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Die sechsundzwanzigjährige Ise Frank, Tochter einer großbürgerlichen jüdischen Familie, beginnt im München der frühen 1920er-Jahre eine Karriere als Buchhändlerin und Rezensentin. Ihr Leben erfährt eine neue Wendung, als sie den Architekten und Bauhausgründer Walter Gropius kennenlernt.

Heute ist ihr Name vergessen: Doch Ise Frank war weit mehr als die Ehefrau von Walter Gropius und Sekretärin der berühmten Architektur- und Designschule. Als Journalistin und Autorin bestimmte sie den Kurs des Bauhauses entscheidend mit. Vor allem aber stellte sie sicher, dass seine bahnbrechenden Gestaltungs- und Lehrideen in der Nazizeit – und auch danach – nicht in Vergessenheit gerieten.

Ise Frank, nur scheinbar Randfigur, tritt in diesem biografischen Roman erstmals in den Mittelpunkt.

 
autor

© Gernot Gleiss

JANA REVEDIN, geboren 1965 in Konstanz, ist Architektin und Autorin. Die Verfasserin von Standardwerken der Architekturtheorie hat sich auf die Reformarchitektur der Moderne spezialisiert. Nach ihrem Studium in Buenos Aires, Princeton und Mailand promovierte und habilitierte sie an der Universität Venedig. Heute ist sie ordentliche Professorin an der Ecole spéciale d’architecture Paris und an der Ecole supérieure d’architecture Lyon. Sie lebt in Kärnten und Venedig.

www.revedin.com

JANA REVEDIN

JEDER HIER NENNT MICH »FRAU BAUHAUS«

DAS LEBEN DER ISE FRANK

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Ein biografischer Roman

 

 

Für Tanja, meine Schwester

* 1. August 1959 † 1. August 1959

Kapitel 1

TECHNISCHE HOCHSCHULE HANNOVER, 28. MAI 1923

Es war schon fast sieben, als der Vortrag endete. Ise schaute aus den hohen Fenstern des Festsaals in den Innenhof der Hochschule, die im Welfengarten außerhalb der Stadtgrenzen Hannovers untergebracht war, einem Areal mit kilometerlangen Lindenalleen und einem Schloss, das mehr einer Trutzburg als einer Familienresidenz glich. Es war die Sommerresidenz der Hannoveraner Könige, ein Bau, der im selben Jahr fertiggestellt worden war, in dem die Preußen sie entthront hatten. Ein finsteres Reich aus Bogengängen und Wehrtürmen, das Ise bisher noch nie betreten hatte.

Es lagen Schatten auf den Fenstern, und der Abendhimmel im Geviert des »Osthofs«, sicher nicht sein ursprünglicher Name, doch dem neuen Mieter, der größten Technischen Hochschule Deutschlands, in seiner trockenen Präzision durchaus angemessen, war aprikosenrot. Das gab einen schönen Kontrast zu den beleuchteten Arkadengängen und dem Schattenriss der Doppeltürme, die den Hof auf der dem Festsaal gegenüberliegenden Seite begrenzten – wohl die einstige Schlosskirche.

Ise war zwar nicht vom Fach, hatte nur ein paar Semester Germanistik studiert und arbeitete jetzt im Buchhandel, doch für Licht und sein Spiel mit dem Raum hatte sie schon als Kind eine Schwäche gehabt. Sicher wegen ihrer Mutter.

Sie war an diesem Wochenende auf Drängen ihrer Freundin aus München nach Hannover gekommen. Lise, in eine Berliner Architektendynastie hineingeboren, genoss das Privileg, das Familien-Handwerk studieren zu dürfen, und hatte Ise zum Besuch des heutigen, so außergewöhnlichen Vortrags überredet.

»28. Mai 1923: an diesem besonderen Tag und nach diesem besonderen ersten Jahr ganz allein bleibst Du mir nicht allein in München!«, hatte sie ihr geschrieben, und Ise hatte das rührend gefunden.

Es war ihr sehr recht gewesen, aus München wegzukommen. Nicht wegen der Buchhandlung. Ihre neue Arbeit liebte sie. Im Organisieren von Lesungen und in den damit verbundenen Autoren- und Kundengesprächen, aber auch im Kritikenschreiben für den Hausverlag hatte sie endlich ihre Berufung gefunden. Schreiben konnte Ise gut, ja, es fiel ihr nicht schwer, sondern geschah ganz natürlich, jeden Tag. Sie spielte mit den Worten, seit sie ein Kind gewesen war. Nein, also nicht der Buchhandlung wegen war sie froh gewesen, für ein paar Tage aus München wegzukommen, sondern wegen ihrer Mutter. Und wegen dieser Geschichte mit Hermann, einer Liebesgeschichte, die keine war.

Der Vortrag war jetzt zu Ende, der Referent trat zwei Schritte zurück und verbeugte sich leicht. Ein kurzer Applaus füllte den Festsaal des Welfenschlosses. Solchen Applaus kannte Ise von den Lesungen in der Buchhandlung. Er blieb kurz, weil Fragen im Raum standen, die die Zuhörer dringend und unbedingt stellen wollten, und man mochte dem Redner keinesfalls signalisieren, er könne jetzt schon gehen. Der Referent wandte sich aber zur Seite und suchte mit dem Blick die Eingangstür in der Mitte der langen Saalwand, da wurde der Applaus lauter, ja beinahe tobend. In einer Hochschule!

War man hier nicht gewohnt, dezent auf die Schreibpulte vor den Sitzreihen zu klopfen?

Die Fragen an den Referenten, den Architekten Walter Gropius, der hier vor ihnen stand, begannen, doch weder einer der anwesenden Professoren noch der Rektor traten zum Pult, um zu moderieren. Er war auf sich allein gestellt, und sein Blick haftete weiter an der Tür, während er auf das erste Handzeichen wartete. Das kam jetzt aus dem rechten Flügel der Menge, also genau aus Gropius’ Blickrichtung. Eine sehr kleine, sehr blasse Dame stand auf. Eine Historikerin oder vielleicht eine Denkmalpflegerin?

Sie sah nach den lichtlosen Gängen eines verstaubten Archivs aus und würde garantiert eine Frage stellen, die keine Frage war, sondern eine vorweggenommene Antwort. Im schlimmsten Fall sogar eine unterschwellige Beleidigung, die jeden Dialog im Keim ersticken würde. »Bauhaus« habe der Herr Gropius, sie sagte betont: »Herr Gropius«, ohne jeglichen akademischen Titel, seine Lehranstalt in Weimar genannt? Sei das nicht ein banaler Name, er klinge nach »Bauhütte«, »Baustelle«, »Baukasten«, eben nach einem dieser typisch deutsch zusammengesetzten Technik-Begriffe, für die wir in der Welt nicht, wie viele Landsleute annähmen, bewundert, sondern oft belächelt, ja sogar ausgelacht würden?

