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Es ist Winter in Ravenhagen. Die Bewohner der kleinen Stadt sind schon früh unterwegs, alles wuselt aufgeregt durch die Gassen. Ein Tag wie jeder andere, denkt Jonas Klaasen beim Blick aus dem Fenster. Jonas ist zu schüchtern, zu melancholisch, um in die vorweihnachtliche Begeisterung der anderen einzustimmen. Als er aber vor die Tür tritt, um in die Schule zu gehen, ändert sich alles. Er findet einen Kasten aus Ebenholz, der sich Ebene für Ebene aufklappen lässt: ein Adventskalender. Doch seltsamerweise lassen sich seine Türchen nicht öffnen. Jonas entdeckt, dass die darauf abgebildeten Zahlen und Zeichen Hinweise enthalten – auf Bewohner Ravenhagens, mit deren Hilfe wahre Schätze zum Vorschein kommen. Der magische Adventskalender schickt Jonas auf eine abenteuerliche Reise, an deren Ende er nicht nur viele neue Freunde gewonnen, sondern auch das Geheimnis seiner Familie entschlüsselt haben wird.

 

›Der magische Adventskalender‹ ist eine Weihnachtsgeschichte, wie nur Jan Brandt sie zu erzählen vermag: mit einer zauberhaften Verbindung zwischen dem Leichten und dem Abgründigen, Fantasie und Wirklichkeit. Daniel Fallers wunderbare Illustrationen ergänzen die Geschichte auf kongeniale Weise.

 
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Jan Brandt, geboren 1974 in Leer (Ostfriesland). Sein Roman ›Gegen die Welt‹ (DuMont 2011) stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und wurde mit dem Nicolas-Born-Debütpreis ausgezeichnet. Bei DuMont erschienen außerdem ›Tod in Turin‹ (2015) und ›Stadt ohne Engel‹ (2016).

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Daniel Faller, geboren 1973 in Stuttgart, ist diplomierter Illustrator. Ansässig in der Elbmetropole Hamburg arbeitet er seit 2004 in einer Ateliergemeinschaft mitten in der Sternschanze. www.danielfaller.com

Jan Brandt

Der magische Advents­kalender

Eine Kindergeschichte in Zeiten der Kälte

Illustriert von Daniel Faller

 

1Jonas macht eine Entdeckung

Über den Dächern von Ravenhagen sprühten die ersten Sonnenstrahlen und tauchten die Stadt in ein weiches, milchiges Licht. Aus den Schornsteinen stieg Rauch in den Morgenhimmel. Die große Glocke des Kirchturms, des Totentäuferturms, schlug zweimal kurz an wie jede Viertelstunde, und ihr Klang hallte durch die engen Gassen bis zum Haus der Klaasens. Jonas achtete nicht auf die Zeit. Er saß in der Küche, vor ihm ein Stutenkerl und ein Glas Milch, neben ihm, in Reichweite, der Teller und das Glas seiner Schwester Sonja. Sie war noch im leeren Zimmer, er hörte ihre Schritte über sich, das Knarzen der Dielen. Jonas blickte aus dem Fenster. Gegenüber zog Herr Brombacher, der Uhrmacher, die Rollläden seines Ladens hoch. Kinder liefen, dick eingepackt, die Schulranzen geschultert, an ihm vorbei. Maik Mirscheidt spuckte im Gehen alle paar Meter vor sich aufs Pflaster. Spange, ein Punkmädchen, blieb vor einem Plakat stehen, auf dem »Die Schiefen Zähne spielen Schiefe Musik« stand. Zwei Lehrer, Herr Semrock und Herr Siemsglüß, beide in dicke Mäntel gehüllt, wiesen Spange auf die Zeit hin und forderten sie auf, weiterzugehen, bevor sie selbst weitergingen und ihr Gespräch fortsetzten. Alle strebten nur einem Ziel zu: der Schule. Jonas würde ihnen bald folgen müssen, wenn er nicht zu spät kommen wollte. Er musste an das Transparent denken, das vorm Rathaus hing: »Ravenhagen – Stadt der Frühaufsteher«. Damit hatte Bürgermeister Burma die Wahl gewonnen, zum wiederholten Mal.

Nachdem Jonas seine Milch getrunken und den Stutenkerl gegessen hatte, sah er sich im Raum um, horchte auf die Geräusche im Haus, der Vater unten in der Werkstatt, die Schwester auf der Treppe, und nahm sich Sonjas Portionen. Wie aus weiter Ferne hörte er den Vater drohend seinen Namen rufen. »Jonas! Wo steckst du denn? Mach dich endlich fertig.« Anstatt ihm zu antworten, wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund.

