren als Übersetzer und hat u. a. Autoren wie Stephen King, Jerome Charyn, Pete Dexter und James Lee Burke übersetzt.

Sue Black

alles,
was
bleibt

Mein Leben
mit dem Tod

Aus dem Englischen von
Kathrin Bielfeldt und Jürgen Bürger

Für Tom, auf ewig meine Liebe und mein Leben.
Und für Beth, Grace und Anna – jede von Euch ist meine Lieblingstochter.
 
Ich danke Euch, dass Ihr jeden Moment meines Lebens lebenswert macht.

 

Einleitung

Der Tod ist nicht der größte Verlust im Leben. Der größte Verlust ist das, was in uns stirbt, während wir leben.

Norman Cousins,
Wissenschaftsjournalist (1915  1990)

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Ich im Alter von zwei Jahren

 

 

Dem Tod und dem ganzen Wirbel, der um ihn gemacht wird, haften vermutlich mehr Klischees an als jedem anderen Aspekt des menschlichen Lebens. Er ist das personifizierte Unheil, der Überbringer von Schmerz und Leid; ein Raubtier der Dunkelheit, das uns verfolgt und jagt, ein gefährlicher Dieb in der Nacht. Wir geben ihm ominöse und grausame Spitznamen – »Sensenmann«, »Gevatter Tod«, »Freund Hein«, »Knochenmann« – und stellen ihn dar als ausgemergeltes Skelett mit schwarzem Kapuzenumhang, das eine todbringende Sense schwingt, dazu berufen, unseren Körper mit einem tödlichen Hieb von der Seele zu trennen. Oder er schwebt als schwarzer, gefiederter Geist unheilvoll über den Köpfen seiner zusammengekauerten Opfer. Und obwohl er in vielen Sprachen, in denen Substantive ein Geschlecht haben, weiblich ist (einschließlich Latein, Französisch, Spanisch, Italienisch, Polnisch, Litauisch und Altnordisch), wird er im englischen Sprachraum, wo er sprachlich gesehen eigentlich ein Neutrum ist, oft als Mann dargestellt.

Die moderne Welt lehnt den Tod ab, für sie ist er ein feindseliger Eindringling. Trotz aller Fortschritte der Menschheit sind wir der Entschlüsselung der komplexen Verbindungen zwischen Leben und Tod heute nicht näher als vor hundert Jahren. In mancher Hinsicht verstehen wir ihn wahrscheinlich weniger denn je. Wir scheinen vergessen zu haben, wer der Tod ist, was sein Sinn ist, und während unsere Vorfahren ihn vielleicht auch als Freund betrachteten, ist er für uns ein unwillkommener und teuflischer Widersacher, den man, so lange es geht, meidet oder bezwingt.

Wir schmähen ihn oder vergöttern ihn, und manchmal schwanken wir zwischen diesen beiden Haltungen. So oder so ziehen wir es vor, ihn nicht zu erwähnen, aus Angst, ihn ansonsten zu ermuntern, sich uns zu nähern. Das Leben ist hell, freundlich und glücklich, der Tod ist dunkel, böse und traurig. Gut und böse, Belohnung und Strafe, Himmel und Hölle, schwarz und weiß – mit Linné’scher Strenge kategorisieren wir Leben und Tod als Gegensätze, was uns die tröstliche Illusion von richtig und falsch vermittelt und den Tod möglicherweise zu Unrecht auf die dunkle Seite verbannt.

Als Folge davon scheuen wir seine Anwesenheit, als wäre er ansteckend; wir befürchten, wenn wir seine Aufmerksamkeit auf uns zögen, käme er uns holen, bevor wir auch nur annähernd bereit wären, unser Leben zu beenden. Unsere Angst verstecken wir hinter einer großen Klappe, wir reißen Witze über ihn und hoffen, dadurch seiner kalten Hand zu entkommen. Aber wir wissen, dass wir nicht mehr lachen werden, wenn wir ganz oben auf seiner Liste stehen und er schließlich unseren Namen ruft. Schon in jungen Jahren erlernen wir diese Ambivalenz, in einem Moment machen wir uns über den Tod lustig und im nächsten sind wir zutiefst ehrfürchtig ihm gegenüber. Wir lernen eine neue Sprache, mit dem Ziel, den Schnitt seiner scharfen Klinge und den Schmerz abzumildern. Wir sprechen davon, jemanden zu »verlieren«, reden flüsternd vom »Ableben«, und mit gemessenem, respektvollem Ton sprechen wir anderen unser Beileid aus, wenn ein geliebter Mensch »gegangen« ist.

Ich habe meinen Vater nicht »verloren« – ich weiß genau, wo er ist. Er liegt begraben auf dem Hügel des Tomnahurich-Friedhofs in Inverness, in einer wunderschönen Holzkiste von Bill Fraser, dem Bestatter unserer Familie, die ihm wahrscheinlich gefallen hätte, wäre sie nicht so kostspielig gewesen. Wir haben ihn in eine Grube gelegt, auf die zerfallenen Särge seiner Mutter und seines Vaters, in denen inzwischen kaum mehr als ihre Knochen und die paar Zähne sein dürften, die sie noch hatten, als sie starben. Er ist nicht gegangen, er wurde nicht abberufen: Er ist tot. Zum Glück ist er nicht irgendwohin gegangen – das wäre rücksichtslos von ihm gewesen und äußerst beunruhigend. Sein Leben ist beendet, und kein Euphemismus der Welt wird ihn mir je zurückbringen.

Als Kind einer strengen, nüchternen schottischen Presbyter-Familie, in der kein Blatt vor den Mund genommen wurde und man Mitgefühl und Sentimentalität häufig als Zeichen von Schwäche sah, gehe ich davon aus, dass es meine Erziehung war, die mich bodenständig und dickhäutig und zu jener Pragmatikerin und Realistin gemacht hat, die ich heute bin. Geht es um Leben und Tod, mache ich mir keine falschen Vorstellungen, sondern versuche ehrlich und offen darüber zu sprechen, was allerdings nicht bedeutet, dass ich unberührt bin oder immun gegen Schmerz und Leid oder ohne Mitgefühl für den Kummer anderer. Wie Fiona, unsere inspirierende Kaplanin an der Dundee University, es so eloquent formuliert: Seichtes Gerede, gesprochen aus sicherer Entfernung, spendet keinen Trost.