Gropius verharrte einen Augenblick, dann trat er vom Pult herunter, das drei Stufen höher als das Publikum auf einer Empore installiert war. Eine kluge Entscheidung, Bewegung statt Erstarrung!

Er trat zu ihnen allen hinunter, machte sich »gemein«, sah aber trotz dieser versöhnlichen Annäherung an seine Zuhörer weiterhin aus wie ein Rittmeister in Zivil, nicht so, wie man sich einen Architekten vorstellte, dem ja immer etwas Abenteuerliches, Verwegenes, Halbseidenes anhaftete. Nein, Herr Gropius musste aus ausgezeichneter Familie stammen und keine materiellen Probleme kennen, erst recht nichts Halbseidenes. Er trug einen dunkelgrauen Kammgarnanzug ohne Weste, dafür mit schlichtem rindsledernem Riemengürtel, wie ihn Reiter trugen, ein weißes Oxfordhemd, eine weinrote Seidenfliege, eine schöne, sichtlich ererbte goldene Armbanduhr.

Ises Freundin Lise, die für sie beide Plätze in der vierten Reihe ergattert hatte, gleich hinter der versammelten Lehrerschaft, war noch viel eleganter herausgemacht. Sie hatte ihren besten schwarzen Hosenanzug angezogen! Ihr neuer Tick, denn seit Fotos von der schwedischen Schauspielerin Greta Garbo bei den Dreharbeiten zu Gösta Berling in den Gazetten aufgetaucht waren und man die junge Diva dort ausschließlich in Herrenkleidern sah, trug auch Lise nur noch Hosen. Und sie himmelte diesen Gropius an. Einen alten Mann! Einen aus dem letzten Jahrhundert!

Sie folgte seinen Bewegungen, als wäre er ein Filmstar oder Opernsänger, ohne jeglichen Abstand, ohne jegliche Kritik. Dabei war der Vortrag hier eher konfus gewesen. Alles, was Ise im Vorfeld über diesen Walter Gropius und sein Bauhaus gelesen hatte, war klarer strukturiert gewesen als diese knappe Stunde Ex-cathedra-Präsentation!

War Lise von Sinnen? Etwa in ihn verliebt?

Doch immerhin, wenn auch der Vortrag schwach gewesen war, so musste man zugeben, dass sich Gropius jetzt, von dieser blassen Dame angegriffen, gut zu verteidigen wusste. Seine »neue Lehre« begann sich anscheinend von selbst zu ordnen, sobald er in einen Dialog trat.

»Das Haus, das sich des Baus annimmt, habe ich ›Bauhaus‹ genannt. Ganz einfach«, sagte er und blickte sich nach weiteren Handzeichen um, um klarzumachen, dass er das Thema für erschöpft hielt. Er hatte die Lage plötzlich wieder im Griff, nachdem er seinen Bauhaus-Baukasten hier mit betont akademischer Zurückhaltung feilzubieten versucht hatte und ihm das nicht gelungen war.

Doch warum hatte er das überhaupt versucht? Warum hatte er überhaupt akzeptiert, hier in der Hochschule zu sprechen, nicht im Rathaus oder in der Stadthalle, wo Bürger, Arbeiter, Jugendliche und Politiker sein Publikum ausgemacht hätten?

Einer, der das Studium an zwei Universitäten abgebrochen und kein Diplom, geschweige denn einen Doktortitel in der Tasche hatte, musste sich doch nicht mit allwissenden Halbgöttern messen?

Ise konnte die Angst nachfühlen, die er vor diesem Auftritt in einer der renommiertesten Hochschulen des Landes gehabt haben musste. Ihr wäre es ähnlich gegangen, hätte man sie an die Berliner Universität eingeladen, die sie zu Kriegsbeginn verlassen hatte.

Sie blickte zu Lise hinüber. Die fand diesen Mann schlichtweg toll, das war nicht mehr zu leugnen. Seit Monaten hatte sie nur mehr von ihm geschrieben, Ise Zeitungsartikel geschickt, sie zum Anhören der Radiostunde, die man auf Tante Hannahs nagelneuem Radiogerät zu Hause in Berlin schon empfangen konnte, verdonnert. Ise hatte sich in diese Berichte zum »Neuen Bauen« und zur »Weimarer Reformschule« eingearbeitet, so gut sie konnte. Sie waren voller Technik-Latein und neu erfundener Begriffe zum Thema Gestaltung, doch sie hatte sie brieflich für Lise zusammengefasst und sich dabei eine ganze Liste von zugegeben ungewöhnlichen Fachwörtern angelegt, die sich exakt mit den Ausdrücken deckten, die dieser Gropius jetzt hier gebraucht hatte. Wer also, wie Ise, seine Lehre schon kannte, sich in seine Gedankenwelt eingelesen hatte, fand sich gut in seinen Wortschöpfungen zurecht. Erneuerung entstand ja immer zuerst in der Sprache.

Ein Paradigmenwechsel stand an. Man warf alte Begriffe über Bord und verkehrte sie ins Gegenteil. War die Erneuerungswelle eine echte, erfand sie neue Begriffe, oder sie setzte alte erfrischend anders zusammen. War sie eine schwache, die bald verebben würde, beschränkte sie sich auf »Post-« oder »Neo-« oder »Pro-« oder »Konter-«, Präfixe, die keinen kreativen Inhalt trugen und die nichts wagten als die Verneinung oder die Fortsetzung des schon Bekannten.

Auf die zweite Frage hin, die ein aufgeweckt aussehender junger Mann gleich vor ihnen jetzt stellte – »Mein Assistent in Bühnenbau, ein tolles Fachgebiet …, mein neues Steckenpferd«, zischte Lise herüber –, fasste Gropius seine Reformlehre noch einmal zusammen. Er hatte während der Frage, die sehr kollegial formuliert gewesen war, kurz bockig verharrt, anscheinend sich über sich selbst ärgernd, weil diese Frage klarmachte, dass der Inhalt seines Vortrags auch für den wohlwollendsten Zuhörer vage geblieben war. Technisch geschulte Köpfe wie die dieser Hochschule verziehen sicher ungern, wenn Thesen nicht stringent durchargumentiert wurden, sondern andeutend, ja verschleiernd oder sogar mystifizierend daherkamen.