Die Tür flog auf, Sonja stürmte herein und rief: »Er ist hier, Papa!« Als hätten sie Verstecken gespielt; als hätten sie ihn seit Stunden gesucht und endlich gefunden.

Sonja trat einen Schritt auf ihn zu, zum Tisch hin. »Hast du etwa«, sagte sie mit zitternder Stimme, links und rechts an ihm vorbeischauend, »meinen Stutenkerl genommen? Und meine Milch auch?«

Jonas nickte, weil der Vater ihnen verboten hatte, mit vollem Mund zu sprechen.

»Papa!«, rief Sonja, lauter und schriller als vorhin.

Und der Vater rief durch den Flur: »Ich komm ja schon.«

Aber bevor er hereinkam, war Sonja schon bei ihm. »Er hat meinen Stutenkerl genommen. Und meine Milch.« Jonas hörte ihr Weinen bis in die Küche hinein, ein helles Schluchzen, und wie der Vater seufzte und »Schon wieder« sagte, einfach nur »Schon wieder«. Damit war nicht nur die Milch gemeint oder der Stutenkerl, den gab es nur ein Mal im Jahr, sondern sein Verhalten: dass er beim Martinssingen die Süßigkeiten für sich behielt, dass er Mädchen auf dem Schulhof an den Haaren zog und Jungs Pferdeküsse gab, dass er im Unterricht Papierflieger faltete, Gummibänder durch die Gegend schoss, bei jeder Gelegenheit dazwischenrief und im Klassenbuch unter der Rubrik Betragen neben seinem Namen Blitze standen, Dutzende Blitze – und keine einzige Sonne, kein einziger Stern.

Während der Vater mit ihm schimpfte und Drohungen ausstieß, die er doch nie wahrmachte, wandte sich Jonas wieder dem Geschehen auf der Straße zu. In seinen Ohren dröhnten die Worte des Vaters, aber sie drangen nicht zu ihm durch, etwas anderes zog ihn in den Bann: Die alte Frau, deren Namen Jonas nicht kannte – manche nannten sie »die Eisnerin«, manche »die Eisige« – und von der er nicht wusste, woher sie kam, huschte am Haus vorbei. Was er wusste, war, dass sie neu war in der Stadt und im vierten Bezirk wohnte, weit weg von allen anderen. In der Schule hieß es, jemand habe sie hierhergeholt, um Ravenhagen von einem großen Übel zu befreien. Aber in der Goldenen Lerche hatte Jonas jemanden sagen hören, dass sie selbst das große Übel sei. Jeden Tag ging sie, auf einen Stock gestützt, von Tür zu Tür. Die Kapuze ihres langen schwarzen Mantels hatte sie dabei stets so tief ins Gesicht gezogen, dass wenig mehr als ihre Nase zu sehen war. Und hinter ihr trottete, Jonas betrachtete es jedes Mal mit einem Schaudern, ein Nackthund her. Der Hund war nicht vollkommen nackt, das machte ihn noch schauderhafter: Von seinem Körper standen vereinzelt weiße Haare ab, ein paar auf dem Kopf, ein paar an den Pfoten, ein paar an der Rute, fein und spitz wie Stacheln. Jonas mochte keine Hunde. Einmal hatte ihm ein Schäferhund in die Wange gebissen. Er konnte sich nicht erinnern, wann und wo das geschehen war. Der Vater sagte, es sei auf dem Jahrmarkt gewesen, vor dem Hundetheater. Seitdem hatte er eine Narbe im Gesicht, ein Wundmal.

Kaum waren die alte Frau und der Hund um die eine Ecke verschwunden, kamen von der anderen die Ohlenforsts heran. Walter und Ole Ohlenforst, Vater und Sohn, marschierten im Gleichschritt, die Äxte und Sägen geschultert, Richtung Wald, um Tannen zu schlagen, die ersten Tannen des Jahres. Im Haus gegenüber zog Herr Brombacher unten die Uhren auf. Und oben, ein Stockwerk darüber, ließ Frau Rottenkolber hinter den Fenstern die Gardine zurückfallen. Sie war jung und lebte allein, weshalb manche in Ravenhagen, die Alten vor allem, sie mit »Fräulein Rottenkolber« ansprachen. Und weil Frau Rottenkolber Tag und Nacht im Erker stand und auf die Straße blickte, nannten Jonas und Sonja sie »Das Auge Gottes«: »Das Auge Gottes sieht alles!« – »Das Auge Gottes weiß alles!« – »Das Auge Gottes tut kein Auge zu!«

