cover

Die schüchterne Greer Kadetsky ist noch nicht lange auf dem College, als sie der Frau begegnet, die ihr Leben für immer verändern soll: Faith Frank. Die charismatische Dreiundsechzigjährige gilt seit Jahrzehnten als Schlüsselgur der Frauenbewegung, und sie ist das, was Greer gerne wäre: unerschrocken, schlagfertig, kämpferisch. So sehr Greer ihren Freund Cory liebt und sich auf die gemeinsame Zukun freut, wird sie doch von einer Sehnsucht umgetrieben, die sie selbst kaum benennen kann. Durch die Begegnung mit Faith Frank bricht etwas in der jungen Frau auf, und sie stellt sich die entscheidenden Fragen: Wer bin ich, und wer will ich sein?

Jahre später, Greer hat den Abschluss hinter sich, geschieht, wovon sie nie zu träumen gewagt hätte: Faith lädt sie zu einem Vorstellungsgespräch nach New York ein − und führt Greer damit auf den abenteuerlichsten Weg ihres Lebens: einen verschlungenen, manchmal steinigen Weg, letztlich den Weg zu sich selbst.

 

Mal mit funkelndem Witz, mal tief berührend und stets mit großer Empathie erzählt Meg Wolitzer von Macht in all ihren Facetten, von Feminismus, Liebe und Loyalität und beweist sich als hellwache Beobachterin unserer Zeit.

 

»Meg Wolitzer ist eine der wenigen Schriftstellerinnen, denen es gelingt, den Zeitgeist perfekt einzufangen.«

THE MILLIONS

Autor

© Nina Subin

MEG WOLITZER, geboren 1959, veröffentlichte 1982 den ersten von zahlreichen preisgekrönten und erfolgreichen Romanen. Viele ihrer Bücher standen auf der New-York-Times-Bestsellerliste, zwei wurden verfilmt, ›Die Ehefrau‹ mit Glenn Close in der Hauptrolle. Bei DuMont erschienen der SPIEGEL-Bestseller ›Die Interessanten‹ (2014) sowie zuletzt die Romane ›Die Stellung‹ (2015) und ›Die Ehefrau‹ (2016). Meg Wolitzer ist verheiratet, hat zwei Söhne und lebt in New York City.

 

HENNING AHRENS, geboren 1964, lebt als Schriftsteller und Übersetzer in Frankfurt am Main. Zu den von ihm übersetzten Autoren zählen u. a. John Cowper Powys, Jonathan Safran Foer, Jonathan Coe und Hugo Hamilton.

Meg Wolitzer

Das weibliche
Prinzip

Roman

Aus dem Englischen
von Henning Ahrens

 

 

Ich widme dieses Buch:

 

Rosellen Brown

Nora Ephron

Mary Gordon

Barbara Grossman

Reine Kidder

Susan Kress

Hilma Wolitzer

Ilene Young

 

ohne die …

Teil eins

DIE STARKEN

Eins

Greer Kadetsky lernte Faith Frank im Oktober 2006 am Ryland College kennen. Faith war gekommen, um die Edmund and Wilhelmina Ryland Memorial Lecture zu halten, und obwohl die Kapelle an jenem Abend mit Studenten gut gefüllt war, von denen manche vor Fragen nur so übersprudelten, war Greer die Einzige, an der Faith ein Interesse zeigte. Diese Tatsache war ebenso eindeutig wie erstaunlich, denn Greer, eine Studienanfängerin an dieser Durchschnitts-Hochschule, war in mehrfacher Hinsicht verbissen schüchtern. Sie konnte Antworten geben, hatte aber ein Problem damit, Meinungen zu äußern. »Eigentlich verrückt, denn ich platze vor Meinungen. Ich bin wie eine mit Meinungen vollgestopfte Piñata«, hatte sie zu Cory gesagt, mit dem sie an jedem Abend skypte, seitdem sie das Studium getrennt hatte. Sie hatte von Anfang an Wissen und Bücher in sich aufgesogen, aber das Talent, frei von der Leber weg zu reden, war ihr nicht gegeben. In der Zeit vor dem College war das nicht weiter ins Gewicht gefallen, nun aber machte es sich bemerkbar.