Gropius musste sich blitzschnell eingestanden haben, dass er heute Abend ziemlich unvorbereitet, ja sogar abgelenkt gewirkt haben musste und diesem Publikum in keiner Weise angemessen erschienen war. Hier in Hannover hatte man eine wissenschaftliche Methodik zu seiner Lehre erfahren wollen, keine esoterisch angehauchte »Wie wunderbar ist’s bei uns in Weimar«-Duselei!

Er riss sich also zusammen, Ise konnte den vertikalen Kniff zwischen seinen Schulterblättern sehen, als er sich zur Tafel drehte. Er nahm ein Stück Kreide und zeichnete so schwungvoll einen Kreis auf den Schiefer, dass es durch den ganzen Saal quietschte. In die Mitte des Kreises schrieb er das Wort »BAU«, in Großbuchstaben. Im Haus, das sich dem Bau widme, deshalb Bauhaus, wie schon gesagt, entstehe der Bau, kollektives Ziel vieler Gewerke. Dies geschehe in den folgenden Phasen und in genau dieser Reihenfolge – er schrieb dazu unter BAU: »Bauplatz, Versuchsplatz, Entwurf, Bau- und Ingenieurwissen«. Um diesen BAU-Kreis herum zeichnete er einen zweiten, größeren Kreis, es quietschte wieder. In diesen Kreis schrieb er die Material-Ressourcen des Bauens, die die Lehrbereiche bestimmten: »Ton, Stein, Holz, Metall, Glas, Farbe, Gewebe«.

Das war präzise und dennoch anschaulich, fand Ise, geradezu perfekt! Unter Druck lief dieser Gropius zur Hochform auf!

Könnte sie sich etwa noch für diese Welt der Raumgestaltung erwärmen? Etwa beginnen, ihre Mutter zu verstehen, die sie für’s Theater, für Sprache und Licht im Raum, für den fiktiven Raum als Welt in der Welt verlassen hatte?

Der Referent schloss mit erneut aufgekommenem Schwung, der Reiter bog auf die Mittellinie und nahm seine Zielgerade: Es fielen nochmals die Begriffe »Gesamtkunstwerk«, »Experimentelles Entwerfen«, »Wesensforschung«, »Form-Gestalt«. Er ging nochmals, doch jetzt klar verständlich, ja geradezu selbstverständlich auf die Struktur seines Lehrplans ein. Die Hauptlehre, die Naturstudium, Material- und Werkzeugkunde, Stoff-, Raum-, Farb- und Kompositionslehre sowie Konstruktion und Darstellung vereine, baue sich auf einer allgemeinen Entwurfs-Vorlehre auf. Man werde im Bauhaus erst Geselle, dann Meister, wie in den Gilden seinerzeit, doch im Auftrag der »neuen Gesellschaft«. Architektur sei eine gestalterische, doch gleichwohl soziale, ja politische Mission!

Eine schöne Titelzeile für ein Interview, hatte Ise Zeit zu denken, da fuhr er schon fort, jetzt ganz mühelos: Gestalterisch sei das Neue Bauen die Abwendung von der »eitlen Salon-Baukunst«, die sich in Reproduktionen vergangenheitsverliebter Formen und Dekore selbst ersticke.

Ise musste unweigerlich schmunzeln, da sie diese Zeile an Hermann und seine Sezessionistenbande erinnerte, die in ihrer ebenso eitlen Salon-Kunst ja nur sich selbst gefielen.

Politisch aber sei das Neue Bauen die Abwendung von sämtlichen Werten der Rechten, von reaktionär königstreuer, ja jedweder nationalistischen Gesinnung.

Das sagte er hier, im Welfenschloss zu Hannover, vor der versammelten hochrenommierten Professorenschaft? Deren Altersdurchschnitt an die siebzig war und die demnach notgedrungen königstreu sein mussten, weil zu Kaisers Zeiten groß geworden?

Ise sah sich in den ersten drei Reihen um, in denen die Lehrstuhlinhaber inmitten ihrer Institutsgefolge saßen, sicherlich nach genauer Rangordnung platziert. Nach zukunftsweisend, nach sozial oder demokratisch sah hier nicht ein Einziger aus! Chapeau also, Herr Gropius!

Ise kam aus dem Schmunzeln gar nicht mehr heraus, dieser Mann wagte was!

Doch war sein Rebellentum glaubhaft? Oder war es ein gekonnt aufgelegter Spieler-Trick?

Hier sprach ein Patrizier von der Abwendung von sämtlichen Werten der Rechten. Gut, es war wahr, Ise hatte das ja im Zuge ihrer Radiomitschriften für Lise recherchiert, er hatte gegen Ende des Krieges gemeinsam mit seinem Königsberger Kollegen Bruno Taut eine geheime Vereinigung aus Nachwuchsarchitekten, die Gläserne Kette, gegründet, die sich Zeichnungen und Streitschriften, im Schützengraben oder im Bunker gefertigt, in versiegelten Briefen im Kreis herum gesendet hatten. Auf den handkolorierten Blättern waren Auftrag, Struktur und Form eines Bauens »für jedermann« definiert worden. Bruno Tauts Bruder Max, Hans Scharoun, die Brüder Luckhardt und Carl Krayl hatten neben dem Maler Hermann Finsterlin zu dieser Kette gehört, und eine Zeile unter einem Taut-Aquarell war Ise aus dem Studium jener Briefe im Gedächtnis geblieben. Jetzt, wo sie Gropius persönlich erlebte, wurde ihr klar, wie sehr diese Zeile die gesamte Vision seines Bauhauses zusammenfasste: »Eine Größe hat unsere Zeit: Besseres wollen.« Die nummerierten Nachdrucke dieser zauberhaften Aquarelle hatten neben ihrem ethischen auch einen unbestreitbaren künstlerischen Wert. Und so war es kein Wunder, dass sie in Ises Buchhandlung inzwischen zu Fantasiepreisen gehandelt wurden.

Gropius hatte sich dann in der Novembergruppe und im revolutionären »Arbeitsrat für Kunst« engagiert, Vereinigungen, die den sozialen Umbruch im Land durch die, wie sie postulierten, »Annäherung von Kunst und Volk« vorantreiben wollten. Mit Martin Wagner, dem Schöneberger Stadtbaurat und bekennenden Sozialisten, hatte er erste Siedlungstypen entworfen, mit Ernst May, seinem Frankfurter Kollegen und bekennenden Kommunisten, Vorfertigungs-Module für den Wohnbau. Erwartungsgemäß waren er und seine suspekten Mitstreiter seit Kriegsende als »linkes Gesindel« verschrien. Umso verwunderlicher war es also, dass man ihm die staatliche Gewerbeschule Weimar als Experimentierstätte seines neuen Lehrkonzepts anvertraut hatte.