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»Jonas!« Der Vater rüttelte an seiner Schulter. »Hast du mir überhaupt zugehört? Hast du auch nur ein Wort von dem verstanden, was ich zu dir gesagt habe?« Nein, Jonas hatte nichts gehört und nichts verstanden, außer die eigenen Worte in seinem Kopf. Er erhob sich vom Tisch, und als er über den Flur am leeren Zimmer vorbei ins Bad ging, um sich die Zähne zu putzen, sagte der Vater: »Bis Weihnachten gibt’s nichts Süßes mehr!«

Jonas schloss die Badezimmertür hinter sich und rief von drinnen: »Du sagst doch immer: ›Stuten am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen.‹«

»Ja«, sagte der Vater aufgebracht. »Und ich habe dir auch gesagt: ›Glück verdoppelt sich, wenn man es teilt.‹«

Als Jonas fünf Minuten später wieder herauskam, seine Sachen aus seinem Zimmer holte und mit Schulranzen und Turnbeutel in den Flur trat, hatte sich der Vater wieder beruhigt. »Jeden Tag das gleiche Theater«, sagte er nur und reichte ihm Schuhe und Anorak, Schal und Mütze. »Wann hört das endlich auf?«

Sonja stand fertig angezogen an der Haustür, hielt eine Marzipankugel in Händen – eine von Kleineidams Königskugeln – und blickte ihn triumphierend an.

Zusammen traten sie auf die Straße.

Kaum hatte der Vater die Haustür hinter ihnen geschlossen, rannte Sonja los. Jonas wollte schon hinter ihr her, da sah er vor sich einen Holzkasten im Rinnstein liegen. Er war dem Nähkästchen, das sie im Küchenspind hatten, recht ähnlich, nur höher und mit mehr Fächern, mehr Ebenen. Und das schwarze Holz glänzte wie die Oberfläche eines Sees, der Paselsee bei Nacht. Als er den Kasten aufhob, wunderte er sich, wie leicht er war. Erst dachte er, das Ding sei leer, aber bei der kleinsten Bewegung klackerte es innen drin. Und als er die oberste Ebene aufklappte, entdeckte er Griffe und golden schimmernde Intarsien, Türchen mit Zahlen und Bildern. Ein Adventskalender. Wer den wohl verloren haben mochte?

Jonas blickte sich um, Herr Brombacher winkte ihm durch das Schaufenster von der anderen Straßenseite aus zu. Er überlegte, ob er den Kasten bei ihm abgeben und ihn fragen sollte, was es damit auf sich habe. In seinem Laden gab es Spieluhren in gleichermaßen reich verzierten Kästen. Sobald man die Deckel öffnete, tanzten in einigen Ballerinas, in anderen kreisten Karussells, flatterten Vögel mit ihren Flügeln. Herr Brombacher verwahrte sie hinter Glas und präsentierte sie nur auf Nachfrage. Jedes Mal, wenn Jonas die Hand aber danach ausgestreckt hatte, hatte Herr Brombacher gesagt: »Das ist nichts für Kinder«, die Kästen zugeklappt und in die Vitrinen zurückgestellt. Und Jonas fürchtete, dass er mit diesem Kasten genauso verfahren würde, dass er ihn nehmen und wegschließen würde, für alle sichtbar, aber für niemanden zu erreichen.

Also bog Jonas um die Ecke, kauerte sich in den Mauervorsprung und versuchte, das erste Türchen zu öffnen, auf dem ein Haus mit sieben Giebeln abgebildet war – das Haus der Holzfäller, jeder in Ravenhagen kannte es. Doch sosehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht. Weder Ziehen noch Drücken bewirkte, dass das Holz auch nur einen Millimeter nachgab. Er zog sein Schnitzmesser hervor und schob die Spitze in den winzigen Türspalt. Nichts. Dann versuchte er es bei dem zweiten Türchen. Nichts. Dann bei dem dritten, vierten und fünften. Nichts. Nichts. Nichts.

