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Palo Alto, Kalifornien: Veblen, die sich als Übersetzerin aus dem Norwegischen versucht, und Paul, ein brillanter Neurologe, wollen heiraten – sämtlicher ideologischer (Ist die Ehe noch zeitgemäß?) und philosophischer (Wie kann man jemanden lieben, der keine Maiskolben mag?) Einwände zum Trotz. Wäre da nur nicht der Streit um das Eichhörnchen, das in Veblens Garten haust. Oder diese dubiose medizinische Veteranen-Studie, die Paul leitet. Ganz zu schweigen von den größten Minenfeldern: den jeweiligen Familien. Schon das erste Treffen zwischen Paul und Veblens Mutter eskaliert fast völlig. Schließlich ist er Arzt – und sie passionierte Hypochonderin. Aber auch Pauls Eltern, zwei Vollblut-Hippies, sind nicht gerade leicht zu handhaben. Es gilt also, diverse zwischenmenschliche Herausforderungen zu bewältigen, bis der Tag der Trauung kommt. Falls er kommt. 

Elizabeth McKenzie erzählt in ›Im Kern eine Liebesgeschichte‹ davon, was wir im anderen suchen, und von einem lebenslangen Kampf: der Emanzipation von den eigenen Eltern. Dieser im besten Sinne amerikanische Familienroman illustriert, was passiert, wenn man nicht aufhört, das Leben zu zerdenken. Er hält uns so den Spiegel vor – und unterhält uns dabei doch hervorragend.

Autor

© Linda Ozaki

Elizabeth McKenzie ist Redakteurin bei der Chicago Quarterly Review. Ihre Texte erschienen im New Yorker und in The Atlantic Monthly. Mit ihrem dritten Roman ›Im Kern eine Liebesgeschichte‹ stand sie auf der Longlist für den National Book Award und der Shortlist für den Bailey’s Prize.

Stefanie Jacobs überträgt englische und französische Literatur ins Deutsche, u. a. von Lauren Groff, Miranda July, Anthony Marra und Grégoire Hervier.

Elizabeth McKenzie

IM KERN EINE
LIEBESGESCHICHTE

Zweig

Roman

Aus dem Englischen
von Stefanie Jacobs

 

 

»Wenn du es nur genug liebst,
spricht alles mit dir.«
G. W. Carver

1

Lass los!

Im letzten Block der Tasso Street, in einer kalifornischen Stadt namens Palo Alto, standen eng aneinandergeschmiegt zwei schlichte Bungalows, ein jeder umrissen von Lilien. In einem wohnte eine Frau im ranken, grünen Lenz ihres Lebens; ihr Name war Veblen Amundsen-Hovda.

Ein verregneter Wintertag kurz nach Neujahr. Am Ende der Straße scharrte ein Eichhörnchen an der Böschung des San Francisquito Creek im Laub. Es suchte nach diesen bleichen, alten Eicheln, aus denen Regen und Tau die Gerbstoffe herausgeleckt hatten.

Ein Junge und ein Mädchen in schlammigen Gummistiefeln hoben welche auf, bewarfen einander damit und rannten freudig schreiend im Kreis. Veblen wusste, dass Kinder das täglich taten – freudig schreien.

Die Haut des alten Jahrs bekam Risse, schälte sich ab und wurde durch die Kanäle unter den Straßen fortgespült. Bald würde sich das Licht verändern, würde der kurze, milde nordkalifornische Winter sich dem Ende entgegenneigen, hin zu Wärme und Blüte – all das gab normalerweise Anlass zur Erleichterung, und trotzdem war Veblen betrübt, so als steuerte sie geradewegs auf eine Katastrophe zu. Eine persönliche oder eine weltumfassende? Am liebsten hätte sie die Zeit angehalten.

Der Wasserlauf toste und schäumte wie ein Hexenkessel, ein wogendes Chaos aus Brombeergestrüpp und den Trümmern vom letzten Jahr. Veblen sah den Wind die Bäume schütteln, wie er sie zittern ließ und ihr Laub verstreute. Der Bach toste, ganz genau. Ließ sich das Wasser vom Wahnsinn aufwühlen? Die Bäume?

Neben Veblen ging ein vierunddreißigjähriger Mann namens Paul Vreeland, groß, gut gebaut und von Kopf bis Fuß mit Marken versehen – er trug eine anthrazitfarbene Patagonia-Jacke, eine indigoblaue Kordhose von J.Crew und Vans aus braunem Leder mit ein paar Schlammspritzern darauf. Veblen trug unter ihrem Regenmantel selbstgenähte No-name-Klamotten und dazu schwarze Gummistiefel. Sie war eine schlichte, sanfte Erscheinung; ihr Haar hatte die Farbe von Mammutbaumrinde und ihre Augen waren gesprenkelt wie Septemberlaub.

An einer moosbedeckten Böschung, in einem Ring aus Eukalyptus, Eichen und Mammutbäumen, blieben sie stehen, und ein Eichhörnchen schlich sich neugierig an.

»Veb«, sagte der Mann.

»Ja?«

»Ich bin irrsinnig glücklich.«

»Ja?« Sie mochte die Vorstellung, mit jemandem Zeit zu verbringen, der glücklich, irrsinnig glücklich war. »Ich auch.«

»Heute Abend Tacos Tambien?«

»Klar!«

»Ich wusste, dass du Klar sagst.«

»Bei Tacos Tambien sag ich immer Klar

»Das ist gut«, sagte er und drückte sanft ihre Hände. »Wenn man sich einer Sache so sicher ist.«

Sie trat ein Stück näher zu ihm, spürte seine rührende Nervosität.

»Weißt du, was ich mag? Dass du jedes Mal aus dem Zimmer rennst, wenn du das Licht ausgeschaltet hast«, sagte er.

»Du hast das gemerkt?«

»Ja, das ist total süß.«

»Oh!« Es war schön, süß zu sein, wenn man es gar nicht darauf angelegt hatte.

»Und weißt du noch, als du mir den Schatten dieses Kolibris auf der Gardine gezeigt hast?«

»Ja.«

»Das fand ich wunderbar.«

»Ja, er war genau in der Mitte, als wollte er sich selbst rahmen.«

»Und wenn irgendwelche Werbefritzen anrufen und du dann so röchelst, als würdest du erwürgt und gehängt …«

»Das magst du?«

»Das liebe ich.« Er räusperte sich und blickte zu Boden, weniger auf die Erde als vielmehr darauf, ob er fest darauf stand. »Ich bin sehr, sehr verliebt in dich. Willst du meine Frau werden?«

Er zog ein veloursbezogenes Schächtelchen aus der Tasche, das sich knackend einen Spalt öffnete, wie eine Walnuss. Im Inneren schimmerte ein Diamant; wäre er eine Pille gewesen, hätten ihn empfindliche Menschen meiden müssen, so groß war er.

»Oh, sieh mal, Paul! Wir werden von einem Eichhörnchen beobachtet.«

Aber Paul drehte sich nicht einmal um, so als bedeutete es ihm überhaupt nichts, von einem Eichhörnchen beobachtet zu werden.