Ise musste ihr anfängliches Urteil revidieren, irgendetwas war an diesem Mann.

Waren es seine hellblauen Augen? Fuchsaugen. Die waren auf Eroberung aus. Und gleich danach auf Flucht.

Oder war es dieser herbe, ja leidende Zug um den Mund? Die vier Kriegsjahre an der Westfront und die Trennung von seiner ersten Frau hatten ihm zugesetzt, das sah man ihm an. Diese Alma Mahler hatte ihn mit Franz Werfel betrogen, die Wiener und Berliner Spatzen hatten es von allen Dächern gepfiffen und die venezianischen Möwen weit über das Markusbecken geschrien.

Ise resümierte, während Gropius wieder von der Tafel hinunter zum Publikum schritt: Sohn aus bestem Hause, kriegsbewährter Kavallerieoffizier, Frauenheld, zwar Studienabbrecher und ohne festes Einkommen, doch neuerdings als Reformschuldirektor erfolgreich, sucht möglichst begüterte, möglichst verheiratete Frau zwecks erneuten Ehebruchs. Und die würde er sicher bald gefunden haben, so wie er jetzt auf der untersten Treppenstufe des Podiums stand. Denn dieser Mann schien Erfolg haben zu können, wenn er nur wollte.

Die Weimarer Lehranstalt, die er mit seinem Konzept des Mischens von altem Bauhüttengeist, Handwerkskönnen und frisch zu erprobender industrieller Produktionstechnik übernommen hatte, war in kürzester Zeit in aller Munde gewesen. Die Presse hatte sein Konzept hoch gelobt, und die Lehrpläne der alteingesessenen Technischen Hochschulen wie dieser hier in Hannover hatten sich tunlichst entstauben müssen, um keine Studenten zu verlieren. Für das interdisziplinäre Curriculum, das Gropius sich in den Kopf gesetzt hatte, hatte er Handwerker finden müssen, die keine Stubenhocker waren, und Techniker, die Gestaltungsverstand hatten.

Wie hatte er die entdeckt? Und wo?

Nicht am normalen Arbeitsmarkt sicherlich, sondern in den Nischen und Ritzen einer vom Krieg geschwächten, ja zerrissenen Gesellschaft.

Wie viele waren versehrt von der Front zurückgekehrt? Wie viele labil, depressiv oder unrettbar verrückt?

Der Mann musste also neben einer gewissen Fortune auch Gefühl haben. Und eben Wagemut. Er hatte seine Schule einfach eröffnet und jeden angenommen, der sich einschrieb. »Eine schräge Bande aus Universitätsverweigerern und Weltverbesserern«, wie Lise anfänglich, noch gar nicht begeistert, geschrieben hatte. Doch die Mischung musste explosiv genug gewesen sein, um in nur vier Jahren nie gesehen vielseitige und gleichwohl namhafte Lehrer an seine Bauhaus-Werkstätten zu binden.

Und genau das war die abschließende, knappe Frage des Rektors, der sich jetzt in der ersten Reihe erhob und stehen blieb, hiermit andeutend, dass die Fragestunde beendet sei: »Ihre Lehrbeauftragten noch, Herr Gropius?«

Auf diese Frage hatte Gropius gewartet. Lise strahlte ihn an, während er die Liste seiner Mitlehrenden wie nebenbei herunterleierte: »Lyonel Feininger, Gerhard Marcks, Paul Klee, Johannes Itten, Oskar Schlemmer …«, begleitet von den unvermeidlichen Ahs und Ohs des Publikums. Den letzten seiner Meister nannte Gropius erst nach einer kleinen Pause, in der er auf den Rektor zuging und sich sehr nahe neben ihm platzierte. Schulter an Schulter mit dem eine knappe Generation älteren und schon am Stock gehenden Rektoren-Kollegen machte er selbstverständlich eine glänzende Figur, und das wusste er genau.

»Dann ist, zu unser aller Überraschung, noch Wassily Kandinsky nachgekommen.« Es sollte nebensächlich klingen, doch zwischen den Zeilen stand der schiere Triumph.

Im begeisterten Geraune, das den Festsaal jetzt füllte, kamen Ise wieder Zweifel.

Was, wenn dieser Gropius doch nur ein Blender war? Und die hier versammelten, vielleicht gar nicht so ewig gestrigen Akademiker recht hatten mit ihren Bedenken gegen seine neue Lehre? Was, wenn er in Wahrheit ein aufgeplusterter Gockel und Frauenverächter war wie Kandinsky?

Kam hier, am Punkt der Vorstellung, an dem er wieder Oberwasser gewonnen hatte, nicht ein gefährliches Ich-bin-eben-unwiderstehlich-Gehabe durch, das nur Menschen eigen ist, die die Selbstkritik verloren haben?

»Dann ist … noch Wassily Kandinsky nachgekommen« – dieser letzte Satz stand wie ein Paukenschlag im Raum. Der alte Herr neben Gropius fiel einige Zentimeter in sich zusammen.

Kandinsky war aber nicht der großen Idee Bauhaus nachgekommen, das war einfach nicht wahr! Ise hatte in den letzten zwei Jahren mit Hermann, und zumindest in dieser Hinsicht war ihre Beziehung ja sinnvoll gewesen, einen ziemlich guten Einblick in die Münchner Künstlerszene gewonnen. Dieser selbstherrliche Widerling von Kandinsky war keineswegs aus beruflichen, sondern aus privaten Gründen aus der Stadt verschwunden. Er war nicht etwa nach Weimar nachgekommen, nein, er war, nach mehreren Fluchten aus Deutschland weg nach Russland und wieder zurück, seiner Münchner Lebensgefährtin entkommen, einer wunderbaren Künstlerin, die ihre ganze Existenz, ihr eigenes Talent und ihr Vermögen in diesen Kerl und in ihre gemeinsame Blaue-Reiter-Idee investiert hatte.

»Denn welcher Mann kann solche Last ertragen?« Ise flüsterte die Frage anscheinend ziemlich laut vor sich hin, denn Lise drehte sich böse zu ihr her.

Keiner. Da flohen sie wohl lieber …

Ise gab acht, von jetzt an den Mund zu halten. Und Lise hatte den Einwurf auch sofort vergessen, sie sonnte sich erneut in ihrer Verliebtheit, hatte die Arme verschränkt und wiegte ihre blinde Begeisterung hin und her wie ein friedlich schlafendes Neugeborenes.