Warum verstecken wir uns mit all unserem Wissen des 21. Jahrhunderts immer noch hinter den Mauern von Konformität und Verdrängung, anstatt uns für die Vorstellung zu öffnen, dass der Tod vielleicht gar kein furchteinjagender Dämon ist? Er braucht doch nicht gespenstisch, brutal und grausam zu sein. Er kann still sein, friedlich und gnädig. Die Antwort ist wahrscheinlich, dass wir ihm nicht trauen, weil wir uns dagegen entscheiden, ihn kennenzulernen, weil wir uns während unseres Lebens nicht die Mühe machen, ihn zu verstehen. Täten wir das, würden wir lernen, ihn als integralen und notwendigen Teil unseres Lebens zu sehen.

Wir betrachten die Geburt als den Anfang des Lebens und den Tod als sein natürliches Ende. Aber was, wenn der Tod nur der Anfang einer anderen Phase der Existenz ist? Auf dieser Annahme basieren die meisten Religionen, die uns lehren, dass wir den Tod nicht fürchten müssen, da er lediglich das Tor zu einem besseren Leben danach darstellt. Dieser Glaube hat über Jahrhunderte vielen Menschen Trost gespendet, und vielleicht ist es das Vakuum einer zunehmenden Säkularisierung unserer Gesellschaft, das zum Wiederaufleben einer uralten, instinktiven, aber unbegründeten Abneigung dem Tod und all seinen äußeren Anzeichen gegenüber beigetragen hat.

Was auch immer wir glauben, Leben und Tod sind ohne Zweifel untrennbar miteinander verbundene Teile desselben Kontinuums. Das eine kann und wird nicht ohne das andere existieren, und sosehr sich die moderne Medizin auch bemüht, der Tod wird schlussendlich die Oberhand behalten. Da es keine Möglichkeit gibt, ihn zu verhindern, sollten wir uns vielleicht besser darauf konzentrieren, die Zeitspanne zwischen unserer Geburt und unserem Tod positiver zu gestalten und zu genießen: unser Leben.

Das ist auch einer der grundlegenden Unterschiede zwischen forensischer Pathologie und forensischer Anthropologie. Die forensische Pathologie, die Rechtsmedizin, sucht nach Todesursachen und Todesumständen – dem Ende der Reise –, wohingegen die forensische Anthropologie das Leben rekonstruiert, also die Reise selbst, über den gesamten gelebten Zeitraum hinweg. Unser Job ist es, die Identität, die während des Lebens entwickelt wurde, mit dem zusammenzubringen, was nach dem Tod in körperlicher, stofflicher Form übrig geblieben ist. Forensische Pathologie und Anthropologie sind also sozusagen Komplizen in Sachen Tod – und Komplizen in Sachen Verbrechensaufklärung.

In Großbritannien sind Anthropologen, anders als Pathologen, mehr Wissenschaftler als Arzt und daher medizinisch nicht qualifiziert, den Tod oder die Todesursache eines Menschen zu beurkunden. Heutzutage, in Zeiten stetig zunehmender wissenschaftlicher Erkenntnisse, kann man von Rechtsmedizinern nicht erwarten, in allen Bereichen Experten zu sein, und Anthropologen spielen daher eine wichtige Rolle bei Ermittlungen zu Verbrechen mit Todesfolge. Forensische Anthropologen helfen bei der Entschlüsselung von Hinweisen, die zur Identifizierung des Opfers führen, und gegebenenfalls auch bei der endgültigen Feststellung von Todesursachen durch die Rechtsmedizin. So bringt jedes Fachgebiet eigenes Spezialwissen mit an den Obduktionstisch.

An einem solchen Obduktionstisch waren eine Pathologin und ich mit den sterblichen Überresten eines Menschen im fortgeschrittenen Stadium der Verwesung konfrontiert. Der Schädel war in über vierzig Teile zersprungen. Als medizinisch qualifizierte Ärztin musste die Pathologin die Todesursache feststellen, und sie war sich relativ sicher, dass es eine Schusswunde war. Doch sie musste absolut sicher sein. Bestürzt blickte sie auf die große Anzahl weißer Knochenfragmente vor sich auf dem Metalltisch und sagte: »Ich schaffe es nicht, alle Teile zu identifizieren, und schon gar nicht, sie zusammenzusetzen. Das ist dein Job.«

Die Rolle des forensischen Anthropologen ist es, zunächst festzustellen, wer die Person in ihrem Leben gewesen sein könnte. War es ein Mann oder eine Frau? War die Person groß oder klein? Alt oder jung? Schwarz oder weiß? Zeigt das Skelett Hinweise auf Verletzungen oder Krankheiten, zu denen es medizinische oder zahnärztliche Unterlagen geben könnte? Können wir der Zusammensetzung von Knochen, Haaren oder Nägeln Informationen darüber entnehmen, wo der Mensch gelebt hat oder welche Art von Nahrung er zu sich genommen hat? Und würde uns – im vorliegenden Fall – das dreidimensionale menschliche Puzzle in die Lage versetzen, nicht nur die Todesursache festzustellen, die in der Tat eine Kopfschusswunde war, sondern auch die Todesumstände? Wir sammelten diese Informationen, vervollständigten das Puzzle und konnten so die Identität des jungen Mannes feststellen und durch Zeugenaussagen untermauern, denn unsere Untersuchungen bestätigten eine ballistische Eintrittswunde am Hinterkopf und Austrittswunde in der Stirn, oberhalb und zwischen den Augen. Es war eine Exekution aus nächster Nähe gewesen, während der das Opfer kniete, als die Waffe direkt an seinem Hinterkopf angesetzt wurde. Der Junge war erst fünfzehn Jahre alt gewesen, und bestraft worden war er für seine Religion.

Ein anderes Beispiel zur Veranschaulichung der symbiotischen Beziehung zwischen Anthropologen und Pathologen betrifft einen bedauernswerten jungen Mann, der zu Tode geprügelt worden war, nachdem er eine Gruppe Jugendlicher zur Rede gestellt hatte, die im Begriff gewesen war, einen Wagen vor seiner Haustür zu demolieren. Er war getreten und geprügelt worden, er hatte einen tödlichen Schlag auf den Kopf erhalten, es waren diverse Schädelfrakturen erkennbar. In diesem Fall kannten wir die Identität des Opfers, und die Pathologin stellte ein Schädeltrauma durch einen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand als Todesursache fest, der zu massiven Blutungen geführt hatte. Doch sie wollte ebenfalls klären, wie es zu diesem Tod gekommen war und, genauer, welche Art von Gegenstand es gewesen war, durch den er mit größter Wahrscheinlichkeit getötet worden war. Wir identifizierten jedes einzelne Fragment seines Schädels und rekonstruierten ihn, wodurch die Pathologin beweisen konnte, dass der entscheidende Schlag auf den Kopf mit einem Hammer oder einem Gegenstand mit ähnlicher Form ausgeführt worden war; er hatte eine zentrale und mehrere kleinere Schädelfrakturen zur Folge, die zu der tödlichen Hirnblutung geführt hatten.