Was also war es, das Faith Frank in ihr sah und an ihr mochte? Vielleicht eine latente Kühnheit, angedeutet durch die eisblaue Strähne, die sich auf einer Seite durch ihre nussbraunen Haare zog, dachte Greer. Andererseits ließen sich viele Studentinnen Strähnchen in den Bonbonfarben der Zuckerwatte und der eiskalten Leckereien färben, wie man sie auf einem ländlichen Rummel bekam. Vielleicht hatte die dreiundsechzigjährige, einflussreiche und durchaus berühmte Faith, die seit Jahrzehnten durch das Land reiste und flammende Vorträge über die Situation der Frauen hielt, auch Mitleid mit der sprachlosen, knallroten achtzehnjährigen Greer. Eine dritte Erklärung lautete, dass Faith automatisch offen und zugewandt war, wenn sie jungen Menschen begegnete, die sich an der Welt rieben.

Unterm Strich konnte sich Greer das Interesse von Faith nicht schlüssig erklären. Aber sie begriff irgendwann, dass die Begegnung mit Faith Frank der aufregende Anfang von allem gewesen war. Das bittere Ende lag noch in sehr weiter Ferne.

Greer war seit sieben Wochen am College, als Faith kam. Den größten Teil dieser Zeit, dieser zermürbenden Anfangsphase, hatte sie damit verbracht, sich in ihrem Unglück zu suhlen, es regelrecht zu kultivieren. An ihrem ersten Freitag in Ryland rollte abends ein Dröhnen wie das eines tief im Wohnheim verborgenen Generators durch die Flure, das Geräusch des sich formierenden sozialen Lebens. Die Anfänger des Abschlussjahrgangs 2010 begannen ihr Studium in einer Zeit, in der das gemeinsame Lernen von Frauen und Männern etwas ganz Natürliches zu sein schien – eine Zeit weiblicher Fußballstars, eine Zeit, in der man die Kondome selbstbewusst in einem Fach der Handtasche verstaute, wo sich die Ringform dann wie eine Grabstein-Frottage durch die Hülle abzeichnete. Greer, die nicht ausgehen wollte, sondern beschlossen hatte, in ihrem Zimmer die Kafka-Lektüre für das Anfänger-Kolloquium fortzusetzen, sah zu, wie sich die Bewohner der dritten Etage von Woolley Hall auf die abendliche Sause vorbereiteten. Sie beobachtete die Mädchen, die mit zur Seite geneigtem Kopf und angewinkelten Armen ihre Ohrringe anlegten, und Jungs, die sich in ein Deo namens Stadium einnebelten, das halb aus Kiefernharz und halb aus Steaksoße zu bestehen schien. Dann flohen alle wie im Rausch aus dem Wohnheim, verstreuten sich auf dem Campus, begaben sich zu diversen schummerigen Partys, alle untermalt von dem gleichen markerschütternden Bass.

Woolley, eines der ursprünglichen College-Gebäude, war alt und marode, und die Wände von Greers Zimmer – so hatte sie es Cory an ihrem allerersten Tag beschrieben – hatten die verstörende Farbe von Hörgeräten. Wer nach dem abendlichen Exodus im Wohnheim blieb, gehörte zu einer Schar verlorener, einsamer Seelen. Da gab es einen todtraurig wirkenden jungen Iraner, dessen Wimpern zu feuchten Strahlenkränzen verklebt waren. Er saß im Gemeinschaftsraum des ersten Stocks auf einem Stuhl, im Schoß einen Computer, den er betrübt anstarrte. Als Greer den Gemeinschaftsraum betrat – ihre Bude, eines der seltenen Einzelzimmer, war zu trist, um den ganzen Abend dort zu verbringen, und sie hatte sich nicht auf ihre Lektüre konzentrieren können –, bemerkte sie zu ihrer Verblüffung, dass er das Motiv des Bildschirmschoners betrachtete, ein Foto seiner Eltern und seiner Schwester, die ihn aus weiter Ferne anlächelten. Das Familienfoto glitt über den Bildschirm, verschwand auf einer Seite, tauchte auf der anderen wieder auf.