Nie, dachte Ise zu diesem Anblick, niemals würde sie so enden wie die vermeintlich einigen, sich in Wahrheit aber untereinander zerfleischenden Blauen Reiter! Nie würde sie sich einer sogenannten Idee unterordnen, die abstrakt war und immens, ungreifbar und ohne Grenzen. In deren Scheinwerfern sich die sonnten, die gut im Sichverkaufen waren, während die, die tagtäglich an der Umsetzung und Weiterentwicklung arbeiteten, namenlos blieben. Von der Geschichte verschluckt.

Sie nahm sich das vor, so wie sie hier saß. Sie würde sich an diesen Abend erinnern, sollte sie jemals aus grenzenloser Ideen-Begeisterung gegen sich selbst entscheiden.

Im selben Moment hob der Schlussapplaus an, die Studenten in den hinteren Reihen standen auf und machten sich zum Rennen auf den Referenten bereit. Es sah ganz so aus, als ob das Weimarer Bauhaus im nächsten Semester auf viele Neueinschreibungen zählen könnte. Gropius beschwichtigte den Applaus, wieder eine kluge Geste, als ob er ihn nicht verdient hätte, hier ja nur stellvertretend für seine Idee und seine Mitstreiter stünde. Er lud stattdessen in der wiedereingekehrten Stille noch zur Eröffnung der ersten Bauhaus-Ausstellung am 15. August nach Weimar ein. Das erste Bauhaus-Musterhaus sei dann fertiggestellt und man biete darin eine Präsentation der Arbeiten aller beteiligten Werkstätten.

»Auf Wiedersehen in Weimar«, konnte er noch in die Menge rufen, dann wurden von den hinteren Rängen erneute Fragen einfach in den Raum geschrien, der Saal heizte sich auf, eine Stimmung machte sich breit, die mehr dem Beginn eines Volksfests als dem Ende einer Ex-cathedra-Vorlesung glich. Der betagte Rektor neben Gropius zog sein Taschentuch aus der Westentasche und tupfte sich die Stirn.

»Muches Wabenbau – Sie ließen einen Studenten planen?«

»Im Radio nannten Sie es ›Baukasten-im-Großen‹ – was meinten Sie damit?«

»Wie wird gebaut? Welche Struktur? Welche Materialien?«

Der Rektor trat jetzt die Flucht nach vorne an, er ging zwei Schritte auf seine aufgebrachten Studenten zu, wiegelte die Fragen mit einem weiten Schwung seiner Rechten ab und schrie: »Silencium!«

Er wandte sich zu Gropius zurück, dankte ihm für sein Kommen, er sagte bewusst nicht »Kollege« und gab ihm auch nicht die Hand. Dann erklärte er den Vortrag für beendet.

Kapitel 2

EIN SEIFENKISTENRENNEN?

Lise war kaum zu halten. Wie sollte sie es anfangen, an diesen Mann heranzukommen, wo ihn sofort eine Traube von Menschen umgab?

Sie stellten sich an. Es dauerte. Im Saal wurde es wärmer und wärmer.

Gropius hatte auch nicht vorgesorgt, weder hatte er Flugblätter dabei noch ein Programm oder Visitenkarten seiner Schule, er stand weiter auf der letzten Stufe des Podiums, von allen Seiten von gestikulierenden Studenten umgeben, und sah plötzlich hilflos aus. Als ob ihm von einem Moment auf den anderen alle Energie, alle Spannung abhandengekommen wäre, schien er jetzt nur noch eins zu wollen: raus hier.

Da keiner ihm zu Hilfe kam – lustigerweise fehlte von den Professorenkollegen jede Spur, sie hatten sich genauso wie der Rektor in Luft aufgelöst –, hatte Ise eine Idee. Sie wies Lise an, stehen zu bleiben, wo sie war, am Ende der Studententraube, würde selbst aber zur Tür vorausgehen. Lise solle dann auf ihr Zeichen aufgeregt mit den Armen winken und Gropius zur Tür weisen, und Ise würde ihn dort erwarten und aus dem Getümmel führen.

Es klappte, Gropius verstand in Sekundenschnelle und lief auf die Tür und auf Ise zu, als überbrächte sie eine wichtige Botschaft oder eine dringende Programmänderung.

Lise kam unauffällig nach, und alle drei rannten sie im Laufschritt durch die schummrigen Gänge des Schlosses wie Verschworene. Zwischen den Säulen der Arkaden stand malvenblau der Abendhimmel.

Als sie über die monumentale Freitreppe der riesigen Empfangshalle vor dem Eingangsportal angekommen waren, hielten sie kurz an. Gropius wies durch das offen stehende Tor hinaus in den Park und machte die Geste des Lenkradlenkens. Dazu legte er fragend den Kopf schief. Ein Schuljunge verführte seine Kameradinnen zu einem eigentlich verbotenen Seifenkistenrennen im Park. Er rollte mit den Augen dazu, es sah drollig aus, geradezu zum Schreien!

Konnte einer, der fähig war, so lustig und unverhofft ein Gefühl der Vertrautheit zu schaffen, ein Gockel sein wie Kandinsky?

Ise und Lise nickten gleichzeitig, er würde sie also in seinem Wagen mit zurück in die Stadtmitte nehmen, und das war Lise selbstverständlich nur recht.

Kapitel 3

»GESTATTEN SIE? WALTER GROPIUS, REBELLENARCHITEKT.«

Vor dem Portal warteten natürlich keine Seifenkisten, sondern der Chauffeur der Stadt Hannover in seiner mausgrauen Mercedes-Benz-Limousine. Beim Anblick des Referenten sprang er aus dem Wagen und öffnete Gropius und den jungen Damen den hinteren rechten Schlag. Sie stiegen alle drei auf die Rückbank und die Fahrt ging los, unter den duftenden Lindenalleen der Nienburger Straße hindurch bis zum Ende des Welfengartens, auf’s Leibnizufer und an der Leine entlang Richtung Altstadt. Beim vierspurigen Friedrichswall angekommen fuhr der Wagen eine Linkskurve, die Georgstraße hinauf und hielt an der Kreuzung des Theaterplatzes, vor dem Café Kröpcke.

»Die Damen begleiten mich doch?«, fragte Gropius jetzt, und Ise fiel auf, dass er die ganze Fahrt lang geschwiegen hatte.

War er verärgert über die Flucht des gesamten Professorenkollegiums? Oder hatte er, durch die Fragen aufgehalten, seinen Zug verpasst und musste im Kopf einen neuen Heimfahrplan schmieden?

»Mein Zug nach Berlin geht erst um Viertel vor neun, das ließe uns Zeit für ein Glas.«

»Keiner begleitet Sie zum Bahnhof?« Lise war fassungslos.