»Meine Güte«, sagte sie und betrachtete den fremden Stein, nach dem es sie nie verlangt hatte. »Er ist so groß. Meinst du nicht, dass ich ihn irgendwie kaputtmache, ihn ruiniere?«

»Diamanten kann man nicht kaputtmachen.«

»Ich kann ihn nicht ruinieren?«

»Du kannst überhaupt nichts ruinieren. Durch dich wird alles nur wunderbar.«

Sie fühlte sich lebendig, wie ein Baum im Wind. Später würde sie sich daran erinnern, dass sie in diesem Moment etwas durchzuckte wie ein aufleuchtender Glühfaden – das Gefühl, froh zu sein, ihm solches Glück geschenkt zu haben, aber nicht genau zu wissen, was sie selbst empfand.

»Ja?«, fragte der Mann.

Das Eichhörnchen stieß einen schrillen Schrei aus.

»Ist das ein Ja?«, fragte Paul.

Schließlich brachte sie es über die Lippen. Ja. Zwei menschliche Gestalten, zu einer verschmolzen, gingen auf den Bungalow in der Tasso Street zu.

Hinter ihnen stieß das Eichhörnchen weitere schrille Schreie aus, als wollte es sagen, dass es starke Zweifel hegte. Als wollte es sagen (und sie konnte es nicht anders übersetzen): Da bahnt sich eine schreckliche Chemie an.

Dies war die Verlobung von Veblen Amundsen-Hovda, unabhängige Behavioristin, erfahrene Trostspenderin und freie Übersetzerin, die aufgrund einer isolierten Kindheit und diverser darauffolgender Interferenzen eine verspätete Liebesaffäre mit der Welt hatte. Mit dreißig trug sie immer noch am liebsten labbrige Männersachen, von denen sie sich ebenso schwer trennen konnte wie von ihren imaginären Freunden.

Am Abend trippelte das Eichhörnchen unablässig auf dem Dachboden ihres kleinen Hauses umher. Regen prasselte auf das Dach, und ein Orkantief peitschte gegen die hohen Bäume, nach denen die Stadt benannt war. Irgendwann hatte das Eichhörnchen seine Eichel wohl leid und feuerte sie ärgerlich auf den Boden. Paul klopfte von unten an die Decke.

Willst du dich mit mir anlegen? Nur verklemmte Trottel klopfen von unten an Decken.

Das Eichhörnchen hatte seine Mittel und Wege. Es brauchte nur Lass los zu sagen, schon fielen die Blätter. Es war eine verantwortungsvolle Aufgabe, im Herbst all jene Bäume zu besuchen, die es gepflanzt hatte, und mit festem Blick ihre Äste anzusehen. Lass los. Die Bäume wurden kahl. Die Tage kurz und kalt.

An jenem Abend fiel Veblen im Bett seltsam heftig über Paul her, als wollte sie die eigenartige Stimmung, die sie überkommen hatte, umwandeln oder verbergen. Es funktionierte. Als Paul sie später im Arm hielt, flüsterte er: »Weißt du, was ich nie vergessen werde?«

»Was denn?«

»Dass du nicht gesagt hast: ›Ich überlege es mir‹, als ich dich gefragt habe. Du hast einfach Ja gesagt.«

Sie freute sich darüber, etwas richtig gemacht zu haben.

Oben begann ein Virginia Reel aus Kratzen und Poltern, was zu diesem Zeitpunkt ungefähr so passend war wie grummelndes Gedärm unter der Bettdecke.

»Meinst du, das sind Ratten?«, fragte Paul.

»Ich hoffe, Eichhörnchen.«

»Ist dir schon mal aufgefallen, dass diese Stadt regelrecht von Eichhörnchen verseucht ist?«

»Ich würde eher sagen, sie ist reich an Eichhörnchen.«

»Der Regen treibt sie ins Trockene«, sagte Paul und küsste sie.

»Vielleicht feiern sie ja mit uns und springen deshalb freudig herum.«

Er knuffte sie sanft. »Meine Eltern werden hin und weg sein. Sie sagen bestimmt, ich hab dich nicht verdient.«

»Wirklich? Unsinn.«

»Was wird deine Mutter wohl dazu sagen?«, wollte Paul wissen.

»Na ja, dass es schnell ging und dass sie dich kennenlernen muss. Sofort, wenn nicht noch früher.«

»Sollen wir sie anrufen und es ihr sagen?«

»Morgen.«

Obwohl ihre innere Uhr nach dem Neuigkeitenhunger ihrer Mutter gestellt war, fühlte es sich manchmal gut an, sie zu ignorieren.

»Was ist mit deinem Vater?«, fragte Paul.

»Hmm. Der wird nur sagen, dass wir nie mehr die Alten sein werden.«

»Wir sind erwachsen, wir könnten auf die Meinung unserer Eltern pfeifen, aber irgendwie tun wir es doch nicht«, bemerkte Paul philosophisch.

»Da sagst du was.«

»Weil wir nur durch sie existieren.«

Veblen war irgendwann einmal zu dem Schluss gekommen, dass jeder auf Erden Diener der vorherigen Generation war, ein Produkt der Körperfabrik, das unterhaltsam und zweckdienlich sein sollte. Es passierte schnell, dass man sein Leben wie eine Entschuldigung lebte – um zu zeigen, dass man es wert gewesen war.

Sie schmiegte sich an ihn, vergaß keine Sekunde den auffälligen neuen Ring, mit dem sie an den Laken hängen blieb, und zuckte zusammen, als er plötzlich im Tagsüberton fragte: »Sag mal, Veb, stören dich diese Geräusche eigentlich nicht?«

»Ich habe so eine komische Angewohnheit«, erklärte sie, weil sie nicht wie jemand dastehen wollte, der gern inmitten von Ungeziefer wohnt. »Wenn um mich herum jemanden irgendetwas stört, habe ich das Gefühl, dass es mich nicht auch noch stören darf.«

»Darf?«

»Es ist, als würde irgendeine höhere Instanz von mir verlangen, ruhig oder neutral zu bleiben, damit nicht irgendwas Schreckliches passiert.«

»Irgendwie verdreht. Bringst du viel Zeit mit so etwas zu?«

Sie überlegte und stellte fest, dass es eine ihrer Hauptbeschäftigungen geworden war, sich selbst unter Druck zu setzen. War es die Angst vor einem Domino-, Schneeball- oder Schmetterlingseffekt? Tat sie es im vagen Bewusstsein von Verhaltenswendepunkten, kaskadierenden Fehlern, Kettenreaktionen und Quantenchaos?

»Das passiert automatisch, ich merke es gar nicht.«

»Dann werden wir uns also nie zusammen über irgendetwas ärgern können?«

»Oh! Ich kann daran arbeiten, wenn dir gemeinsames Ärgern viel bedeutet.«

Er schniefte. »Also – ich finde es nicht unvernünftig, etwas gegen das Geräusch knabbernder Nager in der Nähe unseres Bettes zu haben.«

»Stimmt.« Sie lachte und küsste seinen Kopf.

In der Nacht kam ihr der Gedanke, dass das Eichhörnchen vielleicht nicht einfach so vor sich hin knabberte – möglicherweise arbeitete es an etwas viel Größerem. Und Paul, so würde sie entdecken, hatte allen Grund, jedwedes wilde Spektakel zu beanstanden, das durch die Wände drang, aber sie durchschaute die Verbindung noch nicht.

Und sie selbst konnte den ein oder anderen Hausfriedensbruch durch diverse eigensinnige Wesen problemlos ertragen.

Allein diese tief verankerten Unterschiede zwischen ihnen hatten die Macht, alles zu ruinieren, aber welches eifrige junge Paar hätte das je geglaubt?