Die Zeitspanne, die zwischen Beginn und Ende des Lebens liegt, wird für manche Menschen lang sein, sich vielleicht über ein Jahrhundert erstrecken, während sie für andere, wie für diese beiden Mordopfer, deutlich kürzer ist. Manchmal trennt die beiden Ereignisse nur ein kurzer, kostbarer Moment. Aus Sicht des forensischen Anthropologen ist ein langes Leben eine gute Sache, denn je länger es währt, umso mehr Erfahrungen hinterlassen ihre Narben auf und im Körper und umso deutlicher sind die Spuren auf unseren sterblichen Überresten. Wir entlocken dem Körper diese Informationen beinahe so, als würden wir sie in einem Buch lesen oder von einem USB-Stick herunterladen.

Für die meisten Menschen ist ein früher Tod etwas Schreckliches. Doch wer bestimmt, was kurz ist? Zweifellos steigt die Wahrscheinlichkeit eines baldigen Todes mit der Dauer unseres Lebens: Mit neunzig sind wir dem Tod in den meisten Fällen näher als mit zwanzig. Und von der persönlichen Begegnung mit dem Tod werden wir logischerweise nie wieder weiter entfernt sein als genau in diesem Moment.

Warum sind wir also überrascht, wenn Menschen sterben? Mehr als 55 Millionen Menschen um uns herum sterben jedes Jahr – zwei pro Sekunde –, und es ist das einzige Ereignis in unserem Leben, von dem wir alle mit absoluter Sicherheit wissen, dass es eintreffen wird. Diese Tatsache mindert nicht unsere Trauer und den Schmerz, wenn jemand stirbt, der uns nahesteht, doch ihre Unausweichlichkeit verlangt eigentlich nach einer pragmatischen und realistischen Herangehensweise. Da wir die Erschaffung unseres Lebens nicht beeinflussen können und sein Ende unausweichlich ist, sollten wir uns auf das konzentrieren, was wir regulieren können: unsere Erwartungen an die Zeitspanne zwischen diesen beiden Ereignissen. Vielleicht sollten wir versuchen, diese Erwartungen besser in den Griff zu bekommen, indem wir nicht die Dauer eines Lebens messen, sondern seine Bedeutung anerkennen und feiern.

Früher, als es schwieriger war, den Tod hinauszuzögern, gelang uns das möglicherweise besser. In viktorianischen Zeiten zum Beispiel, als die Säuglingssterblichkeit viel höher war, überraschte es niemanden, wenn ein Kind seinen ersten Geburtstag nicht erlebte. Im 21. Jahrhundert ist die Säuglingssterblichkeit deutlich niedriger, doch wenn unsere Erwartungen dazu führen, dass wir schockiert sind, wenn jemand mit neunundneunzig Jahren stirbt, ist das absurd.

Mediziner, die sich zum Ziel gesetzt haben, den Tod zu bezwingen, agieren auf dem Schlachtfeld dieser gesellschaftlichen Erwartungen. Doch bestenfalls können sie uns noch etwas mehr Zeit erkaufen und den Abstand zwischen diesen beiden irdischen Ereignissen vergrößern. Dass sie diesen Kampf letztendlich verlieren werden, darf und wird sie nicht davon abhalten, es zu versuchen – jeden Tag werden in Krankenhäusern rund um den Globus Leben verlängert. Realistisch gesehen führen manche dieser medizinischen Errungenschaften allerdings auf eine langwierige Hinrichtung hinaus. Der Tod kommt bestimmt, und wenn nicht heute, dann kommt er morgen.

Die Gesellschaft hat über Jahrhunderte hinweg die menschliche Lebenserwartung gemessen und katalogisiert, womit das Alter gemeint ist, in dem wir statistisch gesehen wahrscheinlich sterben werden – oder, um es positiver auszudrücken, die vermutete Zeitspanne zwischen unserer Geburt und unserem Tod. Lebenserwartungstabellen sind interessant und nützlich, doch sie sind auch gefährlich, denn sie schaffen Vergleichswerte und erzeugen Erwartungen, die möglicherweise nicht erfüllt werden. Wir wissen einfach nicht, ob wir der Durchschnitts-Karlheinz sind, der die Norm erfüllt, oder ein Ausreißer am einen oder anderen Ende der Normalverteilungskurve.

Und wenn wir uns am einen oder anderen Ende dieser Kurve wiederfinden, nehmen wir es direkt persönlich. Wir sind stolz auf uns, wenn wir unsere statistische Lebenserwartung übertreffen, denn das gibt uns das Gefühl, dem Schicksal irgendwie ein Schnippchen geschlagen zu haben.

Wenn wir unser prognostiziertes Alter nicht erreichen, haben die Zurückgebliebenen vielleicht das Gefühl, betrogen worden zu sein um das Leben eines Menschen, der ihnen nahestand, und das kann zu Wut, Verbitterung und Frust führen. Doch letztendlich ist das die Natur der Glockenkurve. Der Durchschnitt ist eben nicht die Norm, die meisten von uns fallen unter die Abweichungen davor und dahinter. Dem Tod dafür die Schuld zu geben und ihm Grausamkeit und Raub vorzuwerfen, ist unfair, denn er war immer ehrlich und hat uns gezeigt, dass unsere Lebensdauer irgendwo im Rahmen des Menschenmöglichen liegen wird.

Die älteste Frau der Welt, deren Alter nachweisbar war, eine Französin namens Jeanne Calment, war 122 Jahre und 164 Tage alt, als sie 1997 starb. 1930, im Geburtsjahr meiner Mutter, lag die Lebenserwartung einer Frau bei dreiundsechzig, und als sie mit siebenundsiebzig starb, hatte sie die durchschnittliche Lebenserwartung um vierzehn Jahre überschritten. Meine Großmutter schnitt sogar noch besser ab: Als sie 1898 geboren wurde, lag ihre Lebenserwartung nur bei zweiundfünfzig Jahren. Sie schaffte es bis siebenundachtzig und übertraf damit den Durchschnitt um sechsundzwanzig Jahre, was auch die großen Fortschritte widerspiegelt, die die Medizin während ihres Lebens gemacht hatte – und hätte sie nicht geraucht, wäre sie vielleicht noch älter geworden. Als ich 1961 auf die Welt kam, lautete die Vorhersage für meine Lebenserwartung vierundsiebzig Jahre. Was bedeuten würde, dass mir jetzt nur noch siebzehn Jahre bleiben. Meine Güte, wie konnte denn das so schnell passieren? Ausgehend von meinem jetzigen Alter und meiner Lebensführung, kann ich jedoch realistischerweise erwarten, fünfundachtzig Jahre alt zu werden und somit noch weitere achtundzwanzig Jahre zu haben, auf die ich mich freuen kann. Uff.