»Von den Herren Professoren?«

Er kräuselte säuerlich den Mund, dann lachte er laut, ein kurzes Lachen, das aufgesetzt wirkte. »Nein, nach Hannover eingeladen hat mich ja Ihr Oberbürgermeister Leinert, nicht die Hochschule. Wir waren Mittagessen, ein aufgeschlossener Mann! Das Gegenteil Ihres Rektors, möchte man meinen … Doch hat er bei der anhaltenden Putschfreudigkeit rund um den Ruhrkampf gerade keinen leichten Stand.«

Jetzt schien er sich zu besinnen, dass sie alle drei einander noch nicht vorgestellt, sondern nur wie alte Freunde aus dem Festsaal-Tumult geflüchtet waren, also setzte er sich gerade auf die Sitzbank und richtete in Sekundenschnelle mit einer präzisen Bewegung beider Hände seine Fliege.

»Gestatten Sie? Walter Gropius, Rebellenarchitekt«, sagte er mit dem Augenrollen des Seifenkistenjungen von vorhin. Er gab erst Lise, die neben ihm in der Mitte saß, einen Handkuss, dann beugte er sich zu Ise herüber.

Komisch konnte er sein, dieser Mann mit dem herben Zug um den Mund!

»Ise Frank«, sagte Ise, »ich bin gar nicht vom Fach, also kein Fan, tut mir leid, aber meine Freundin hier …«

»Lise Schmieden«, sagte Lise, sonst nichts.

Sie ließ den Namen wirken.

Gerade als Gropius »Ach« sagte, öffnete der Chauffeur auf Ises Seite den Schlag, und sie stiegen alle der Reihe nach aus dem Fond des Wagens aus. Gropius verabschiedete sich vom Fahrer, er werde von hier zu Fuß zum Bahnhof gehen, er lasse den Herrn Oberbürgermeister nochmals grüßen und ihm danken. Der Chauffeur salutierte, stieg wieder ein und fuhr den Wagen an. Passanten blieben stehen und schauten, die Limousine des Bürgermeisters, überhaupt jedes auf Hochglanz polierte Automobil erregte in der kleinen Stadt Hannover augenscheinlich immer noch ein gewisses Aufsehen. In Berlin, dachte Ise, wo inzwischen Zehntausende Kraftfahrzeuge registriert waren, war ein Serien-Mercedes keinen Blick mehr wert. Vor dem Adlon konnten zehn Limousinen mit den exotischsten Nummernschildern und verrücktesten Ausstattungen stehen und keiner sah sich mehr nach ihnen um.

Adolphe, der Chefkellner des Kröpcke, sprach Lise, als die drei ins Café eintraten, mit der gewohnten »Guten-Abend-das-schöne-Fräulein«-Begrüßung an, die Ise nur allzu gut kannte. Hier war der Herr Gropius aus Berlin nur ein Statist, und die Hauptrolle spielte Lise, die sich in den vergangenen Monaten ihres Gastsemesters in Hannover sozusagen im Kröpcke eingemietet hatte. Adolphe nahm allen die Staubmäntel ab, brachte dann aber keine Karte, sondern fragte: »Das Übliche, Mademoiselle?«

»Mir ein Bier«, sagte Gropius trocken. Er war jetzt, wo die Bauhaus-Verkaufsveranstaltung vorbei war und sein Zug nach Berlin in greifbarer Nähe, wohl schlagartig müde und gab das zu. Ise nickte ein »Mir auch« zu Adolphe hin, wozu Lise ihr einen Seitenblick schickte. Sie wusste, warum ihr nicht nach Sekt zumute war. Heute jährte sich der Tag, an dem Ises Mutter verunfallt war.

Adolphe bonierte die zwei Bier und das Glas Sekt noch im Stehen auf seinem schmalen Block, sprich: auf Lises Hauskonto, während die Damen jetzt auf dem theaterroten Ecksofa Platz nahmen. Gropius wartete, bis sie saßen, und griff sich dann das Sesselchen ihnen gegenüber.

»Jederzeit fluchtbereit«, dachte Ise.

Waren Architekten das von Haus aus?

Eigentlich eher nicht. Sie brauchten doch einen langen Atem und eine Eselsgeduld, wo ihre Werke sich über Monate planten und über Jahre bauten!

Dann Jahrhunderte bestehen bleiben sollten, egal, wie die Ansprüche der Gesellschaft sich veränderten!

Dieser Gropius war sicher kein Geduldesel. Doch in Verbindung mit beharrlichen, wenn nötig auch mal sturen Kollegen brachte er garantiert Schwung in ein Team. Sein Bauatelier wäre die ideale Kaderschmiede für Lise. Und jetzt dämmerte es Ise: Das also war der Grund für ihre Anhimmelei! Er war für sie die beste nur denkbare Karrierepartie!

Und er kam ja trotz seines Alters noch ganz passabel daher, Körperspannung, Aufmerksamkeit, Gewandtheit der Bewegungen, das manchmal aufkommende Blitzen im Blick, all das war, trotz des etwas abgekämpften Gesamteindrucks, ja noch da!

Ise würde dem Sichbeschnuppern der beiden also für ein Weilchen zusehen und sie dann hier sitzen lassen, die Straßenbahn nehmen und zurück nach Herrenhausen fahren. Es war Frühling, ein sehr warmer Frühling dieses Jahr, die Vögel würden noch singen, wenn sie durch den Georgengarten zurück zum Anwesen ihrer Mutter spazierte, dem weiß gekalkten Hof am Ende der Parkanlagen. Er lag einsam in einem weiten Birkenhain nahe des Kräutergartens, in dem einst die Essenzen der königlichen Apotheke gezogen worden waren. Gleich dahinter begannen die Teiche.

Der Hof war seit Jahren verwaist. Denn auch als Ises Mutter ihren Mann und die Kinder in Berlin verlassen und sich hier wieder angesiedelt hatte, war es gewesen, als huschte ein Geist durch die Alleen. Unfähig, sich eine Mahlzeit oder selbst einen Kaffee zu kochen, war sie stets außer Haus gewesen. Mit Vorliebe bei den Teichen. Bis zu ihrem letzten Tag.

Weiterhin jederzeit fluchtbereit rückte Gropius sein Sesselchen jetzt so weit vom Tisch weg, dass er im Reitersitz Platz nehmen konnte, mit kerzengeradem Rücken und perfekt im Lot platzierten Absätzen. Er hatte so den Überblick über das ganze Lokal. Ise bemerkte die sehr eng geschnittenen Hosenbeine mit hohem Aufschlag. Seine Hände legte er ordentlich auf die Tischkante des kleinen Gusseisentischs, die Ellenbogen blieben angelegt – kein vom Reitlehrer unter die Arme geklemmtes Buch wäre bei diesem ehrgeizigen Schüler je auf den Boden gefallen!