Kurz nachdem Paul am Morgen das Haus verlassen hatte, um Gebäck zu kaufen, tauchte vor ihrem Schlafzimmerfenster ein flauschiges Sciurus griseus auf. Sein Rücken war dunkelgrau, die Brust weiß wie ein Oxford-Hemd und der Schwanz buschig wie die Federn an einem Konquistadorenhut. Mit ruhiger Würde saß das Westliche Grauhörnchen vor ihr, den Kopf erhoben und die Schultern zurückgezogen, und blickte mit seinen großen, braunen Augen direkt ins Zimmer. Was für ein Anblick!

Noch immer im Bett, setzte sie sich auf, und es erschien ihr nur natürlich, durch die Scheibe mit dem Tier zu sprechen, auch wenn es lange her war, dass sie Kontakt zu einem Eichhörnchen gehabt hatte. »Na? Du bist aber ein hübsches Eichhörnchen. Sehr würdevoll.« Amüsiert sah sie, wie das Tier leicht den Kopf senkte, als verstünde es sie und freute sich über das Kompliment. »Wohnst du über mir? Du bist ein ziemlich lauter Nachbar, Paul hat deinetwegen letzte Nacht kein Auge zugetan!« Diesmal hob das Eichhörnchen den Kopf und schien mit den Schultern zu zucken. Sicher ein Zufall, aber Veblen hickste überrascht auf. Dann streckte das Eichhörnchen eine Pfote aus und setzte sie auf die Scheibe, als wollte es ihre Wange berühren.

»Oh! Du willst mir ja wirklich etwas sagen!« Sie streckte die Hand aus, aber der neue Ring, der kühl an ihrem Finger glitzerte, störte irgendwie. Sie zog ihn ab und legte ihn auf ihren Nachttisch. Ohne zu zögern, setzte sie die Fingerspitzen der nun schmucklosen Hand auf die Stelle, wo das Eichhörnchen die Pfote an die Scheibe drückte. Es musterte sie mit warmen, braunen Augen, als wollte es sie fragen: Wie gut kennst du dich, und was weißt du über die Entscheidungen, die du treffen könntest? Als wollte es sagen: Ich wurde aus einer schrecklichen Ehe befreit und will sie jetzt kennenlernen – die Schmutzfinken, die Zecherinnen, die Naschhaften und die mit dem Löwenherz, und auch wenn du es nicht ahnst, sie alle sind du.

»Ich – was?«, fragte Veblen fasziniert.

Dann zuckte das Eichhörnchen kurz mit dem Schwanz und stob davon.

Sie sprang aus dem Bett, warf sich den Mantel über und rannte hinaus in den Garten, um zu sehen, wo es hingehüpft war, aber sie sah nur das weiche Wintergras, die sich streckenden Stecken der Lilien, die feuchte, braune Schicht Nadeln unter der Aleppo-Kiefer, die verwitterten Zaunlatten mit den filigranen Termitenspuren, die moosüberzogenen Steine neben der Garage und das flechtenbedeckte Dach. Sie war stolz auf ihr bescheidenes Häuschen in der Tasso Street.

Dann ging sie wieder nach drinnen und schnappte sich das Telefon, um ihrer Mutter die unerwarteten Neuigkeiten zu eröffnen. Vor einer solchen Eröffnung war nichts ganz real. Mit ihrer Mutter konnte zwar nichts einfach und unkompliziert sein, aber genau darin lag der Reiz. Ein perverser, kindischer Reiz, den sie brauchte wie die Luft zum Atmen.

Linus ging ans Telefon, ihr Stiefvater. »Hallo?«

»Oh, hi, Linus, Morgen! Kann ich Mom sprechen?«

»Sie schläft noch, Liebes. Versuch’s am besten in ein paar Stunden noch mal.«

»Weck sie einfach auf!«

»Sie hat eine schlimme Nacht hinter sich. Wir haben neue Handtücher gekauft und sie hatte eine allergische Reaktion auf die Farbe. Sie liegt seit gestern Nachmittag im Bett.«

»Oh nein. Ich muss aber trotzdem mit ihr sprechen«, sagte Veblen und mahlte Kaffee.

»Ich traue mich nicht reinzugehen, du weißt doch, wie sie dann wird. Ich mach die Tür einen Spaltbreit auf und flüstere.«

Veblen hörte, wie das Telefon durch den Raum getragen wurde und schließlich die dünne Stimme ihrer Mutter aus ihrem großen Despotinnenkopf, der offenbar seitlich auf einer Nackenrolle lag. Morgens war sie noch nicht in Form.

»Veblen, ist irgendetwas nicht in Ordnung?«

»Nein, alles bestens.«

Von den Spitzen des Wacholderbaums vor dem Fenster stoben junge Motten auf. Ein großer schwarzer Käfer nagte an einem Orgelpfeifenkaktus, höhlte sich im winterlichen Schatten einen passgenauen Unterschlupf aus.

»Was ist los?«, fragte ihre Mutter.

»Vorhin ist ein Eichhörnchen an mein Fenster gekommen und hat zu mir hereingesehen.«

»Was ist daran so aufregend?«

»Es hat die Pfote ausgestreckt. Es hat direkt Kontakt mit mir aufgenommen.«

»Und ich dachte, aus der Phase wärst du raus. Mein Gott. Müssen Linus und ich runterkommen und einschreiten?«

Veblens Mutter Melanie C. Duffy schritt nur zu gern ein und hatte das in sämtlichen Phasen von Veblens Leben auch immer wieder beherzt getan; sie neigte zu übermäßiger Sorge um Veblens körperliche und seelische Unversehrtheit und intervenierte dahingehend wenn nötig täglich.

»Ach, vergiss es. Vielleicht wollte es meinen Ring sehen.«

»Was für einen Ring? Ich zittere.«

»Paul hat mir einen Heiratsantrag gemacht«, platzte Veblen heraus.

Stille.

»Mom?«

»Warum erzählst du mir zuerst von dem Eichhörnchen?«

Sie merkte, dass sie ernsthaft nach einer Antwort suchte und für einen Moment in die alte Kindheitsgewohnheit verfallen war, immer uneingeschränkt Rechenschaft abzulegen.

»Weil du doch immer alles wissen willst.« Sie nahm ihren Lieblingskaffeebecher aus dem Schrank und fragte sich, wann Paul wohl zurückkam.

»Es ist wirklich seltsam, dass du mir zuerst von dem Eichhörnchen erzählt hast. Und diesen Mann habe ich noch nicht einmal kennengelernt.«

»Ich weiß, deshalb rufe ich ja an. Wann können wir vorbeikommen?«

»Weihnachten hast du noch gesagt, es wäre nichts Besonderes.«

»Das stimmt gar nicht. Ich wollte nur noch nicht darüber sprechen.«

»Hattest du denn gar nicht das Bedürfnis nach meinem Input?« Was eine sehr ironische Frage war, denn sie hatte schon so viel Input gehabt – so viel.

»Aber natürlich. Darum geht es ja.« Sie berührte das Telefon so sanft, als wäre es ein Teil ihrer Mutter.

»Ich fühle mich von der wichtigsten Entscheidung deines Lebens ausgeschlossen.«

»Nein, Mom, ich rufe als Allererstes dich an, weil du der wichtigste Mensch für mich bist.«

Es folgten einige Momente der Stille. Ihre Mutter neigte in solchen Situationen dazu zu erstarren, Komplimente und Liebevolles zu ignorieren und stattdessen alle verfügbaren Zwistigkeiten und Misstöne zusammenzutrommeln, um mit ihnen ein endloses Pow-Wow des Bedauerns zu zelebrieren.