Während meines Lebens habe ich also die Aussicht auf zusätzliche elf Jahre gewonnen. Ist das nicht großartig? Nicht wirklich. Denn es ist ja nicht so, dass ich diese Extrajahre erhalten habe, als ich zwanzig oder sogar vierzig war. Wenn ich sie denn bekommen sollte, bin ich schon vierundsiebzig. Schön wäre es, wenn uns in der Blüte des Lebens mehr Zeit geschenkt würde, auf dass wir länger jung bleiben könnten.

Die Berechnungen der Lebenserwartung bei der Geburt werden immer genauer, und wir wissen, dass unter den nächsten beiden Generationen, jenen meiner Kinder und Enkelkinder, mehr Hundertjährige sein werden als jemals zuvor in der Geschichte der Menschheit. Dennoch steigt das Höchstalter, das unsere Spezies erreichen kann, nicht weiter an. Was sich drastisch ändert, ist das durchschnittliche Alter, in dem wir sterben, wodurch wir einen Anstieg der Anzahl von Menschen auf der äußeren rechten Seite der Normalverteilungskurve verzeichnen. Mit anderen Worten: Wir verändern die Form der Alterspyramide. Die stetig zunehmenden sozialen und gesundheitlichen Probleme einer älter werdenden Bevölkerung geben uns bereits einen ersten Eindruck von den Auswirkungen, die dies auf unsere Gesellschaft haben wird.

Auch wenn ein längeres Leben meist Anlass zum Feiern ist, frage ich mich manchmal, ob wir in unserem Bestreben, so lange wie möglich am Leben zu bleiben, letztendlich nichts anderes tun, als unser Sterben in die Länge zu ziehen. Die Lebenserwartung mag sich verändern, doch die Sterbeerwartung bleibt gleich. Sollte es uns jedoch je gelingen, den Tod zu besiegen, steckten die Menschheit und unser Planet in ernsthaften Schwierigkeiten.

Ich arbeite tagtäglich mit dem Tod an meiner Seite, und ich begegne ihm inzwischen mit Respekt. Er gibt mir keinen Grund, seine Anwesenheit oder sein Werk zu fürchten. Ich glaube, ich verstehe ihn recht gut, denn wir kommunizieren mittlerweile in einer offenen, schnörkellosen und einfachen Sprache. Erst wenn er seinen Job erledigt hat, darf ich dem meinen nachgehen, und dank ihm erfreue ich mich einer langen und interessanten Karriere.

Dieses Buch ist keine traditionelle Abhandlung über den Tod. Es folgt weder den ausgetretenen Pfaden hochfliegender akademischer Theorien oder verschrobener kultureller Vergleiche noch bietet es lauwarme Banalitäten. Stattdessen werde ich einfach versuchen, die vielen Gesichter des Todes zu beschreiben, denen ich gegenüberstand, die neuen Blickwinkel, die der Tod mir gezeigt hat, und jenen einen, den er mir im Laufe der nächsten dreißig Jahre offenbaren wird, sollte er sich nicht dazu entscheiden, mich noch länger zu verschonen. Und wie in der forensischen Anthropologie selbst, die versucht, durch den Tod das gelebte Leben zu rekonstruieren, geht es hier genauso viel um das Leben selbst. Leben und Tod – untrennbare Teile des endlosen Ganzen.

Im Gegenzug möchte ich Sie um eines bitten: Lassen Sie Ihre vorgefasste Meinung über den Tod, jeden Hauch von Misstrauen, Angst oder Abscheu für einen Moment beiseite – vielleicht fangen Sie dann an, ihn so zu sehen, wie ich es tue. Vielleicht gewöhnen Sie sich an seine Gesellschaft, lernen ihn ein wenig besser kennen und hören auf, sich vor ihm zu fürchten. Meiner Erfahrung nach ist es gleichzeitig aufregend und faszinierend, sich mit ihm zu beschäftigen, und niemals langweilig; doch er ist komplex und manchmal wunderbar unvorhersehbar. Sie haben nichts zu verlieren – und wenn Sie ihm selbst begegnen, ist es sicher angenehmer zu wissen, mit wem man es zu tun hat. 

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Stumme Lehrer

Mortui vivos docent.
(Die Toten lehren die Lebenden.)

Quelle unbekannt

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Dieses menschliche Skelett eines Erwachsenen hängt in meinem Labor.

 

 

Ab meinem zwölften Lebensjahr steckte ich fünf Jahre lang jeden Samstag und in allen Ferien bis zu den Ellenbogen in Fleisch, Knochen, Blut und Eingeweiden. Meine Eltern hatten eine strenge, presbyterianische Arbeitsmoral, und so wurde von mir erwartet, dass ich mir ab einem bestimmten Alter einen Teilzeitjob suchte und Geld verdiente. Also arbeitete ich im Metzgerladen auf der Balnafettack Farm am Rande von Inverness. Es war mein erster und einziger Schülerjob, und ich liebte alles daran. Die meisten meiner Freunde arbeiteten lieber in Drogerien, Supermärkten oder Boutiquen und fanden meinen Job ziemlich merkwürdig, um nicht zu sagen: echt eklig. Damals hatte ich keine Ahnung, dass die Welt der forensischen Wissenschaften auf mich wartete, aber heute, im Rückblick, sehe ich den Job als einen Teil meines Lebensplans, der damals für mich und alle anderen noch im Verborgenen schlummerte.

Eine Fleischerei war ein überaus geeignetes Übungsfeld für eine zukünftige Anatomin und forensische Anthropologin und ein spannender und faszinierender Arbeitsplatz. Ich liebte die klinische Präzision des Metzgerhandwerks, und ich lernte viel: wie man Hackfleisch herstellt und Würste abdreht und, vor allem, wie man den Metzgern ihren Tee kocht. Ich lernte den Wert einer scharfen Klinge zu schätzen, während ich ihnen zusah, wie sie ihre Messer geschickt und schnell um unregelmäßig geformte Knochen zogen und das dunkelrote Muskelfleisch von dem erstaunlich sauberen weißen Knochen darunter trennten. Sie wussten genau, wie das Fleisch geschnitten werden musste, um ein kunstvoll geformtes Bruststück oder gleichmäßige Steak-Scheiben zu erhalten. Die Sicherheit, dass die Anatomie, auf die sie stoßen würden, jedes Mal die gleiche war, war beruhigend. Meist zumindest: Ich erinnere mich an das eine oder andere Mal, wenn der Metzger leise fluchte, weil etwas »nicht ganz richtig« war. Anscheinend haben Schafe und Kühe auch ihre anatomischen Abweichungen, genau wie wir Menschen.