Greer fragte sich, wie lange er seine hin und her gleitende Familie noch betrachten wollte, und obwohl sie ihre Eltern keine Sekunde lang vermisste – sie war immer noch wütend, weil sie Schuld daran hatten, dass sie in Ryland gestrandet war –, tat ihr der Junge leid. Er war weit weg von zu Hause, befand sich auf einem anderen Kontinent und dort an einem Ort, der ihm vermutlich als erstklassiges amerikanisches College empfohlen worden war, als Hort des Lernens und der Erkenntnis, als eine Schule von Athen, an die Ostküste der Vereinigten Staaten geschmiegt. Nachdem er das schwierige Kunststück vollbracht hatte, an das Ryland zu kommen, war er mutterseelenallein und begriff allmählich, dass dieses College keineswegs so erstklassig war wie behauptet. Außerdem sehnte er sich nach seiner Familie. Greer wusste, wie das war, denn sie vermisste Cory so oft und so tief, dass sie von ihrer Sehnsucht geschüttelt wurde wie von einem inneren Bass, und Cory war ja nur in Princeton, hundertzehn Meilen entfernt, und nicht am anderen Ende der Welt.

Greers Mitgefühl vertiefte sich weiter, da trat ein kreidebleiches Mädchen in die Tür des Gemeinschaftsraums, das seinen Bauch umklammert hielt und fragte: »Hat einer von euch etwas gegen Durchfall?«

»Nein, tut mir leid«, sagte Greer, und der Junge schüttelte nur den Kopf.

Das Mädchen nahm ihre Antworten mit grimmiger Erschöpfung zur Kenntnis und setzte sich, auch weil es nichts Besseres zu tun hatte. Ein köstlicher Duft nach Butter und 2-tert-Butylhydrochinon durchdrang die porösen Wände, konnte die Anwesenden aber leider auch nicht aufheitern. Kurz darauf folgte die Duftquelle, eine große Plastikschale mit Popcorn, getragen von einem Mädchen in Bademantel und Hausschuhen. »Ist das gleiche Popcorn wie im Kino«, verkündete es wie als zusätzlichen Anreiz und bot ihnen die Schale an.

Das sind wohl meine Leute, dachte Greer, heute Abend und vielleicht an jedem Wochenende. Es war bizarr; sie fühlte sich fremd unter ihnen, saß aber mit ihnen zusammen und gehörte dazu, nahm also eine Handvoll Popcorn. Dieses war so feucht, dass sie das Gefühl hatte, ihre Hand durch Suppe gezogen zu haben. Greer überlegte, sich zu setzen und ein Gespräch zu beginnen; sie könnten einander ihr Leid klagen. Sie würde in diesem Gemeinschaftsraum bleiben, obwohl sie von Cory dazu ermutigt worden war, nicht in der Bude zu hocken, sondern zu einer Party oder einer anderen Veranstaltung auf dem Campus zu gehen. »Irgendetwas läuft heute Abend bestimmt«, hatte er gesagt. »Vielleicht spontan. Gibt immer etwas Spontanes.« Es war ihr erstes Wochenende am College, und er schlug vor, sie solle es einfach mal austesten.