Die Kirchenglocke schlug zur vollen Stunde. Mit gesenktem Kopf, den Kalender unter die Achsel geklemmt, machte er sich auf den Weg zur Schule. Da hörte er aus dem nahen Wald die Ohlenforsts, wie sie mit ihren Äxten auf die Stämme der Bäume einschlugen. Er hoffte, dass sie ihm helfen könnten, und ging in den Wald hinein. Die Luft war klar und mild. Der Boden, aufgeweicht durch den Regen der vergangenen Tage, verströmte einen würzigen Geruch, nach Erde, Harz und Holz. Je tiefer er in den Wald vordrang, desto lauter wurden die Schläge. Die Holzfäller standen auf einer Lichtung. Während Walter Ohlenforst die großen Tannen bearbeitete, hatte sich Ole die kleinen vorgenommen. Jonas kannte ihn aus der Tischlerwerkstatt seines Vaters, er war bei Klaasen in die Lehre gegangen und hatte Jonas oft aus irgendeiner Truhe oder einem Schrank gezogen, über und über mit Sägespänen bedeckt. Ole hatte ihm gezeigt, wie man Hobel und Beitel verwendete und aus welchen Hölzern man am leichtesten die schönsten Figuren schnitzte. Über seiner Lippe hatte er eine Narbe, ein schmaler Strich, der bis zur Nasenspitze reichte. Jonas hatte bei der ersten Begegnung angenommen, er habe sich beim Tischlern verletzt wie andere Lehrlinge, die an der Kreissäge Finger verloren hatten. Aber dann hatte Ole ihm erklärt, dass es eine Fehlbildung sei, etwas, was er seit seiner Geburt habe, und dass die anderen Jungs ihn deswegen »Lippe« nannten. Und weil auch Jonas oft genug gehänselt wurde, vor allem von Maik Mirscheidt, vor allem seiner roten Haare, seiner Sommersprossen und seiner hellen Haut wegen – und wegen der Narbe in seinem Gesicht –, fühlte er sich Ole verbunden, obwohl fast zehn Jahre zwischen ihnen lagen.

»Hallo Jonas«, sagte Ole und hielt im Schlagen inne. »Was machst du denn hier? Müsstest du nicht in der Schule sein?«

Jonas ging nicht darauf ein. Stattdessen reichte er ihm den Kalender, erklärte, dass er das Türchen nicht aufkriege, und zeigte auf das Bild. »Euer Haus.«

»Ja, tatsächlich, unser Haus.« Ole drehte den Kasten hin und her, ins Licht hinein und aus dem Licht hinaus, und betrachtete die Details, die Fenster, die Risse im Putz, die Dachschindeln, den Rauch über den sieben Schornsteinen. »Wo hast du den denn her?«

Jonas zuckte mit den Schultern. »Gefunden.«

»Wo?«

»Vorm Haus.«

»Was gibt’s denn?« Walter Ohlenforst strich sich über den Oberlippenbart und trat zu den beiden hin. »Ein Nähkasten?«

»Nee.« Jonas schüttelte den Kopf. »Ein Adventskalender.«

»Jonas kriegt das Türchen nicht auf«, sagte Ole. »Es klemmt irgendwie.« Aber als er mit den Fingern über den Kasten strich, öffnete es sich wie von selbst.

»Das gibt’s doch nicht«, sagte Walter.

Niemand von ihnen hatte je zuvor etwas Derartiges gesehen. Staunend und ungläubig starrten sie eine volle Minute lang schweigend auf das Türchen, bis sie wieder einen klaren Gedanken fassen konnten. Dahinter lag ein Stück Schokolade mit einem Buchstaben drauf. Jonas hatte gerade genug Zeit, das M zu erkennen, bevor Ole »Das ist aber nett« sagte und das Stück in drei Teile brach. Das erste gab er seinem Vater. Das zweite steckte er sich selbst in den Mund. Das dritte überreichte er Jonas – zusammen mit dem Kalender. »Danke«, sagte er kauend und hieb von Neuem auf eine der Tannen ein.

Die Kirchturmglocke schlug zweimal an. Viertel nach acht. So spät war Jonas noch nie in der Schule erschienen.

Das würde Ärger geben.

2Besuch beim Schlachter

Als er am nächsten Tag erwachte und das zweite Türchen, auf dem ein Kuhkopf abgebildet war, heute ebenso wenig öffnen konnte wie gestern, wusste er gleich, wen er wohl oder übel um Hilfe bitten musste: Schlachter Herrenschräge. Wohl, weil Hans Herrenschräge ein Freund des Vaters war, er kam oft zu Besuch. Übel, weil dessen Hände imstande waren, alles, was sie anfassten, zu zerquetschen. Der Gedanke lähmte sein Herz. Aber es ging nicht anders. Das Bild war eindeutig. Es führte kein Weg an ihm vorbei. Er musste bloß warten, bis die Schule aus war.