Ich lernte, was Sehnen sind und warum wir sie herausschneiden; wo zwischen den Muskeln Blutgefäße verlaufen, die entfernt werden müssen; wie man das Strukturgeflecht am Hilus der Nieren heraustrennt (zu zäh zum Verzehr) und wie man die Verbindungen zwischen zwei Knochen öffnet, unter der die glasige, zähflüssige Gelenkflüssigkeit zum Vorschein kommt. Ich lernte, dass man sich, wenn man kalte Hände hat – und das hat man in einer Metzgerei eigentlich immer –, auf die Lieferung frischer Leber freut, die noch warm aus dem Schlachthaus kommt. Für einen kurzen Moment konnte ich meine Hände wieder spüren, wenn ich sie in der Kiste vergrub, wo sie dank des warmen Rinderblutes auftauten.

Ich lernte, nicht an meinen Fingernägeln zu kauen, nie ein Messer mit der Klinge nach oben auf den Hackblock zu legen und dass stumpfe Messer mehr Unfälle verursachen als scharfe – wenngleich die scharfen Messer immer für eine spektakulärere Sauerei sorgen, wenn mal ein Fehler passiert. Heute noch gehe ich gern in eine Metzgerei, erfreue mich an der geschickten Anordnung der Körperteile in der Auslage, die akkurat präsentiert und fachgerecht zugeschnitten und aufbereitet daliegen, und darüber schwebt ein Hauch von Eisengeruch. Als ich damals den Job aufgeben musste, war ich traurig.

Ich verehrte meinen Biologielehrer Dr. Archie Fraser so sehr, dass ich tat, was immer er sagte. Als er mir also sagte, ich solle studieren, ging ich an die Universität. Ich hatte keine Ahnung, für welches Fach ich mich entscheiden sollte, also trat ich in seine Fußstapfen und studierte Biologie. Die ersten beiden Jahre an der University of Aberdeen verbrachte ich in einem langweiligen Nebel aus Psychologie, Chemie, Bodenkunde, Zoologie (wo ich beim ersten Mal durchfiel), Allgemeiner Biologie, Histologie und Botanik. Am besten schnitt ich in Botanik und Histologie ab, doch die Vorstellung, für den Rest meines Lebens Pflanzen zu studieren, fand ich schrecklich. Damit blieb nur Histologie, das Studium der menschlichen Zellen. Nachdem ich das Histologie-Modul abgeschlossen hatte, wollte ich nie wieder durch ein Mikroskop schauen – alles schien aus amorphen rosa und dunkelroten Klecksen zu bestehen. Die Histologie jedoch war mein Weg in die Anatomie, wo ich lernen würde, einen Leichnam zu sezieren. Ich war erst neunzehn Jahre alt und hatte noch nie eine Leiche gesehen, aber so schwer konnte das doch nicht sein – für ein Mädchen, das fünf Jahre seines Lebens damit zugebracht hatte, in einer Metzgerei Tiere auseinanderzuschneiden!

Vielleicht war ich durch meinen Samstags-Job irgendwie auf das vorbereitet, was vor mir lag. Das erste Mal in einem Sektionssaal zu sein ist ein einschüchterndes Erlebnis. Es ist einer der Augenblicke, die man niemals vergisst, weil alle Sinne gleichzeitig angesprochen werden. Wir waren zu viert in der Klasse, und ich höre noch immer das Echo in dem großen Saal mit seinen hohen, undurchsichtigen Glasfenstern und seinem aufwendigen viktorianischen Parkettboden, der zu anderer Zeit vielleicht als Wintergarten gedient hatte. Ich rieche noch das Formalin, ein chemischer Gestank, so beißend, dass man ihn schmecken kann; sehe die schweren Seziertische aus Glas und Metall vor mir mit ihrer abblätternden grünen Farbe – vierzig Stück oder mehr, militärisch aufgereiht und mit weißen Laken abgedeckt. Auf zwei Tischen, versteckt unter den Tüchern, lagen die Leichname, die auf uns warteten, einer für je zwei Studenten.

Diese Erfahrung verändert sofort die Wahrnehmung in Bezug auf andere Menschen und einen selbst. Man fühlt sich sehr klein und unbedeutend, wenn einem dämmert, dass hier jemand liegt, der zu Lebzeiten die Entscheidung traf, sich selbst nach dem Tod anderen Menschen für die Lehre zur Verfügung zu stellen. Diese noble Tat hat für mich bis heute nichts von ihrer Intensität verloren. Sollte ich irgendwann dieses unglaubliche Geschenk nicht mehr zu würdigen wissen, ist es an der Zeit für mich, das Skalpell an den Nagel zu hängen.

Graham, meinem Sezierpartner, und mir war nach dem Zufallsprinzip die Leiche eines selbstlosen Spenders zugeteilt worden – ein Körper, der von dem Präparator fachmännisch für uns vorbereitet worden war und der ein ganzes akademisches Jahr lang unser Forschungsobjekt sein sollte. Da wir seinen wirklichen Namen nicht kannten, nannten wir ihn, wenig originell, Henry, nach Henry Gray, dem Autor von Gray’s Anatomy, dem Buch, das von da an mein Leben begleiten würde. Henry, ein Mann aus der Gegend von Aberdeen, der mit Ende siebzig starb, hatte sich entschieden, seinen Leichnam dem Anatomischen Institut unserer Universität zu Ausbildungs- und Forschungszwecken zu spenden, also für Grahams und meine Ausbildung, wie sich herausstellte.

Es war ein erstaunlicher Gedanke, dass ich, als Henry diese unglaublich generöse Spende beschloss, von seiner Entscheidung, die mein ganzes Leben verändern sollte, absolut nichts wusste. Zu der Zeit bemitleidete ich mich wahrscheinlich gerade, weil ich in Zoologie Ratten sezieren musste, was ich verabscheute.

Als er starb, schnitt ich wahrscheinlich gerade einen weiteren Pflanzenstängel auf, von denen die Universität einen schier unendlichen Vorrat zu haben schien, um die Zellstruktur zu studieren, und ich wusste nichts von seinem Tod. Jedes Jahr, wenn ich Vorlesungen vor meinen Studenten des ersten bis vierten Semesters halte und sie auf die Präparationskurse vorbereite, die im fünften Semester beginnen, erzähle ich ihnen, dass die Person, die sie untersuchen und von der sie lernen werden, in diesem Moment noch am Leben ist. Vielleicht trifft sie gerade in diesem Augenblick die Entscheidung, ihre sterblichen Überreste zugunsten der Ausbildung der anwesenden Studenten der Universität zu vermachen. Es beruhigt mich, wenn ich höre, wie einige Studenten scharf die Luft einziehen, wenn ihnen klar wird, wie ungeheuerlich diese Vorstellung ist. Es gibt jedes Mal auch einige, denen bei dem Gedanken, dass ein Mensch, dem sie an diesem Morgen auf der Straße begegnet sind, auf ihrem Seziertisch landen könnte, die Tränen kommen – und das ist gut so. Eine solch große Geste eines fremden Menschen sollte man niemals für selbstverständlich halten.