»Gut. Hast du denn aus den richtigen Gründen Ja gesagt?«

Die Kaffeemaschine zischte und gluckerte, eine müde alte Freundin, die ihr Bestes tat.

»Die Ehe ist nicht der Lebenszweck einer Frau. Ist dir das klar?«

»Inzwischen schon.«

»Liebst du ihn?«

»Ja, wirklich.«

»Läuft es denn zwischen euch, sexuell gesehen?«

»Hallo?! Noch nie was von Intimsphäre gehört?«

»Sag nicht Hallo?! wie so eine Teenietussi im Fernsehen.«

Es störte Veblens Mutter, dass die meisten Menschen das selbstständige Denken aus Faulheit längst aufgegeben hatten und stattdessen wie Elstern Worthülsen aus den Medien klauten. Schön und gut. Das Problem war, dass ihre Mutter gern übertriebene Argumente vorbrachte und damit ihre Glaubwürdigkeit ruinierte. Veblen hatte früh lernen müssen, nach Beweisen zu suchen, die die einzigartige Weltsicht ihrer Mutter unterfütterten. In diesem Fall hatten sich diese in den Werken des wunderbaren William James gefunden: »Vielmehr müssen wir nach den ursprünglichen Erfahrungen suchen, die das Muster abgaben für diese Menge von suggerierten Gefühlen und nachgeahmtem Verhalten.«

»Okay, Mom. Das geht dich nichts an. Besser?«

»Ja. Das ist nämlich sehr wichtig, und auch, dass du abgedroschene Phrasen meidest, vor allem abfällige, weil die sehr nach Unterschicht klingen.«

Veblen ließ sich nicht bremsen. »Seine Familie ist uns in vielem ähnlich, und wie es aussieht, sind sie richtig nett.«

»Eine nette Familie ist viel wert, aber nicht das A und O. Was hast du ihm über mich erzählt?«

Sie hörte, wie ihre Mutter sich die Kopfhaut kratzte und mit den Nägeln tote Hautschuppen abschabte. »Nur Gutes. Aber dich kann man nun mal nicht beschreiben. Deshalb müssen wir uns treffen.«

»Ich weiß nicht recht, Veblen. Die Menschen mögen mich nicht, wenn sie mich kennenlernen.«

»Stimmt doch gar nicht«, widersprach Veblen aufrichtig.

»Und ob, das zeigt die Erfahrung. Vor allem Ärzte. Ärzte hassen mich, weil ich vor ihnen nicht den Kotau mache.«

»Aber er soll ja nicht dein Arzt, sondern dein Schwiegersohn werden.«

»Ich habe noch nie einen Arzt kennengelernt, der seinen Arztkittel nicht immer und überall getragen hätte.«

Veblen schüttelte den Kopf. »Aber er ist in der Forschung, da ist das anders.«

Weil Veblen sich von klein auf andauernd auf irgendetwas hatte gefasst machen müssen, war sie innerlich robust, im Unglück stark. Indem ihre Mutter die Unzulänglichkeiten anderer herausstrich, den Katalog ihrer Fehler dauernd erweiterte und zu einer Art Kunstform erhob, hatte sie durch ständiges Wegschneiden die Schablone eines idealen Menschen erstellt, und die unausgesprochene Annahme lautete, dass Veblen diesem Ideal, so gut sie konnte, zu entsprechen versuchte.

»Es ist wirklich interessant, dass du ausgerechnet einen Arzt heiraten willst«, bemerkte ihre Mutter mit jener überdeutlichen Aussprache, an der man merkte, dass sie sich in die Ecke gedrängt fühlte.

»Es gibt viele Ärzte auf der Welt«, sagte Veblen.

»Wir bezahlen aber keine große Hochzeit, damit das klar ist. Das ist völlige Verschwendung.«

»Weiß ich doch.«

»Die erwartet er aber, wenn er Arzt ist. Ärzte sind ambitioniert und sehr von sich eingenommen!«

»Darauf gibt es nur eine Antwort – wir müssen euch sofort besuchen kommen«, beharrte Veblen.

»Dann hat er seinen großen Tag und denkt sich alle möglichen Theorien über mich aus.«

»Mom, das ist eine freudige Nachricht! Kannst du bitte mal runterkommen?«

»Was sagt eigentlich Albertine dazu? Du hast ihr ja sicher schon davon erzählt.«

»Nein, ich habe es noch niemandem erzählt, das sagte ich doch schon.«

Im Hintergrund hörte sie Linus’ beschwichtigende Stimme.

»Linus bittet mich, mich zu beruhigen«, sagte Melanie. »Er will meinen Blutdruck messen. Wen wollt ihr denn alles einladen?«

»Zur Hochzeit? Darüber haben wir uns noch keine Gedanken gemacht.«

»Es ist beschämend, dass wir keine Freunde haben.«

Warum war das auf einmal beschämend, nachdem sie sich jahrelang vor sämtlichen Mitmenschen verkrochen hatten? Veblen beobachtete einen einzelnen Bussard, der direkt unterhalb der Wolken kreiste.

Plötzlich war Linus in der Leitung. »Deine Mutter ist ganz rot im Gesicht und hat Herzrasen.«

»Ein bisschen Aufregung wird sie nicht umbringen.«

»Ich verabschiede mich wieder, ich brauche jetzt beide Hände. Kommst du uns bald besuchen?«

»Ja, wir kommen euch bald besuchen«, sagte Veblen.

Mit brühheißem Kaffee spülte sie ihre Tabletten hinunter, Vivactil und Citalopram. Sie zwirbelte eine Haarsträhne zwischen den Fingern. Wie war das noch mal? Die Schmutzfinken, die Zecherinnen, die Naschhaften und die mit dem Löwenherz?

Wenn Veblen eine Deadline für eine Übersetzung hatte, konnte sie manchmal niemandem davon erzählen, weil sie für ihre Arbeit nicht bezahlt wurde und die Deadline keine echte, sondern eine selbst gesetzte war. Was war das schon für eine Deadline? Ob Paul ihre Deadlines wohl ernst nehmen könnte? Es würde ihr eine Menge bedeuten.

Paul wusste nicht, dass sie Antidepressiva einnahm, aber sie erzählte ihm ja auch nicht, welche Zahnpasta und welches Deo sie benutzte (Colgate und Tom’s).

Er wusste auch noch nicht, dass sie keinen Collegeabschluss hatte. Das war ihr peinlich, und wahrscheinlich würde er es sowieso bald herausfinden. Bisher war das Gespräch einfach noch nicht darauf gekommen. Aber da man sich beim Heiraten ja als Ware anbot, war es jetzt vielleicht an der Zeit, im Hinblick auf die Details ihrer Produktbeschreibung reinen Tisch zu machen. Gesunde Dreißigjährige ohne Collegeabschluss. Keine Gewährleistung.

Obwohl Veblen in Gegenwart anderer gute Laune verbreitete, sah man, dass diese Frau etwas durchgemacht hatte, das seine Spuren hinterlassen hatte. Manchmal kamen ihre Reaktionen in Zeitlupe, wie alte, schwielige Seekühe, die durch trübes Wasser schwebten. So hatte sie es zumindest dem Psychiater erklärt, von dem sie ihre Medikamente bekam. Manchmal fragte sie sich, ob sie vielleicht eine Art Wahrnehmungsstörung hatte. Oder vielleicht war es auch nur ein Verteidigungsmechanismus. Man sah ihre blauen Flecke vom ständigen Ausweichen und Wegducken, das nötig war, wenn man die eigenen Bedürfnisse im Geheimen stillen musste.