Den ganzen Tag über dachte Jonas an den Kalender. Er fragte sich, wer ihn verloren hatte, was es mit dem M auf sich hatte und welche Sachen hinter den anderen Türchen verborgen sein mochten. Er konnte an nichts anderes mehr denken. Herr Semrock ließ ihn, weil er in den vergangenen Monaten zu oft zu spät zum Sport gekommen war, in der Turnhalle Strafrunden laufen, während seine Mitschüler am Mittelkreis Völkerball spielten. In der großen Pause blieb er abseits, sah Sonja von Weitem seilspringen, mied Maik Mirscheidt, was, da der hinter der Turnhalle heimlich rauchte, nicht allzu schwierig war, beobachtete Spange, das Punkmädchen mit den bunten Haaren, aß das Leberwurstbrot, das der Vater ihm geschmiert hatte, und ließ den Ranzen, in dem sich der Kalender befand, nicht aus den Augen. Geistesabwesend saß er neben den anderen in der Klasse. Jede Frage, die Frau Krawinkel an ihn richtete, musste zweimal gestellt werden, bevor er sie beantwortete. »Wie viel ist sechs mal vier?«, »Wie viel ist sechs mal vier?«, »Was sind natürliche Zahlen?«, »Was sind natürliche Zahlen?«, »Wie lautet der Quotient von acht und vier?«, »Wie lautet der Quotient von acht und vier?«

Auch als sie ihn nach der Stunde fragte, was denn heute mit ihm los sei, dauerte es eine Weile, bis er »Ich hab verschlafen« sagte.

»Verschlafen? Vertrödelt? Oder verträumt? Hast du wieder Löcher in die Luft gestarrt und Dinge gesehen, die es gar nicht gibt?«

Jonas schüttelte den Kopf.

»Anstatt in irgendwelchen Fantasiewelten zu leben, solltest du dich etwas mehr auf die Wirklichkeit konzentrieren, auf das Hier und Jetzt. Jenseits davon ist nichts, außer vielleicht in Büchern. Aber das sind Erfindungen, Einbildungen. Es lohnt nicht, endlos darüber nachzudenken. Das ist bloß Zeitverschwendung.«

»Aber was ist …«, hob Jonas zaghaft an, brach jedoch gleich wieder ab, weil der Gedanke, der in ihm Gestalt angenommen hatte, zu unvorstellbar war, um ihn auszusprechen.

»Aber was ist was?«, fragte Frau Krawinkel. Auch diese Frage musste sie ihm zweimal stellen, bevor sie eine Antwort erhielt. »Aber was ist was, Jonas?«

»Aber was ist, wenn wir selbst in einer Fantasiewelt leben?«

»Das ist genau das, was ich meine. Manchmal hast du nichts als Unsinn im Kopf. Halte dich an die Fakten. An das, was ist. An deine fünf Sinne. Was sind die fünf Sinne?«

»Hören, sehen, riechen, schmecken, fühlen.«

Frau Krawinkel nickte. »Halte dich an die, dann kann nichts passieren.«

Frau Krawinkel war seine Klassenlehrerin, schon etwas älter, aber immer noch ehrgeizig und voller Zuversicht, das Beste aus den ihr anempfohlenen Kindern herauszuholen. Sie kam aus Großgottum, war aber vor Jahren nach Ravenhagen gezogen und unterrichtete hier Mathe und Deutsch – zwei Fächer, die nach Jonas’ Meinung nicht zusammenpassten. Zahlen und Buchstaben waren für ihn vollkommen unterschiedliche Zeichensysteme.

Auf dem Nachhauseweg fragte Sonja ihn, warum er seine Bücher in der Hand halte, anstatt sie im Schulranzen auf dem Rücken zu tragen.

»Zum Lesen«, sagte Jonas. »Im Gehen kann ich mir die Sachen besser merken.«

»Aber du liest ja gar nicht.«

»Aber ich könnte, wenn ich wollte. Und dann hab ich sie gleich vor mir.«

»Wo willst du denn hin?«, fragte sie, als Jonas rechts abbog anstatt, wie sonst immer, links. »Hier geht’s doch nach Hause.«

»Zum Schlachter«, sagte Jonas. »Papa hat gesagt, ich soll noch Aufschnitt besorgen.«

»Ich komm mit.«

»Das geht nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil du Papa sagen musst, dass ich zu spät zum Essen komme, sonst fragt er sich, wo wir bleiben, und macht sich Sorgen.«

»Nie nimmst du mich irgendwohin mit«, sagte Sonja und stapfte, die Unterlippe vorgeschoben, nach Hause.