Henrys Todesursache lautete Myokardinfarkt (Herzinfarkt), und sein Leichnam war von einem Bestatter aus dem Krankenhaus, in dem er gestorben war, abgeholt und dann dem Anatomischen Institut übergeben worden. Ob er Familienangehörige hatte, ob sie ihn in seiner Entscheidung unterstützt haben oder wie sie sich ohne das übliche Abschiedsritual einer Beerdigung gefühlt haben, habe ich nie erfahren.

In einem gefliesten, dunklen und klinisch-seelenlosen Raum im Keller des Anatomischen Instituts am Marischal College befreite Alec, der Präparationstechnische Assistent, Henry einige Stunden nach dem Tod von seinen Kleidern und persönlichen Gegenständen, rasierte ihm den Schädel und befestigte zur Kennung vier Messingschilder – jedes an einem Stück Schnur und mit einer fortlaufenden Identifikationsnummer gestempelt – an seinen kleinen Fingern und Zehen. Diese Schilder würde Henry während seiner gesamten Zeit an der Universität tragen. Als Nächstes nahm Alec einen sechs Zentimeter langen Schnitt in Henrys Leistengegend vor und legte, durch Fett und Muskeln hindurch, die Arterien und Venen in der Region des Oberschenkels frei, die man das »Oberschenkeldreieck« nennt. Dann wird er einen dünnen, sechs Zentimeter langen Längsschnitt in die Vene gemacht haben und einen weiteren in die Arterie, in die er eine Kanüle einführte, die er mit einer weiteren Schnur an ihrem Platz befestigte. Nachdem alles gut abgedichtet war, öffnete er ein Ventil in der Kanüle, woraufhin eine Formalinlösung, die sich in einem Tank über Henry befand, mithilfe der Schwerkraft langsam in sein verzweigtes Arteriensystem floss.

Die Balsamierungsflüssigkeit suchte sich ihren Weg durch die Blutbahnen zu jeder einzelnen Zelle seines Körpers – zu den Neuronen in seinem Gehirn, mit dem er über all das nachgedacht hatte, was ihm wichtig gewesen war; zu seinen Fingern, die die Hand von jemandem gehalten hatten, der ihm etwas bedeutet hatte; zu seiner Kehle, durch die er vielleicht nur Stunden zuvor seine letzten Worte gesprochen hatte. Die Formalinlösung arbeitete sich langsam vor, drängte das Blut aus seinen Adern, bis irgendwann das meiste davon ausgewaschen war. Nach nur zwei oder drei Stunden dieses stillen, friedlichen Balsamierungsprozesses wurde sein Leichnam in eine Plastikfolie gewickelt und aufbewahrt, bis man ihn brauchen würde, vielleicht Tage, vielleicht Monate später.

In diesem kurzen Zeitraum wurde aus einem Mann, der von seiner Familie gekannt und geliebt wurde, ein anonymer Leichnam, identifizierbar nur durch eine Nummer. Diese Anonymität ist wichtig. Sie schützt die Studenten und hilft ihnen, die Arbeit, die sie tun, mental von dem traurigen Tod eines Mitmenschen abzugrenzen. Wenn sie das erste Mal eine Leiche sezieren sollen, müssen sie, um dabei nicht vor Mitgefühl wie gelähmt zu sein, lernen, den toten Körper als entpersonalisierte Hülle anzusehen, zugleich aber müssen sie respektvoll sein und die Würde des Toten wahren.

Als für Henry der Augenblick gekommen war, seine Aufgabe in unserem ersten Präparationskurs zu übernehmen, wurde er auf eine Bahre gelegt, mit dem alten, klapprigen, lauten Fahrstuhl hoch in den Seziersaal gebracht, auf die Glasoberfläche eines der Seziertische gelegt und mit einem weißen Laken bedeckt, um dann still und geduldig auf das Eintreffen seiner Studenten zu warten.

Heutzutage geben wir uns größte Mühe, die erste Sektion für die Studenten so unvergesslich und so wenig traumatisch wie möglich zu gestalten. Genau wie ich werden die meisten von ihnen noch nie zuvor eine Leiche gesehen haben. 1980, als mein Präpkurs anfing, gab es keine Einführungskurse, kein schrittweises Heranführen an den Leichnam, der in den kommenden Monaten unser stiller Lehrer sein würde. Wir waren vier verängstigte Studenten im fünften Semester, die an diesem Montagmorgen, bewaffnet mit ihrem Snell’s Clinical Anatomy for Medical Students, einem Sektionslehrbuch, sowie G. J. Romanes’ Cunningham’s Manual of Practical Anatomy, einem Anatomie-Atlas, und einer Reihe angsteinflößender Sezierinstrumente, eingewickelt in eine khakifarbene Stoffrolle, ziemlich allein gelassen wurden und nun bei Seite eins des Lehrbuchs einfach loslegen sollten. Wir trugen keine Handschuhe und keinen Augenschutz, und unsere Laborkittel sahen schon bald grauenvoll aus, da wir sie nicht mitnehmen durften, um sie zu waschen. Wie die Zeiten sich doch geändert haben!

Auf unserem Tisch fanden Graham und ich mehrere Schwämme vor, und wir lernten sehr schnell, die während des Sezierens austretenden Flüssigkeiten damit aufzuwischen. Gelegentlich mussten sie ausgewrungen werden. Unter dem Tisch stand ein Edelstahleimer, in dem am Ende jedes Tages die Gewebeteile gesammelt werden mussten. Es ist wichtig, dass alle Teile eines Leichnams zusammenbleiben, selbst wenn es nur ein paar Stücke der Muskeln oder der Haut sind, damit die Leiche, wenn sie zur Einäscherung oder Beerdigung geschickt wird, so vollständig wie möglich ist. Über uns wachte, abwartend und beobachtend, ein weiterer, wichtiger Lehrer: ein verdrahtetes menschliches Skelett, das uns dabei helfen sollte, zu verstehen, was wir unter Henrys Haut und Muskeln fühlten.