Er atmete aus und verschränkte die Finger auf der Marmorplatte. Das waren große Hände! Die traute man ihm gar nicht zu! Hände, die nach Wärme und Geborgenheit aussahen, ganz im Gegensatz zu den Fuchsaugen und dem herben Mund.

»Lise Schmieden«, nahm er die Unterhaltung von vorhin in der Limousine wieder auf, »ich kann nur annehmen, dass Sie etwas mit Heino Schmieden zu tun haben?«

»Nicht direkt, ich bin nur … eine Großnichte.« Lise wurde ein wenig rot, und das sah zu ihrem neuen Pagenschnitt und den scharlachroten Lippen ganz entzückend aus.

»Ich nur ein Großneffe«, schmunzelte Gropius, während er begann, mit dem Blick im Raum nach einer Uhr zu suchen. Als er sie über dem Kaffeesieder gefunden und sich versichert hatte, dass diese erst Viertel vor acht anzeigte – niemals hätte er wohl in Anwesenheit zweier junger Damen auf seine Armbanduhr geschaut –, entspannte er sich erstmals und lehnte seinen Reiterrücken an die Lehne seines Thonetsesselchens.

»Sie müssen wissen, Fräulein …«, er machte zu Ise gewandt eine kleine Pause, um mit »Fräulein« sicherzugehen, »… Frank, nicht wahr?«

Ise nickte.

Er nickte: »Die Frankfurter Linie?«

»Die Berliner Linie.«

»So! Und noch immer in Berlin zu Hause?«

»Zurzeit in München«, sagte Ise, und zum Glück kamen gerade die Getränke, denn sie hatte keinesfalls vor, hier die Konversation an sich zu reißen. Sie würde mit den beiden anstoßen, ein paar gute Schlucke trinken, sie hatte wirklich Durst nach den Stunden in diesem überfüllten Welfenschloss-Saal, und dann wären die beiden sie los.

»Sie müssen also wissen, Fräulein Frank, der Großonkel Ihrer Freundin und mein Großonkel begründeten ein seinerzeit ganz gut gehendes Berliner Architekturbüro, Gropius & Schmieden.« Er prostete Lise zu, dann auch Ise.

»Beide Schüler von Karl Friedrich Schinkel«, warf Lise leise ein.

Das hatte sie Ise noch nie erzählt!

»Andere Zeiten …«, winkte Gropius ab.

War das Bescheidenheit? Oder Wehmut?

»Doch Ihr Herr Onkel – Heinrich, nicht? – ist ja weiter aktiv?«, fragte Gropius jetzt nach.

»Oh ja, und er kann es kaum erwarten, mich im Büro zu haben. Allein … er ist ausschließlich mit Kliniken und Ambulatorien und Erziehungsanstalten befasst, nicht gerade meine Passion.«

»Und die wäre?«

»Theater!«

Theater? Das hatte sie Ise noch ebenso wenig erzählt!

Es entfuhr ihr ein: »Sag bloß …«

»Du weißt das noch nicht, Ise, aber ich habe in Berlin, noch vor meinem Gastsemester hier, einen experimentellen Kurs in Episches Bühnenbild belegt, und das hat mich hingerissen … Deshalb kam ich hierher nach Hannover. Wir sind nur eine Handvoll in Psychische Raumgestaltung … und es lässt uns Dinge über uns selbst entdecken, die man nie geahnt hätte! Dinge, die ich bald in Bühnen, in le-ben-di-ge Bühnen übersetzen will!«

»Wie schön …«, Gropius nahm einen ellenlangen Schluck, »muss das sein, Nachfahren zu haben, die … etwas können.«

»Vorfahren zu haben, die etwas können!« Lise hatte eine tolle Beziehung zu ihrer liberalen Großfamilie, und es war gut, dass sie das auch so sagte.

Ise nahm einen beinahe ebenso ellenlangen Schluck, während die beiden sich über Elternsein und Kindsein zu unterhalten begannen. Und dass man in das eine wie das andere hineinwuchs.

Natürlich, das ging Gropius an, er war ja schon Vater! Während seiner Ehe mit Alma Mahler, die ein öffentliches Ereignis gewesen war, die Gazetten hatten regelmäßig berichtet, hatte sie zwei Kinder geboren. Doch vielleicht war nur das erste von Gropius selbst gewesen, ein Mädchen, das ihm wohl sehr ähnelte. Die Gazetten hatten Fotos der glücklichen Mutter mit ihrer Tochter abgedruckt, die blöd dahergeredet hatte, wie stolz sie sei, endlich ein arisches Kind zu haben, nach ihrer, wie sie gerne sagte, »Judenbrut« mit Gustav Mahler. Das zweite Kind, einen Buben, hatten die Gazetten nicht mehr Gropius, sondern schon Almas neuem Liebhaber Franz Werfel zugeordnet. Das arme Kind, mit Wasserkopf geboren, hatte kein Jahr überlebt. Ohne Ansehen der Umstände hatte Gropius aber beiden Kindern die Namen seiner Vorfahren gegeben. Manon wie seine Mutter. Martin wie sein berühmter Großonkel.

Es musste ihm viel an Familie liegen.

Viel an Familie liegen … Ja, auch Ise würde viel an Familie liegen. Wenn sie noch eine Familie hätte.

Plötzlich schossen ihr die Tränen in die Augen. Ihr Atem stockte. Sie spürte den Puls im Hals, als ob sie jemand von hinten würgte.

Was war denn bloß los? Es war ein richtiger Anfall, sie musste den Blick abwenden und sich im Lokal umschauen, um sich abzulenken. Sie versuchte, gleichmäßig ein- und auszuatmen. Adolphe sah aufmerksam vom Tresen zu ihr herüber. Sie nickte unmerklich zurück.

Sie musste sich fangen! Das war ja lächerlich, sie war das ganze letzte Jahr über, ja die ganzen letzten Jahre über nicht so überfallsartig sentimental geworden wie hier in Begleitung dieses Herrn Gropius!