Aber sie hatte sich gesträubt, wollte nichts austesten, sondern den Abend lieber auf ihre Art verbringen. An den Wochentagen wäre sie dann die mustergültige Studentin, in einer Lesenische der Bibliothek büffelnd, über ein Buch gebeugt wie ein Juwelier mit Lupe über ein Schmuckstück. Bücher waren ein Antidepressivum, ein wirksamer Serotonin-Wiederaufnahmehemmer. Sie war von Anfang an eines jener Mädchen gewesen, die so hochkonzentriert dasaßen, als hätte man sie unter Drogen gesetzt, den Mund leicht geöffnet, die in Strümpfen steckenden Füße unter den Po gezogen. Alle gedruckten Wörter tanzten einen Reigen für sie, erschufen Bilderfolgen, die so deutlich waren wie das hin und her huschende Foto der Familie des jungen Iraners. Sie hatte schon vor dem Kindergarten Lesen gelernt, denn damals war der Verdacht, dass sich ihre Eltern nicht für sie interessierten, zum ersten Mal in ihr aufgekeimt. Danach hatte sie einfach weitergemacht, hatte sich durch die Kinderbücher mit den vorhersehbaren Anthropomorphismen gewühlt, war dann zu der ebenso schönen wie befremdlichen Förmlichkeit des neunzehnten Jahrhunderts vorgestoßen, hatte sich in Vor- und Rückschritten zu den Geschichten über blutige Kriege, zu Diskussionen über Gott und Gottlosigkeit vorgearbeitet. Was sie am stärksten berührte, teils mit fast körperlich spürbarer Wirkung, waren Romane. Greer hatte Anna Karenina in einem einzigen langen Rutsch verschlungen, danach übermüdete und gerötete Augen gehabt und mit einem Waschlappen auf dem Gesicht im Bett liegen müssen, als wäre sie selbst die Heldin eines historischen Romans. Romane waren während der Kindheit, dieser langen Abschottungsphase, ihre Begleiter gewesen, und sie würden es wohl auch während des Erwachsenendaseins sein, was immer dieses für sie bereithalten mochte. Und ganz egal, wie furchtbar Ryland war, sie würde hier ganz sicher lesen, denn es war ein College, und hier las man, das war der Job.

Heute Abend hatten die Bücher aber keinen Reiz und blieben deshalb liegen. Heute Abend gab es nur die Wahl, auf eine Party zu gehen oder ohne Buch im tristen Gemeinschaftsraum eines Wohnheims zu hocken, als wollte sie sich bestrafen. Sie wusste, dass Verbitterung Energie freizusetzen vermochte. Diese hatte im Gegensatz zu purem Elend einen Geschmack. Wenn sie ihre Verbitterung zeigte, dann nur sich selbst. Ihre Eltern würden sie nicht bemerken, nicht mal Cory Pinto, unten in Princeton, bekäme etwas davon mit. Sie war gemeinsam mit Cory aufgewachsen, und seit dem letzten Jahr waren sie verliebt und unzertrennlich; und obwohl sie geschworen hatten, während der vier College-Jahre regelmäßig zu skypen – neuerdings konnten sie einander dabei sogar sehen – und Autos zu leihen, um sich mindestens einmal im Monat wechselweise zu besuchen, führten sie jetzt getrennte Leben. Er trug einen schicken Pullover, weil er zu einer Party wollte. Sie hatte vorhin beobachtet, wie sich seine Skype-Version dicht an die Webcam geschoben hatte, ganz Poren, Nasenlöcher und Steilwand der Stirn.

»Du solltest dich amüsieren«, hatte er leicht stotternd gesagt, weil die Verbindung nicht ganz stabil war. Danach hatte er sich umgedreht und einen Finger in die Richtung seines für die Kamera unsichtbaren Mitbewohners John Steers gehoben, als wollte er diesem sagen: Zwei Sekunden, ich muss das hier noch klären.

Greer hatte das Gespräch rasch beendet, weil sie nicht als »das« wahrgenommen werden wollte – als jemand, mit dem Cory etwas klären musste, als die Klette in der Beziehung. Nun saß sie im Gemeinschaftsraum des Woolley-Wohnheims, senkte ihre Hand in das Popcorn, hob sie wieder zum Mund, ließ den Blick über die Poster gleiten: Anleitung für den Heimlich-Handgriff, Aufrufe zum Vorspielen bei Indie-Bands, Werbung für ein Picknick der Christlichen Studenten in West Quad, ob bei Regen oder Sonnenschein, egal. Ein Mädchen ging im Flur vorbei und blieb in der Tür stehen – später gab es zu, dies eher aus Nettigkeit denn aus Interesse getan zu haben. Es ähnelte einem schlanken, sexy Jungen, hatte eine makellose Figur und eine Johanna-von-Orléans-Ästhetik, die man sofort als lesbisch einstufte. Das Mädchen betrachtete den hellen Raum mit den verlorenen Seelen, legte die Stirn in Falten und verkündete: »Ich checke ein paar Partys aus. Will jemand mitkommen?«