Bevor Veblen Paul kennengelernt hatte, war sie romantischen Verstrickungen jahrelang ganz aus dem Weg gegangen; zu stark waren die Erinnerungen an unkontrollierbare Gefühle und einige schmerzhafte Trennungen. »Niemand wird mich je verstehen!«, jammerte sie oft, wenn sie sich selbst bemitleidete. Manchmal konnte sie es sich nur knapp verkneifen, in ihren Arm zu beißen, bis der Kiefer schmerzte, um dann darauf zu achten, wie lange die Zahnabdrücke noch zu sehen waren. Sie war bei besagten früheren Erfahrungen einigen irrigen Annahmen erlegen, etwa dass Liebe bedeuten würde, unzertrennlich zu sein, und ein paar Verehrer kamen und gingen, doch zum uneingeschränkten Verschmelzen war keiner bereit. Allmählich dämmerte ihr, dass sie keine Liebesbeziehung, sondern eine menschliche Zuflucht vor ihrer Mutter suchte. Den legitimen Vorwand, mit jemand anderem beschäftigt zu sein. Ein rundherum liebendes Wesen, das sie bis in alle Ewigkeit tragen würde wie der Boden unter ihren Füßen.

Im Laufe dieser Trial-and-Error-Beziehungen wurde sie sich ihrer Schwächen bewusst und bedauerte, sie zu haben. Während sich Wunsch und Vertagung ein Tauziehen lieferten, hielt sie an ihren zutiefst romantischen Überzeugungen fest und lebte fortan in sehnsüchtiger Erwartung der Zeit, in der das Leben so wundervoll werden würde, wie es ihrer Überzeugung nach einfach werden musste.

Veblens beste Freundin seit der sechsten Klasse, Albertine Brooks, klug und in einer Ausbildung zur Jung’schen Analytikerin, war besorgt angesichts der Tatsache, dass Paul so plötzlich kam, sah und siegte: Veblen, so spürte sie, hatte unverarbeitete Schatten sowie Abspaltungsproblematiken und würde zu Animus-Projektionen und primordialen Fantasien mit zerstörerischen Folgen neigen.

Aber Veblen lachte nur.

Über die Jahre hatten sie mit beinahe wissenschaftlichem Ernst die intimen Details ihrer jeweiligen Romanzen ausgewertet – Veblens erste war die mit Luke Hartley gewesen, hinten im Schulbus auf dem Rückweg einer Exkursion zum State Capitol. Sicher, er hatte sie auf dem Rundgang durch die Legislativkammern mit Aufmerksamkeit geradezu überschüttet, immer dicht neben ihr gestanden und gedankenverloren in ihr Haar gestarrt, einmal sogar ein Blatt herausgezupft. Er hatte sie auch gefragt, ob er sich im Bus neben sie setzen dürfe. Dass er etwas für sie empfinden könnte, glaubte sie trotzdem erst in letzter Sekunde, als er sie berührte. Nachdem sie Albertine von seiner milchig schmeckenden Zunge und seinen hamsterartig herumwandernden Händen erzählt hatte, bereitete Albertine sie auf den nächsten Schritt vor, nämlich, seine Hose zu öffnen. Albertines pragmatische Stimme im Ohr, versuchte sie genau das, als sie das nächste Mal nach der Schule auf dem Sportplatz mit ihm knutschte. Gar nicht so einfach unter seinem Gewicht; sie schürfte sich die Haut an den Metallzähnen des Reißverschlusses auf, und als sie ihn endlich zu fassen bekam, schob Luke sie weg und stöhnte: »Zu spät.«

Zu spät? Wow. Man musste wohl echt schnell sein, sonst wollte der Junge nichts mehr mit einem zu tun haben. Sie löste sich aus seiner Umarmung, in der Liebe schon jetzt eine Versagerin, und blickte kläglich auf den Rasen.

»Aber nein, du Dummerchen«, sagte Albertine später. »Er meinte, er hat schon ejakuliert.«

»Hä?«

»Was habt ihr unmittelbar davor gemacht?«

»Uns auf dem Rasen gewälzt und geknutscht, weiter nichts.«

»Okay, genau.«

»Du meinst –«

»Ja, genau das meine ich.«

»Oh! Du meinst also, das ist gut?«

»Zumindest nicht schlecht. Hätte aber noch besser sein können.«

Albertine half Veblen in diesem Moment, die Gewohnheit abzulegen, von ihrem eigenen Verschulden auszugehen, wenn jemand etwas Rätselhaftes zu ihr sagte.

»Du meinst also, er findet mich immer noch gut?«, fragte sie.

»Ja, Veblen.«

»Ist ja ein Ding. Und ich dachte, ich hätte es vermasselt, weil ich von Tuten und Blasen keine Ahnung habe.«

»Glaub mal, der träumt vom Blasen …«

Veblen zog die Nase kraus. »Aber man bläst ja eigentlich gar nicht, oder?«

»Nein«, sagte Albertine mitleidig.

Albertine für ihren Teil hatte sich im Laufe der Jahre in so manches kühne Scharmützel gestürzt und war infolgedessen erstaunlich unsentimental. Veblen hätte nie einfach so ohne Gefühle irgendetwas anfangen können. Sie hatte Albertine immer bewundert, deren ehrgeizige Ziele stets Vorrang vor ihrer Familie und vor Männern hatten und die ihr Herz an niemanden außer Carl Jung hängte.

Sie lieh Veblen oft Bücher, die ihr bei ihrer psychologischen Entwicklung helfen sollten, aber aus irgendeinem Grund stand in keinem etwas über ihr Kernproblem: das unabänderliche Gefühl, dass die Männer, die mit ihr gehen wollten, sie nicht verstehen würden, wenn sie sie besser kennenlernen würden.

Dann kam Paul. Kaum drei Monate zuvor hatten sie beide noch, ohne einander zu kennen, an der Stanford University School of Medicine gearbeitet, wo Veblen vor Kurzem als Büroassistentin in der Neurologie angefangen hatte. Dort ging sie jeden Morgen an ihren Platz, eingeklemmt zwischen Drucker und Aktenschrank, warf ihre Tasche in eine Schublade, zog den Stuhl hervor und loggte sich ein. Auf ihrem Schreibtisch flackerten horizontale Lichtrippen, ein letztes Stückchen Morgen. Später würde die Sonne auf die stattliche Eiche im Hof fallen und ihr scharfes Laub zum Schimmern bringen. Bis dahin würde sich Veblen mithilfe ihrer Finger davontreiben lassen, das Protokoll des Tumor-Gremiums, den Entwurf irgendeines Forschungsberichts oder die Fallnotizen von einem der Ärzte abtippen. Sie war erstaunlich gut darin, einen Teil ihrer selbst abzuspalten, was ja angeblich ungesund war, für sie im Laufe der Jahre aber überlebenswichtig geworden war.