Zunächst musste es uns gelingen, eine Skalpellklinge einzusetzen, ohne uns dabei den Finger abzusäbeln. Den schmalen Schlitz der Klinge auf die Halterung am Skalpellgriff aufzusetzen und die Klinge dann so zu führen, bis sie einrastet, braucht schon etwas Geschick und Übung. Ebenso wie das Abziehen der Klinge. Ich denke oft, dass sich langsam wirklich mal jemand ein besseres Design dafür ausdenken könnte.

Tritt nach dem Schnitt in eine Leiche hellrotes arterielles Blut aus, so wurden wir gewarnt, sollte man sich ins Gedächtnis rufen, dass Leichen nicht bluten. Stattdessen hat man den eigenen Finger erwischt. Die Skalpellklingen sind so scharf und in dem Raum ist es so kalt, dass man nicht fühlt, wie sie einem die Haut aufschlitzen. Also ist das erste Anzeichen, dass man sich selbst verletzt hat, der Anblick von scharlachrotem Blut auf der bleichbraunen Haut des einbalsamierten Leichnams. Vor Kontaminierung braucht man allerdings bei einer einbalsamierten Leiche keine große Sorge zu haben, da das Gewebe nach der Prozedur quasi steril ist. Was ganz gut ist, da das Hantieren mit den verzwickt kleinen Klingen mit kalten Fingern, die ganz glitschig sind vom Körperfett, nicht gerade einfach ist. Heutzutage beginnen wir das akademische Jahr mit einem großen Vorrat an Heftpflastern und Gummihandschuhen.

Ist die Klinge erst einmal am Skalpellgriff befestigt und hat der Finger aufgehört zu bluten, lehnt man sich über den Tisch und sofort beginnen die Augen von den Formalindämpfen zu tränen. Das Lehrbuch sagt dir, wo du schneiden sollst, doch es sagt dir nicht, wie tief man schneiden muss oder wie es sich anfühlen wird. Niemand hat dir die ausdrückliche Erlaubnis gegeben, Henrys Anatomie zu ertasten, um herauszufinden, von wo bis wo man schneiden muss, du hast keine blasse Ahnung. Es ist einschüchternd, angsteinflößend und auch irgendwie peinlich. Du überlegst, wie der Schnitt in der Mitte des Rumpfes geführt wird, von der Senke des Brustbeines am Halsansatz bis hinunter zum unteren Rand des Brustkorbes. Wer von beiden schaut zu, und wer macht den ersten Schnitt? Die Hände zittern. An diesen ersten Schnitt kann sich jeder Student erinnern, wie cool er sich vorher auch immer gegeben haben sollte. Wenn ich meine Augen schließe, weiß ich immer noch genau, wie es war und wie klaglos Henry unsere Ungeschicklichkeit tolerierte.

Dein stummer Lehrer wartet geduldig darauf, dass du anfängst, und innerlich entschuldigst du dich bei ihm für das, was du jetzt tun wirst, denn du hast Angst davor, eine Sauerei anzurichten. Skalpell in der rechten Hand, Pinzette in der linken … wie tief schneidet man? Es ist kein Zufall, dass die meisten Studenten die Sektion am Thorax beginnen. Das Brustbein liegt so dicht unter der Haut, dass man wenig falsch machen kann, so sehr man es auch versucht. Man kommt einfach nicht tief hinein. Man drückt die Klinge in die Haut, zieht sie vorsichtig den Brustkorb hinunter und hinterlässt dabei eine feine Linie.

Es ist überraschend, wie leicht sich die Haut öffnen lässt. Sie fühlt sich ledern an, kalt und nass, und wenn sie unter deiner Klinge auseinanderklafft, sieht man darunter im Kontrast das helle Gelb des Unterhautfetts. Wenn man sich dann ein wenig sicherer fühlt und den Schnitt vom Brustbein im Zentrum über beide Schlüsselbeine bis zur Spitze jeder Schulter ausdehnt, hat man seinen ersten T-Schnitt gemacht, der Beginn der inneren Leichenschau. Von einem zum nächsten Augenblick ist die ganze vorherige Aufregung vorüber. Die Erde hat nicht aufgehört, sich zu drehen. Die Erleichterung ist riesig, und erst jetzt stellst du fest, dass du während des gesamten Vorgangs nicht geatmet hast. Obwohl dein Herz rast und das Adrenalin durch deinen Körper jagt, merkst du überrascht, dass du keine Angst mehr hast, sondern jetzt fasziniert bist.

Nun musst du das Gewebe darunter freilegen. Man beginnt, die Haut zurückzuziehen, zupft vorsichtig an den Ecken der freien Lappen an der Mittellinie über dem Brustbein, an der Verbindung der beiden Äste des »T«. Man greift die Haut mit der Pinzette und wendet gerade genug Zug an, um der Klinge zu ermöglichen, die Haut von dem Gewebe abzupräparieren. Wirklich zu schneiden braucht man eigentlich nie. Das gelbe Fett erscheint, und kommt es in Kontakt mit deinen wärmeren Händen, schmilzt es. Es wird plötzlich knifflig, das Skalpell und die Pinzette zu halten, und der Anflug von Selbstvertrauen, den man noch kurz zuvor hatte, löst sich in Luft auf, wenn die Pinzette von der Haut abrutscht und Fett und Flüssigkeit hochspritzen, direkt in dein Gesicht. Niemand hat dich davor gewarnt. Formalin riecht ekelhaft, aber es schmeckt noch schlimmer. Diesen Fehler macht man nur genau ein Mal.

Während du die Haut weiter zurückziehst, bemerkst du winzige rote Punkte, und dir wird klar, dass du ein kleines Hautgefäß durchtrennt hast. Und urplötzlich wird dir das ganze Ausmaß an Informationen bewusst, die der menschliche Körper bereithält. Am Tag zuvor hast du dich noch gefragt, wie um alles in der Welt es ein ganzes Jahr dauern kann, einen menschlichen Körper zu sezieren, und warum man drei dicke Wälzer braucht, die einen dabei anleiten. Nun dämmert dir langsam, dass ein Jahr nicht annähernd genug ist und man es höchstens schafft, ein wenig an der Oberfläche zu kratzen. Du fühlst dich wie ein blutiger Anfänger – und das bist du ja auch. Verzagt fragst du dich, ob du dir jemals alles wirst merken können, was du lernen musst, geschweige denn ob du jemals alles genau verstehen wirst.