Ihr Vater war am Herzen erkrankt, als die Mutter endgültig das Haus verlassen hatte, im Sommer vor Beginn des Kriegs. Die Familie hatte, den Dienstorten des Vaters folgend, zunächst in Köln, dann in Hannover gelebt, woher auch Ises Mutter stammte. Mit der Berufung des Vaters ans Berliner Ministerium waren sie dann alle nach Berlin gezogen, denn in Grunewald stand die Villa der Frank-Familie, in der Tante Hannah, die Schwester von Ises Vater, wohnte. Der Zeitpunkt hatte sich gut gefügt, im selben Jahr sollte Ise, nach einem Auslandsschuljahr in England, ins Lyzeum kommen, und so fiel ihr der Umzug von Hannover leicht. Die Mutter, seit jenem Jahr ständig, doch ohne eigentlichen Grund, zwischen Hannover und Berlin unterwegs, hatte wohl nur so lange bei Ise und ihren drei kleineren Schwestern die Stellung gehalten, bis Ise ihr Abitur bestanden hatte und die Schwestern in dasselbe Lyzeum aufgenommen worden waren.

Dann war sie weg gewesen. Für immer.

Zu Tante Hannah, die ihrerseits nie geheiratet und sich neben ihrer Turnierreiterei seit jeher um die Töchter ihres Bruders gekümmert hatte, hatte sie gesagt, die Kinder seien »alt genug jetzt«.

Die Frank-Villa in Berlin sah Ises Mutter nach ihrer endgültigen Abreise nach Hannover nie mehr. Ihre Kinder ebenso wenig. Bis zu dem Tag im Frühjahr vor zwei Jahren, als Ise in München angekommen war. Da hatte sie sie schon erwartet.

Sie hatte in der Bar der Kammerspiele gesessen, einem wie ein Wiener Kaffeehaus eingerichteten Lokal mit Eingang von der Maximilianstraße, in dem sich die Schauspieltruppe von Intendant Falckenberg traf. Dort hatte sie allabendlich gewartet, bis Ises Buchhandlung geschlossen hatte, sie die zwei Straßen hergegangen war und sich zu ihr setzen konnte. Dann hatte sie erzählt.

Ise hatte über zahllose Abende, während die Schauspieler und Regieleute kamen und gingen, einem ganzen Leben zugehört, das so nie geschehen war. Sie sei dem Theater verfallen, hatte die Mutter erzählt, schon als junges Mädchen. Sprache und Licht im Raum, Raum als Welt in der Welt, das sei ihre Passion gewesen. Sie habe die Stuttgarter Schauspielschule besuchen wollen. Oder die Berliner. Oder die Münchner. Oder die Wiener.

Sprechtheater! Die Macht des Wortes!

Sie hätte ihr Talent gern durch beste Ausbildung fundiert, ihre Eltern, obwohl nur die Stadtapotheker von Hannover, einer Provinzstadt, doch einer Hofstadt immerhin, hätten sie dabei voll unterstützt. Sie sei das einzige Kind gewesen, sie habe allen Rückenwind gehabt, sie hätte sicher reüssiert.

»Warum dann einen Mann heiraten? Und vier Kinder in die Welt setzen? Warum dieser Aufwand um ein vermeintlich heiles Familienleben?«, hatte Ise irgendwann entnervt gefragt, als ihr klar geworden war, dass diese Frau, die ihre Mutter war, hier Märchen erzählte, augenscheinlich in einer Traumwelt gelebt hatte, die von Kindermädchen und Waschfrauen und Hausdienern und Kutschern ermöglicht worden war, Gesinde, das ihr Vater unterhalten und Tante Hannah angeleitet hatte, um den Kindern ein standesgemäßes, ein wirkliches Leben zu ermöglichen.

Denn die Mutter war entkommen, wann immer sie gekonnt hatte. Sie war schwimmen gegangen im Halensee. Wenn sie zurückkam, hatte sie vom Wasser erzählt, von seinem Lichtspiel, seiner samtenen Wärme, seiner trüben Tiefe …

Ise trank einen letzten Schluck und stellte das Glas ab, es war Zeit für sie zu gehen.

»Herr Gropius, ich muss Sie jetzt leider verlassen. Danke, Lise, für die Einladung.« Sie sah Gropius bewusst nicht an.

Mit einem »Morgen also zum Tee« zu Lise stand sie aus ihrer Nische auf, und Adolphe kam umgehend mit dem Mantel.

»Was? Sie gehen? Und ich weiß noch nicht einmal, was Sie so können, Fräulein Frank, wenn schon nicht … Architektur?«

Gropius war aufgesprungen und hielt sie am Handgelenk fest. Er tat ihr fast weh. Diese Hände hielten fest, was sie interessierte.

»Ise kann … lesen und schreiben«, sagte Lise seelenruhig. Sie hatte das »schreiben« noch nicht fertig ausgesprochen, da merkte sie, wie komisch es klang, was sie da sagte. Alle drei sahen sie sich wie auf Befehl über den Kaffeehaustisch an und mussten lachen.

Ise konnte lachen! So plötzlich, wie sie gerade einem Weinkrampf nahe gewesen war!

Adolphe sah sie prüfend von der Seite an und lachte mit.

»Vielleicht … nein besser: hoffentlich!«, konterte sie und ließ sich in den Mantel helfen. »Doch jetzt wünsche ich den Architekten einen guten Abend! Ich muss zu meiner Mutter.«

Warum log sie hier? Ihre Mutter war tot.

Nein, sie log ja gar nicht. Sie musste tatsächlich zu ihrer Mutter. Sie musste tatsächlich in dieses stille Haus, das die Welfen einst dem jeweiligen Stadtapotheker zugestanden hatten und das Ises Großvater im richtigen Moment, nach der Übernahme durch die kaiserlich-preußische Verwaltung, erstanden hatte. Der Mutter war es zum Fluchtort aus ihrem irrealen Familienleben innerhalb ihres noch irrealeren Schauspielerinnenlebens geworden.

Für Ise war es eine Boje, ein Wendepunkt. Es würde ihr helfen, dieses erste Trauerjahr um ihre Mutter abzuschließen. Und vielleicht auch, zwischen ihren beiden möglichen Leben in München zu entscheiden: einem Leben allein mit Hermann oder einem Leben allein ohne Hermann.

Morgen, vor ihrer Rückfahrt, würde sie den Tag an den Teichen verbringen, am Wasser, das die Mutter so geliebt hatte, ob in Berlin oder hier in den Gärten ihrer Kindheit. Wasser, das trüb war und sanft, das auf dem Körper Spuren hinterließ beim Schwimmen, dem man entstieg wie eingehüllt. Im Trüben hatte die Mutter ein Leben lang gelebt. Im Trüben war sie auch gestorben. Man hatte sie am Ufer der Teiche gefunden, heute genau vor einem Jahr. Es war Ise immer noch ein Rätsel, wie das hatte geschehen können.

Kapitel 4

IN DEN HERRENHÄUSER GÄRTEN