Jonas wartete, bis sie um die Ecke verschwunden war, dann folgte er ihr. Er nahm nicht den direkten Weg, sondern ging an der Werkstatt des Vaters vorbei zur Schlachterei. Er wollte sehen, ob seine Vermutung, dass man ihn auf Schritt und Tritt beobachte, richtig war. Und tatsächlich: Frau Rottenkolber schaute ihm durch die Gardine nach, Herr Brombacher winkte ihm durchs Schaufenster zu, die alte Frau und ihr Nackthund kreuzten seinen Weg. Alle vier, da war er sich sicher, hatten auf die ein oder andere Weise etwas mit dem Kalender zu tun, er musste nur noch herausfinden, was und wie und warum.

Durch die offenen Oberlichter hörte er Schlachter Herrenschräge ein Lied pfeifen, immerzu pfiff er irgendein Lied, Der Kuckuck und der Esel, Fuchs, du hast die Gans gestohlen oder Ich wollt, ich wär ein Huhn. Herrenschräge hatte eine tiefe Stimme, schütteres Haar und einen mächtigen Bauch, der sich über seine Hose wölbte, und er war groß, größer als alle, die Jonas kannte. Jeder musste zu ihm aufschauen, nicht nur die Kinder. Früher, als Jonas noch kleiner gewesen war, hatte er, wenn er dicht vor ihm gestanden hatte, von unten nichts als seinen Bauch gesehen. Dann hatte Herrenschräge ihn hochgehoben und auf seine Schultern gesetzt, und so waren sie gemeinsam pfeifend durch die Stadt spaziert. Aber das war lange her, eine Ewigkeit, ein Jahr.

Jonas betrat den kleinen Laden, der zur Schlachterei gehörte. Drinnen war es so kalt wie in einer Kühlkammer. Jonas fröstelte. Er legte die Bücher und Hefte auf die Ablage und rieb sich mit den Händen über die Arme. Über dem Tresen hing auch ein Adventskalender, aber in dem steckte nichts Süßes, sondern Räucherfleisch. Und an der gegenüberliegenden Wand hing ein altes Plakat, das ihm die Kälte in die Knochen trieb: Darauf waren ein Riese abgebildet, der Große Hans – »der größte Mann der Welt« –, und zwei Kellner, die ihm, der eine auf des anderen Schulter stehend, ein Glas Champagner reichten. Vor einem Jahr hatte Jonas zum ersten Mal vor dem Plakat gestanden. Und Herrenschräge hatte ihm die Geschichte von den neun bösen Riesen erzählt, vom Fleischfetzenfresser, Knochenknacker, Menschenpresser, Kinderkauer, Hackepeter, Klumpenwürger, Mädchenmanscher, Blutschlucker und Metzgerhetzer. Mit lauter Stimme hatte er »Riesen sind alle Kanniballer« gesagt, »richtige Totmacher«1, und dass Jonas froh und dankbar sein müsse, nur einen einfachen Hühnerhauer, Schweineschneider, Kuhklopfer wie ihn vor sich zu haben. Seitdem spukten Jonas die neun bösen Riesen im Kopf herum. Mit der Zeit waren sie mit Herrenschräge, dem einzigen Riesen, den er kannte, zu einem Über-Riesen verschmolzen, einem Wesen, das alles überragte, jeder Schritt ein Erdbeben, jeder Atemzug ein Sturm, jeder Furz ein Donnergrollen.

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Jonas wischte diese Gedanken beiseite und beschloss, sich an die Fakten zu halten, seinen Sinnen zu vertrauen. Er setzte seinen Ranzen ab und holte den Adventskalender hervor. Dreimal tippte er auf die Tresenklingel. Auf das Läuten hin kam Herrenschräge in den Verkaufsraum, strich seinen blutbespritzten Kittel zurecht, stützte die mächtigen Hände auf die Marmorplatte vor sich und sagte: »Na, junger Mann, was kann ich für dich tun?«

Jonas konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal mit ihm gesprochen hatte. In der Stadt ging er ihm aus dem Weg, alle Kinder taten das. Kam er zu Besuch, blieb er auf seinem Zimmer. Und wenn der Vater Jonas mit einem Auftrag losschickte, wenn er also Besorgungen machte, reichte er Herrenschräge den Einkaufszettel und das abgezählte Geld über den Tresen hinweg und nahm schweigend, und ohne ihn anzusehen, die Waren entgegen. Jetzt aber musste er den Kopf heben und mit ihm sprechen und ihn bitten, das Türchen des Tages zu öffnen.