Du ziehst leicht an der Pinzette und die scharfe Klinge gleitet mit erstaunlicher Leichtigkeit in das Bindegewebe, obwohl sie dieses kaum zu berühren scheint. Die darunterliegenden Muskeln werden sichtbar, die weißen, quer liegenden Rippen des Brustkorbs heben sich dagegen ab wie ein fahler Toastständer. Während du unter deinen Fingerspitzen Henrys Muskeln und Knochen abtastest, wandern deine Augen die Erhebungen und Grate des Skeletts neben dir ab. Du beginnst, die Knochen und ihre Bestandteile zu benennen – das Gerüst des menschlichen Körpers –, und bevor du dichs versiehst, sprichst du in einer uralten Sprache, die von Anatomen in der ganzen Welt verstanden wird: eine Sprache, die Andreas Vesalius, dem Begründer der modernen Anatomie-Lehre im 16. Jahrhundert – mein unangefochtener Jungmädchen-Schwarm –, vertraut gewesen wäre.

Zunächst scheint der einbalsamierte Muskel eine einheitliche hellbraune Masse zu sein (die irritierenderweise etwas an Thunfisch aus der Dose erinnert), doch bei genauerem Hinsehen, wenn das Auge beginnt, die Strukturen auszumachen, erkennt man den Verlauf der Muskelfasern und die dünnen Nervenstränge, die sie versorgen. In den Bann gezogen von der wundervollen Konstruktion, die man gerade untersucht, erkennt man jetzt, wo die Muskeln ansetzen und welche Bewegung sie dem Gelenk ermöglichen, über das sie führen. Die Trennung zwischen dir selbst, einem lebenden Menschen, und dem Tod besteht weiterhin, aber die faszinierende Schönheit der menschlichen Anatomie hat eine Brücke hinüber in die Welt der Toten geschlagen, eine Brücke, über die nur wenige gehen und die niemand, der sie beschritten hat, je vergisst. Diese Brücke erstmals zu überqueren ist eine einmalige Erfahrung. Sie ist etwas ganz Besonderes.

Das Anatomie-Studium polarisiert die Studenten: Entweder sie lieben oder sie hassen es. Logik und Ordnung des Faches sind faszinierend; die Kehrseite ist die ungeheure Menge an Lernstoff – und der Geruch von Formalin. Wenn die Faszination die Nachteile überwiegt, hinterlässt die Anatomie einen Abdruck auf deiner Seele, und du fühlst dich als Mitglied einer privilegierten Elite: Auserwählte, die den Aufbau des menschlichen Körpers sehen durften und deren Lehrmeister jene waren, die ihnen den Blick in den eigenen Körper gestattet haben. Wir mögen auf den Schultern der großen Lehrmeister Hippokrates und Galen stehen und auf denen ihrer Nachfahren, Leonardo da Vinci und Vesalius, doch die wahren Helden sind unbestritten jene außergewöhnlichen Männer und Frauen, die sich dafür entscheiden, uns ihre sterblichen Überreste zu vermachen, damit wir davon lernen können: die Körperspender.

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Die Anatomie lehrt einen viele Dinge über die Funktionen des Körpers hinaus. Man lernt etwas über das Leben und den Tod, Menschlichkeit und Nächstenliebe, Respekt und Würde; man lernt Teamwork, Detailgenauigkeit, Geduld, Ruhe und handwerkliches Geschick. Unsere Interaktion mit dem menschlichen Körper ist taktil und sehr, sehr persönlich. Wollen wir dieses Handwerk wirklich erlernen, wird kein Buch, kein Modell und keine Computergrafik je an die Sektion herankommen. Es ist der einzige Weg, wenn man ein richtiger Anatom werden will.

Es ist allerdings ein Fachgebiet, das in der Vergangenheit einerseits sehr bewundert, andererseits aber auch oft geschmäht wurde. Seit den glorreichen Tagen der frühen Anatomen, von Galen bis Gray, bis heute wurde sein Ruf immer wieder durch skrupellose Subjekte beschmutzt, die nur Profit im Sinn hatten. Die abscheulichen Taten der Verbrecher Burke und Hare, die im Edinburgh des neunzehnten Jahrhunderts mordeten, um Leichen an die Anatomie-Schulen zu liefern, führten 1832 zur Verabschiedung eines neuen Gesetzes, dem Anatomy Act. Der Bildhauer Anthony-Noel Kelly wurde 1998 zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil er aus dem Royal College of Surgeons Leichenteile gestohlen hatte – dieser Fall warf Fragen zur künstlerischen Ethik und zum rechtlichen Status menschlicher, der Wissenschaft gespendeter Überreste auf. 2005 wurde eine amerikanische Firma für Gewebetransplantationen zwangsweise geschlossen und ihr Geschäftsführer verurteilt. Körperteile waren illegal entwendet und an medizinische Einrichtungen verkauft worden. Anscheinend ist auch die Anatomie nicht gefeit gegen die wirtschaftlichen Aspekte von Angebot und Nachfrage oder gegen kriminelle Handlungen von Betrügern ohne jedes Fünkchen Anstand, Würde und Ehrgefühl. Deswegen müssen wir unsere Körperspender und ihre Rechte auch über den Tod hinaus per Gesetz schützen.

Mit dem Tod wird Geld verdient, und wo Geld zu holen ist, wird es immer Leute geben, die bereit sind, Grenzen zu überschreiten. Da der Verkauf menschlicher Überreste in vielen Ländern legal ist und da es weltweit eine große Anzahl an Firmen gibt, die bereit sind, für ein echtes menschliches Skelett einen stolzen Preis zu zahlen, sollte es uns eigentlich nicht verwundern, dass es die uralte Straftat des Grabräuberns in moderner Form noch heute gibt. Als ich in den 1980er-Jahren studiert habe, wurden die meisten Skelette der Sektionssaal-Lehrsammlungen aus Indien importiert, der internationalen Hauptquelle medizinischer Knochen. Obwohl die indische Regierung den Export von menschlichen Überresten 1985 untersagt hat, existiert dort bis heute ein Schwarzmarkt. In Großbritannien wird der Verkauf von Knochen oder jeglichen anderen Körperteilen zu Recht nicht mehr toleriert.

Wie alle gesellschaftlichen Vorstellungen von richtig und falsch unterliegt auch der Umgang mit menschlichen Überresten Veränderungen und kann sich manchmal innerhalb eines Menschenalters stark wandeln. Die Skelette, die derzeit in Großbritannien zur Unterrichtung von Anatomie-Studenten eingesetzt werden, sind in der Regel Repliken aus Kunststoff; und obwohl man immer noch menschliche Skelette in verstaubten Schränken von Schulen, Praxen und Ausbildungszentren finden wird, fühlen sich viele Organisationen, auch wenn sie rechtmäßig im Besitz dieser Skelette sind, nicht wohl dabei, sie zu behalten. Manche entscheiden sich, sie einer Medizinischen Fakultät zu spenden, und erhalten als Ersatz möglicherweise ein künstliches Anatomie-Skelett.