Am anderen Ende des Büros saß Laurie Tietz, eine kompetente, muskulöse Vierzigjährige, deren geschürzte Lippen auf den ersten Blick missbilligend wirkten, ohne dass dieser Ausdruck beabsichtigt war. Als Paul das erste Mal bei ihr hereinschaute, fühlte sie sich unwohl und irgendwie beobachtet, aber nein, es lag nur an Lauries Lippen. Veblen mochte Laurie, auch wenn sie sich tagtäglich ihre Gespräche mit ihrem Mann über zu erledigende Einkäufe und Arbeiten im Haus anhören musste. »Wir brauchen heute Käse und Glühbirnen, nicht vergessen. Hab dich lieb.«

Diesen Teil hasste sie – wenn Laurie sagte: »Hab dich lieb.«

Dr. Chaudhry kam stets mit seiner Aktentasche und einer Tupperdose voll hausgemachter Snacks von seiner Frau ins Büro. Er war ein kleiner, stiller Mann mit großen, runden Augen, einem ungepflegten Schnauzbart, der seine Lippen bedeckte, leicht gewölbter Fliegerbrille und einem zerfledderten aufgestickten Namensschriftzug, dessen Fäden wie Ganglien von seinem weißen Kittel abstanden. Dr. med. Lewis Chaudhry.

Von ihrem Schreibtisch aus konnte Veblen an jedem beliebigen Tag Eichhörnchen beobachten, die im Baldachin der Bäume herumturnten, deren Zweige sich bogen und schwangen. Sie dachte oft darüber nach, dass Eichhörnchen die einzigen Säugetiere waren, die in direkter Nähe des Menschen in der freien Natur lebten.

Geeignete Waffen für kleines Haarwild

Trotz dieses nachbarschaftlichen Verhältnisses waren in Joy of Cooking auch Rezepte für die Zubereitung von Eichhörnchen enthalten. Vielleicht ein seltsamer Fall von unangebrachtem Vertrauen?

Es war der Tag, an dem Chaudhry mit einem braunen Umschlag zu ihr kam – dem »Schicksalsumschlag«, wie Paul und sie ihn inzwischen nannten.

»Wissen Sie, wo Sie die Forschungslabore finden?«, fragte Chaudhry.

»Natürlich.«

»Suchen Sie Paul Vreeland. Und sagen Sie ihm, der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert.«

Veblen zog die Augenbrauen hoch. »Wäre das nicht irgendwie – unpassend?«

»Sagen Sie ihm, es kommt von mir.«

Sie war noch immer nicht ganz überzeugt von diesem Vorschlag. »Warum? Was hat er gemacht?«

»Ihm bietet sich hier eine großartige Chance, und er will sie wegwerfen.«

»Ach, wie schade.«

»Da ist er nicht der Erste«, sagte Chaudhry.

Jener Flur mit den scharfen Gerüchen, den Vibrationen und Dutzenden Behältern für Sonderabfall war für sie unbekanntes Terrain. Schließlich zeigte ihr jemand den Weg zu Vreelands Labor, und nachdem sie ein paarmal angeklopft hatte, ohne eine Antwort zu bekommen, ging sie einfach hinein. Tief über eine surrende Tischsäge gebeugt, das dunkle Haar in wirren Strähnen über der Schutzbrille, war er das fleischgewordene Klischee des exzentrischen Wissenschaftlers, der ganz in seine gewichtige Forschung vertieft ist.

»Dr. Vreeland?« Sie räusperte sich. »Hallo? Verzeihung!«

Der stechende Geruch von versengtem Fleisch stieg ihr in die Nase. Gut möglich, dass sie leicht ins Schwanken geriet oder zumindest kreidebleich wurde. Er sah auf und riss die Schutzbrille herunter, wobei er mit dem Ellbogen ein paar Messbecher vom Tisch stieß. Die Säge lief derweil kreischend weiter und überzog seinen Laborkittel und die Wand mit einem roten Nebelschleier.

»Oh, Scheiße!« Knirschende Scherben unter den Sohlen, legte er den Hauptschalter der Säge um und warf eine blaue Schürze über das blutige Chaos. Auf dem Untersuchungstisch stand ein leerer Käfig, der nichts Gutes ahnen ließ.

»Entschuldigung, ich habe Sie gar nicht kommen hören. Ach, du meine Güte.«

»Ja, tut mir leid, ich habe angeklopft, aber ich wusste nicht genau …«

Er beharrte darauf, dass es sein Fehler gewesen war, nicht ihrer; es mache ihm nichts aus, dass sie hereingekommen sei, manchmal komme stundenlang niemand herein, dann vergesse er alles um sich herum inklusive der Zeit, und als sie ihn fragte, was er mache, erklärte er ihr seine Arbeit und erwähnte entschuldigend, dass kleine Säugetiere für die neurologische Forschung besonders gut geeignet seien, weil man die Großhirnrinde leicht freilegen und spezielle Färbeflüssigkeiten, Sonden oder Elektroden direkt einbringen könne, um die neuronale Aktivität zu beobachten und Versuche durchzuführen, die sich auf den Menschen übertragen ließen, in seinem Fall die Männer und Frauen der US Army, die auf schnelle Ergebnisse angewiesen seien.

»Genau genommen stehe ich kurz vor einem Durchbruch bei der Behandlung von Hirnverletzungen«, fasste er zusammen und strich sich durchs Haar, und in diesem Moment fiel ihr auf, wie hinreißend er aussah. »Ich bin gerade ziemlich besessen von dem Thema. Ich träume nachts davon.«

»Ist das alles, wovon Sie träumen?«, fragte sie.

Gut möglich, dass er rot wurde. »Tja, vielleicht brauche ich einen neuen Traum«, erwiderte er mit einem Blick zum Dahinschmelzen.

»Tja. Tut mir leid, dass ich so ein Tohuwabohu verursacht habe«, sagte sie und fragte sich, warum sie so seltsam klingen musste. Wer sagte denn heutzutage noch Tohuwabohu? »Es war deswegen«, sagte sie und gab ihm den Umschlag.

»Oh, von Chaudhry. Na endlich.«

Während er in den Umschlag sah, nahm sie die Produktunterlagen der Voltar-Knochenbandsäge zur Hand.

»Wow, kann die irgendwas Spektakuläres?«

»Was meinen Sie?«

Sie las vor: »Diamantbeschichtetes Sägeblatt ohne Zähne, schneidet nicht in Finger! Schnelle und einfache Reinigung! Weniger Knochenstaub durch feuchtes Sägeblatt! Inklusive Spritzschutz und Splitterfang!«

»Ja, es ist immer etwas erschreckend, die kommerzielle Seite der Forschung zu betrachten«, stimmte er ihr zu. Er hatte Grübchen und freundliche Augen. »In der Medizin und im Verteidigungswesen gibt es eine Art parallele Konsumwelt, das ist etwas gewöhnungsbedürftig.«

Genau damit hatte Veblen das Stichwort für eins ihrer Lieblingsthemen bekommen: die hässliche Fratze von Werbung und Marketing. »Kann ich mir vorstellen. Aber was mich hieran irritiert: Marketing soll ja eigentlich den antizipierenden Traum entfachen, angeblich die aufregendste Phase des Kaufs. Was wäre denn hier der Traum?«

»Na, Arbeiten ohne Knochenstaub natürlich – das ist ziemlich aufregend. Sehen Sie sich das hier an«, sagte er, sprang auf und holte aus einer Schublade eine runde Metallplatte von gut fünf Zentimetern Durchmesser, die dem Abflusssieb in der Dusche ähnelte. »So eine Titanplatte schrauben wir direkt nach einer Kraniotomie an.«

»Ach, wirklich?« Sie las von der Schutzhülle vor: »Zur Rekonstruktion großer ungeschützter Schädelöffnungen (GUS)! Reagiert nicht mit dem menschlichen Körper, absolut widerstandsfähig gegen Körperflüssigkeiten! Annehmbare Ergebnisse bei kosmetischen Deformationskorrekturen!«

Beide lachten nervös.