»Ja, also«, er kratzte sich am Hinterkopf, »ich hab den hier gestern vorm Haus gefunden, und ich krieg das Türchen mit dem Kuhkopf nicht auf, und da dachte ich …«

»Das Türchen da?«, unterbrach ihn Herrenschräge und hatte schon die Hand danach ausgestreckt. Kaum hatte er es aber berührt, sprang es auch schon auf, und zum Vorschein kam ein Stück Schokolade – diesmal mit einer Eins drauf. »Merkwürdig«, sagte Herrenschräge, bevor er sich das Stück der Länge nach in den Mund stopfte, »heute haben wir doch den Zweiten.«

3Die Chorprobe

Am nächsten Morgen hatte Jonas noch immer den Geschmack von Mortadella im Mund. Schlachter Herrenschräge hatte ihm eine aufgerollte Scheibe mit der Gabel über den Tresen gereicht, »Nichts für ungut« gesagt und war wieder nach nebenan gegangen. Jonas hatte noch eine Weile allein im Laden gestanden und geistesabwesend die Auslage betrachtet – verwundert über das Erlebnis. Dann war er mit dem Kalender auf die Straße getreten und am Fluss entlang nach Hause spaziert. »Nichts für ungut.« Der Satz war noch lange in ihm nachgeklungen. Und als er ihm jetzt wieder einfiel, kam es ihm so vor, als hätte Herrenschräge damit nicht etwa um Verzeihung gebeten, weil er die Schokolade gegessen hatte, sondern vielmehr einen Tauschhandel besiegelt, als hätte er ihn nicht mit leerem Magen ziehen lassen wollen.

Der Vater rief zum Frühstück. Sonja polterte die Treppe herunter. Jonas zog den Kalender unterm Bett hervor. Auf dem dritten Türchen waren zwei Hände abgebildet, Daumen und Zeigefinger aufeinandergepresst – eine typische Geste seines Chorleiters Dr. Ingenschmidt. Das konnte doch kein Zufall sein. Wer immer den Kalender vor dem Haus abgelegt hatte, wusste, dass Samstag Chortag war. Wie sonst war das Bild zu erklären?

Jeden Samstag ging Jonas zur Schule, um mit anderen Schülern zu singen. Besonders zur Weihnachtszeit hatte der Schulchor in der Stadt einen Auftritt nach dem anderen, auf dem Weihnachtsmarkt, in der Kirche, an Nikolaus und den Adventssonntagen. Seit Monaten bereiteten sie sich auf diese Feste vor. Anfangs hatte Jonas voller Begeisterung mitgemacht. Dann hatte er die Lust verloren, weil er das Gefühl hatte, dass ihn der Chorleiter prüfte. In jeder Stunde ließ Dr. Ingenschmidt Jonas nämlich vortreten, spielte auf dem Klavier einen Ton, c1 oder f2, und bat ihn, den nachzusingen. Er machte das mit allen Kindern, er wollte, dass sie den richtigen Ton trafen und ihre Register voll ausschöpften. Aber Jonas kam es so vor, als ob er unter besonderer Beobachtung stünde, wenn Dr. Ingenschmidt zu ihm sagte: »Gerade stehen! Brust raus! Achtung: Das ist ein eingestrichenes F. Und!« Und dann haute er in die Tasten und wackelte mit dem Kopf, dass ihm seine grauen Locken um die Ohren tanzten. Jonas sang aus vollem Hals. Er gab sich alle Mühe. Aber danach rümpfte Dr. Ingenschmidt meist seine große Nase, hob die Hände und sagte: »Ja, etwas höher, bitte!«

Jonas mochte Dr. Ingenschmidt, er wollte ihm gefallen, wollte herausragen aus dem Chor der anderen – und in jeder Korrektur, die Dr. Ingenschmidt an ihm vornahm, meinte er, eine Enttäuschung herauszuhören. Bis vor Kurzem noch hatte Jonas die Lieder zu Hause geübt und war rechtzeitig losgegangen, um im Musiksaal die Liederhefte mit den Notenblättern auf die Sitze zu verteilen, in der Hoffnung, Heiligabend in der Kirche ein Solo singen zu dürfen, Stille Nacht, heilige Nacht, Am Weihnachtsbaum die Lichter brennen oder Es ist ein Ros entsprungen. Aber nachdem er gemerkt hatte, dass ihn sein Ehrgeiz nicht weiterbrachte, hatte er es sein lassen und wie in der Schule auch beim Chor zu trödeln begonnen.