»Verrückt. Sind ›große ungeschützte Schädelöffnungen‹ so verbreitet, dass man ein Akronym dafür braucht?«

»Ähm, leider schon.«

»Oh.«

»Und das ist gut so«, fügte er hinzu.

»Warum?«

»Na ja, ich meine, wenn die GUS Folge einer Behandlung ist, die den Zustand des Patienten verbessert, dann ist sie etwas Gutes.« Er warf die Platte wieder in die Schublade, ging zum Waschbecken und wusch sich die Hände.

»So was habe ich schon im Baumarkt für fünfundneunzig Cent gesehen«, sagte Veblen.

»Bei uns sind Sie mit zwei- bis dreitausend dabei.«

»Das ist doch verrückt!«

»Schon. Also. Ich wollte sowieso gerade Pause machen. Sollen wir uns irgendwas aus der Cafeteria holen?«, fragte er und sah weg.

»Oh. Klar, warum nicht?«

Im topfbepalmten Innenhof, wo das Personal frische Luft schnappte, tranken sie zusammen Kaffee und aßen Haferkekse mit Rosinen. Es war Anfang Oktober, warm und hell. Veblen zog den dünnen Pullover aus, den sie im Krankenhaus trug, dachte an ihre sommersprossigen Arme und fragte sich, ob die Einladung in die Cafeteria wohl bedeutete, dass er sie mochte. Sie traute sich immer noch nicht, so etwas einfach anzunehmen.

»Was machen Sie hier?«, fragte er.

»Schreibkram in der Verwaltung«, sagte Veblen. »Ich rotiere. Zuerst war ich anderthalb Jahre in der Neonatologie, dann knapp drei Jahre in der HNO, und jetzt bin ich seit drei Wochen in der Neurologie.«

»Werden Sie – wollen Sie in die Krankenhausverwaltung einsteigen?«

»Nein, das ist nur übergangsweise. Eigentlich mache ich was anderes, ich spreche Norwegisch und übersetze für so ein Projekt in Oslo, das Norwegische Diaspora-Projekt.«

»Wow, interessant. Haben Sie norwegische Wurzeln?«

Ihr Vater war Norweger, und außerdem war sie nach Thorstein Bunde Veblen benannt worden, dem norwegisch-amerikanischen Ökonom, der antimaterialistische Ideale vertreten und ein so außergewöhnliches wie missverstandenes Leben geführt hatte. (Ein edler Nonkonformist. Ein kühner Feind der Institutionen und ihrer verknöcherten Denkstrukturen.) Das Diaspora-Projekt enthielt einen umfangreichen Ordner über Thorstein Veblen, der sich dank ihr immer weiter füllte.

»Außerdem tippe ich für mein Leben gern«, fügte sie hinzu. »Ich tippe einen Songtext, während ich ihn singe, so ungefähr.« Warum erzählte sie das? Es war nur ein Nebenschauplatz ihres Daseins.

»Sie sind also … mehr so der Tipp-Typ.«

»Ich betrachte mich eher als Herausgeberin.« Sie erklärte ihm, dass sie als leicht zwanghaftes Kind immer und überall ihre Schreibmaschine im Koffer mit sich herumgeschleppt hatte, eigentlich nie ohne sie unterwegs gewesen war und damit Nachbarn, Lehrer und Freunde besucht hatte. Was immer sie von sich gegeben hatten, ob Gedichte, Rezepte, Erinnerungen, Anekdoten oder irgendetwas anderes, sie hatte alles getippt, um ihnen anschließend einen Beleg ihres Bewusstseins zu überreichen. Eine reisende Schreiberin.

»Eine von diesen alten Handschreibmaschinen im Koffer?« Er sah sie fasziniert an. »War die nicht schwer?«

»Hab ich gar nicht gemerkt. Der Koffer war voller Aufkleber.«

»Wie ein Hippie-Gitarrenkoffer.«

»Ja, aber innen roch er, als wäre er tausend Jahre alt. Immer wenn ich ihn aufgemacht habe, fühlte ich mich in eine andere Welt versetzt.«

Damit hatte sie ihrem früheren Ich nun endgültig den Stempel »spinnerte Jugendliche« aufgedrückt. Aber trotzdem hatte sie das Gefühl, ihre Worte bedeuteten ihm etwas oder könnten ihm etwas bedeuten. Er stellte die üblichen Fragen, aber ohne die glatte Gewandtheit, die sie an Flirts so hasste. Er war nicht überfreundlich. Sie erfuhr, dass er Assistenzarzt am UCSF gewesen war und dann ein Stipendium für Stanford bekommen hatte, die klassischen Erfolgs-Marker, und jetzt hatte der Pharmariese Hutmacher Pharmaceuticals die Rechte an seiner Forschung und seinem Projekt erworben, ihn nach Washington eingeflogen und das Verteidigungsministerium mit ins Boot geholt. Im neuen Jahr würde er eine klinische Studie in der Veteranen-Klinik in Menlo Park leiten.

»Wow, das ist ja toll. Ist Dr. Chaudhry traurig, dass Sie gehen?« Ihre Begeisterung war vorgetäuscht.

»Im Grunde schon. Er ist echt in Ordnung. Etwas zu unflexibel, aber so tickt er nun mal.«

Sie glaubte, ihn zu verstehen, ordnete Chaudhrys frühere Bemerkungen in diesen Kontext ein. Paul war ein aufstrebender junger Wissenschaftler. Chaudhry harrte aus.

Paul sah gut aus mit seinem zerzausten Charme und dem wunderbaren Lächeln. Trotz seiner Erfolge hatte er das Auftreten eines Underdogs. Er wirkte traurig, nüchtern und auf jungenhafte Weise hoffnungsvoll, alles auf einmal. Ein Spatz stürzte sich auf ein paar Krümel.

»Müssen Sie zurück?«, fragte er.

»Wahrscheinlich schon.«

»Ich wandere gern in den Bergen«, sagte er. »Äh, hätten Sie vielleicht Lust mitzukommen, irgendwann mal?«

»Ja, klar.«

Paul bekam einen seltsamen Gesichtsausdruck und strich sich noch einmal das Haar glatt. »Wie wäre es am Samstag?«

Sie trafen sich am Samstag. Es stand jetzt mehr auf dem Spiel. Sie schlenderten betont lässig dahin, würdigten die tolle Aussicht vor ihnen nur gelegentlich eines kurzen Blickes und kickten Steine vor sich her. Sie steckten Hände in Taschen und stießen von Zeit zu Zeit gegeneinander. Mit jedem Schritt gingen Optionen über Bord. Beide erkannten eine Wesensverwandtschaft, aber keine, die sich leicht auf den Punkt bringen ließ. Vielleicht die ländliche Umgebung, in der sie aufgewachsen waren, und hier und da Spuren eines massiven Überhangs an familiärer Verrücktheit. Sie fand ihn von Sekunde zu Sekunde hinreißender.

Am Abend gingen sie zusammen essen.

Der erste Kuss kam nicht ganz unerwartet, vor seinem Wagen, im Mondlicht; herrliche lange Küsse vor ihrem Haus, das leichte Kratzen seines Barts, stürmische Ekstase und seine kühle Nasenspitze, die ihre Wangen streifte. Er roch nach Wacholderbeeren und warmer Wäsche.

»Wie du geguckt hast, als du ins Labor gekommen bist …«

Sie lachte. »Wie habe ich denn ausgesehen?«

»Du hast ein sehr ausdrucksvolles Gesicht, ein schönes Gesicht.«

Eines bereitete ihr Sorge. »Weißt du, mir ist schon klar, dass es wichtig ist, den Männern und Frauen bei der Army zu helfen, aber du quälst doch keine Tiere, oder?«

»Na ja, manchmal waterboarden wir unsere Nager heimlich. Es ist schwer, ihnen Wasser über die Schnäuzchen zu gießen, aber wie heißt es so schön: Wir haben unsere Mittel und Wege

Sie knuffte ihn in die Seite. »Sie haben Gefühle, genau wie wir. Wenn sie doch nur einen Dolmetscher hätten.«

Er sah sie eingehend an. »Danke für diesen Hinweis. Also was meinst du?«, sagte er und streichelte ihr Haar. »Soll ich mit reinkommen?«

War das zu schnell oder sollte sie einfach handeln? »Wir haben uns doch gerade erst kennengelernt – gestern.«

»Wir können ja Karten spielen.«

»Stimmt.«

»Oder auch nicht.«

»Oder auch nicht.«

Er küsste ihr Gesicht, ihre Augen. »Aber ich gehe.«

Es schien, als hätte sie sich schon jetzt ganz an ihn verloren. Sie wusste nicht, wann sie sich zuletzt so sehr gewünscht hatte, jemanden zu küssen. »Lass mal, ist schon okay.«

»Oh, wirklich?«

»Ja.«

»Wenn ich gehe?«

»Ja.«

»Du meinst, wenn ich bleibe.«

»Ja, wenn du bleibst.«

»Ah.«

»Na, dann komm.«

»Mach ich. Keine Sorge, das mach ich.«

Es war eine Nacht wie ein Wunder. Sie fühlte sich so stark zu ihm hingezogen, dass es beängstigend war; sie würde dieses Gefühl lenken müssen. Zum ersten Mal erzählte sie Albertine nicht alles, und auch ihrer Mutter nicht. Sie behielt es für sich, ein Meilenstein der Bedeutsamkeit. Währenddessen aalte sie sich in der Selbstverständlichkeit, mit der er das große Ganze einfach voraussetzte, sodass er sich die Frage, ob es mit ihnen weiterging oder nicht, offenbar gar nicht stellen musste. Durch seine Sicherheit konnte sie sich entspannen und bekam Raum, über ihre eigene verborgene Rastlosigkeit nachzudenken.

Wenn er Dinge sagte wie: Wir sind füreinander geschaffen oder Du bist perfekt für mich, fühlte sie sich angenommen wie nie zuvor und wagte es endlich, das verworrene Gefühlsknäuel zu inspizieren, das durch all das entstanden war, ohne die Angst, ihn zu verlieren.

2

Sauerkraut mit Muskat

Paul war doch nicht nur fürs Frühstück einkaufen gegangen.

Vom Fenster aus sah sie, wie er mühsam etwas aus dem Kofferraum hievte. Unter einem aufklarenden Himmel warf ein nagelneuer Gegenstand seinen Schatten auf den Weg, sargförmig und gut einen halben Meter lang.

»Um Gottes willen, eine Falle?«, fragte sie an der Tür.

»Ich bin fest entschlossen, sämtliche Plagegeister aus unserem Leben fernzuhalten«, verkündete er, und sie dachte unruhig an ihre Mutter.

»Und wenn wir unterschiedliche Ansichten haben, was ein Plagegeist ist?«

»Veb, ich habe letzte Nacht kein Auge zugemacht. Sei froh, dass es nicht so ein guillotinenartiges Ding ist.«

Auf der Verpackung hieß es kühn:

»Ich hasse das Wort Getier!«, sagte Veblen und verlagerte ihre negativen Gefühle auf ein unschuldiges Nomen.

Unbeirrt zeigte er auf das Kleingedruckte. »Sieh dir das an.«

Eichhörnchen können schwerwiegende Schäden an Dämmung und Mauerwerk von Dachböden verursachen sowie Elektrokabel in Gebäuden und Fahrzeugen anknabbern und damit Brandgefahr hervorrufen.

»Aber Paul, merkst du denn nicht, dass das nur Propaganda ist, die dich dazu bringen soll, das Ding zu kaufen?«

»Aber es stimmt.«

»Heute Morgen ist es ans Fenster gekommen – ich glaube, es will sich mit mir anfreunden«, sagte Veblen, als wäre das das Natürlichste der Welt.

»Du kannst andere Freundschaften schließen. Dieses Eichhörnchen ist keine Figur aus einem Kinderbuch. Echte Tiere laufen nicht mit Umhang und Feenhut durch die Gegend und schreiben Gedichte. Sie vergewaltigen einander und fressen ihre Jungen.«

»Paul, das ist wirklich eine übertrieben negative Sicht auf wild lebende Tiere.«

Unbeirrt nahm er den Holzstuhl neben ihrem Schreibtisch, trug ihn ins Bad und stellte ihn in die Wanne, dann stieg er darauf und schob die weiß lackierte Sperrholzplatte zur Seite, die die Dachbodenluke abdeckte. Sie gab ihm die Taschenlampe aus ihrem Nachttisch. Seine Oberschenkel spannten sich an wie die eines Kriegers. In ihrem Kopf ratterte ein eigenartiges kleines Rätsel los:

Er knackt Ratten, Eichhörnchen, Mäuse –

(Wer? Doch nicht etwa Paul?)

Löst ein Ri-Ra-Rätsel, knackt den Kopf wie ein Gehäuse

(Was? Das ist ja schrecklich!)

Knackt den Kopf und schlitzt den Bauch

(Oh nein, es ist Paul!)

Mein Vater musste dran glauben und ich vielleicht auch.

(Wie schrecklich! Experimentierte Paul etwa mit Eichhörnchen?)

»Da ist Nistmaterial in der Ecke«, rief er. »Lieber Himmel. Und auf den Balken Fell, wie’s aussieht!«

War das etwa der Stoff, aus dem die Ehe bestehen würde; zwei Menschen, die die Bühne für das verwirrende Spektakel des jeweils anderen freimachten, konfus und ein klein wenig ängstlich?

»Paul, wusstest du eigentlich, dass Thoreau in seinem Jahr am Walden Pond einen Großteil der Zeit damit verbracht hat, vollkommen versonnen Eichhörnchen zu beobachten?« Wenn selbst Thoreau Eichhörnchen mochte, was konnte Paul dann eigentlich gegen sie haben?

»Nein, wusste ich nicht.«

»Hab ich dir eigentlich schon von den größten Eichhörnchenwanderungen der Geschichte erzählt?« Sie hielt den Stuhl fest.

»Das musst du dir für diesen Moment aufgehoben haben.«

»Ja. Eichhörnchen gehören nämlich zu den ältesten Säugetieren der Welt!«, sagte sie eigenartig stolz. »In Nordamerika gibt es sie seit mindestens fünfzig Millionen Jahren. Echt lange, findest du nicht auch? Ich meine, wenn Leute damit prahlen, dass ihre Vorfahren 1620 mit der Mayflower gekommen sind, dann verdienen die Eichhörnchen auch ein wenig Respekt, findest du nicht?«