»Jonas!«, rief der Vater von unten. »Wo bleibst du denn?« Und weil Jonas ihn die Treppe hochkommen hörte und nicht wollte, dass er den Kalender sah, schob er den Kasten unters Bett zurück. Dann warf er die Decke von sich, sprang auf und zog sich hastig um, bevor der Vater ins Zimmer kam. Der Pullover war verkehrt herum, der Gürtel offen, eine Socke auf links gedreht.

Während Sonja wie jeden Samstag zum Ballettunterricht in die Turnhalle ging, schlenderte Jonas Minuten nach ihr über den Schulhof, betrat, den Ranzen mit dem Kalender und den Noten und Texten halb über die Schulter geschlungen, das Schulgebäude und stieg die Treppen zum Musiksaal hinauf. »Stille Nacht, heilige Nacht, alles schläft, einsam wacht«. Von unten hörte er schon die Kinderstimmen, von denen einige, je höher sie hinaufmussten, in ein Krächzen mündeten. »Stopp, stopp, stopp«, sagte Dr. Ingenschmidt und klopfte mit einem Stab gegen den Notenständer. »Eins, zwei, drei, vier!« – »Stille Nacht, heilige Nacht, alles schläft, einsam wacht«. Als Jonas den Raum betrat, verstummten alle, und Dr. Ingenschmidt, der mit schwarzem Jackett und weißer Hose vor ihnen stand, wandte sich zu ihm um. »Wer geht so spät durch Ravenhagen?«, fragte er.

Und der Chor antwortete wie aus einem Mund: »Jonas Klaasen!«

»Tut mir leid, Dr. Ingenschmidt«, sagte Jonas in das Lachen der anderen hinein, stellte seinen Ranzen ab, hängte den Anorak an die Garderobe und nahm das Liederheft hervor. Eben wollte er sich zu den anderen stellen, die im Halbrund auf der Bühne standen, als Dr. Ingenschmidt sagte, dass er ihn diesmal damit nicht davonkommen lasse und ihm einen Brief für seinen Vater mitgeben oder – besser noch – diesen persönlich aufsuchen werde, um mal ein »ernstes Wörtchen« mit ihm zu reden.

Jonas wusste, dass keine Ausrede der Welt ihn davor bewahren konnte, und so tat er das, was er sich erst fürs Ende der Stunde vorgenommen hatte: ihm den Kalender zu zeigen.

»Oh«, sagte Dr. Ingenschmidt, Überraschungen nie abgeneigt, »das ist ja köstlich«, streckte die Hand nach der Drei aus, sagte noch einmal »Oh«, als das Türchen aufging, und noch einmal »das ist ja köstlich«, als er die Schokolade mit dem darin eingeprägten Z in die Hand nahm.

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Jonas wäre lieber allein mit ihm gewesen. Die anderen Jungs dachten bestimmt, er wolle sich bei ihm einschleimen. Und Dr. Ingenschmidt war es ganz offensichtlich unangenehm, die Schokolade vor den Kindern zu essen. Abwechselnd schaute er auf das langsam schmelzende Stück zwischen seinen Fingern und in die großen Augen der Kinder, als überlegte er, ob es möglich sei, es so zu teilen, dass alle etwas davon hätten. Doch dann geschah etwas, womit niemand von ihnen gerechnet hatte: Dr. Ingenschmidt steckte die Schokolade in seine Hosentasche und wies Jonas mit einem Nicken seinen Platz zwischen den anderen zu. Schwungvoll hob er den Taktstock, warf den Kopf zurück und sagte: »Eins, zwei, drei, vier!«, während sich an seiner rechten Hüfte allmählich ein brauner Fleck ausbreitete.

Nach der Chorprobe wollten alle Kinder den Kalender in die Hand nehmen. Sie lobten die Verzierungen, waren erstaunt, wie leicht der Kasten war, versuchten, die noch geschlossenen Türchen zu öffnen, und fragten ihn, als das nicht gelang, nach dem Trick.

»Es gibt keinen Trick«, sagte Jonas. »Die gehen erst auf, wenn der Tag gekommen ist.«

»Blödsinn«, sagte einer.

Und ein anderer Junge sagte: »Ich habe auch so einen. Aber meiner ist schöner. In meinem sind Münzen drin, echtes Gold. Dafür kann ich mir alle Schokolade der Welt kaufen.«

Der erste Junge sagte wieder: »Blödsinn.«

Und ein dritter Junge sagte: »Mein Kalender spricht mit mir, der erfüllt mir jeden Wunsch. Ich muss nur sagen, was ich will, und am nächsten Tag ist es da.«