Der Junge schüttelte den Kopf und widmete sich wieder dem Foto auf seinem Bildschirm. Das Mädchen mit dem Popcorn futterte einfach weiter, und das Mädchen mit Durchfall hing am Handy und erörterte mit jemandem, ob es zur Krankenstation gehen solle. »Positiv wäre, dass man mir dort helfen könnte«, sagte es, »aber negativ ist, dass ich keinen blassen Schimmer habe, wo sie sich befindet.« Schweigen. »Nein, ich kann den Sicherheitsdienst nicht rufen und darum bitten, dass man mich dorthin begleitet.« Nochmaliges Schweigen. »Außerdem glaube ich, dass es einfach die Nerven sind.«

Greer sah das jungenhafte Mädchen an und nickte, und das Mädchen erwiderte ihr Nicken und klappte den Jackenkragen hoch. Im dämmerigen Flur stemmten sie die schwere Brandschutztür auf. Erst als draußen der Wind am dünnen Stoff ihrer Bluse zerrte, wurde Greer bewusst, dass sie keinen Pullover trug. Trotzdem wollte sie die Sache nicht verderben, indem sie darum bat, noch schnell in den dritten Stock flitzen zu dürfen, um ihren Pullover zu holen.

»Ich will ein paar Partys austesten«, sagte das Mädchen, das sich als Zee Eisenstat aus Scarsdale, New York, vorstellte. »Könnte die Laborküche für das College-Leben sein.«

»Genau«, meinte Greer, als hätte ihr das Mädchen aus der Seele gesprochen.

Zee ging zielstrebig zum Spanish House, einem frei stehenden, mit Schindeln verkleideten Gebäude am Rand des Campus. Als sie eintraten, begrüßte sie ein Junge mit den Worten »Buenas noches, señoritas« und reichte ihnen jeweils ein Glas. Er nannte den Inhalt »Pseudo-Sangria«, aber Greer diskutierte bald darauf mit einer anderen Hausbewohnerin darüber, ob diese Pseudo-Sangria vielleicht doch nicht so ganz pseudo sei.

»Licor secreto?«, fragte Greer leise, und das Mädchen sah sie scharf an und antwortete: »Inteligente.«

Inteligente. Jahrelang hatte es gereicht, die Intelligente zu sein. Anfangs hatte das bedeutet, alle Fragen der Lehrer beantworten zu können. Die ganze Welt schien auf Fakten zu basieren, für Greer eine Erleichterung, weil sie Fakten genauso mühelos hervorzaubern konnte wie ein Magier Münzen hinter welchem Ohr auch immer. Sie hatte die Fakten im Kopf, sprach sie einfach aus und galt deshalb rasch als Klassenbeste.

Später wurde es viel schwerer, denn es ging nicht mehr nur um Fakten. Sich zu offenbaren – ihre Meinungen, ihre Essenz, die besondere Substanz, die in ihrem Inneren brodelte und sie zu der Person machte, die sie war – fand Greer sowohl mühsam als auch beängstigend, und genau daran dachte sie, während sie mit Zee zum nächsten Ziel stapfte, dem Lamb Art Studio. Woher Zee, ebenfalls Studienanfängerin, von diesen Partys wusste, blieb unklar; im Ryland Weekly Blast waren sie jedenfalls nicht erwähnt worden.

Im Atelier roch es beißend nach Terpentin, offenbar so etwas wie ein Aphrodisiakum, denn die Kunststudenten, allesamt Oberschichtgewächse, schienen einander unfassbar attraktiv zu finden. Sie tummelten sich zu zweit oder zu dritt, waren alle hager, trugen mit Farbe bekleckerte Hosen und Ohrstecker und hatten ungewöhnlich leuchtende Augen. Ein Mädchen, das mitten auf dem hellen Holzfußboden von einem Typen auf den Schultern getragen wurde, kreischte: »LASS DAS, BENNETT, ICH FALLE NOCH RUNTER UND BIN TOT, UND DANN SCHLEIFEN DICH MEINE ELTERN AN DEINEM MALERARSCH VOR GERICHT!« Er – Bennett – torkelte mit der jungen Frau im Kreis herum, denn er war noch jung und kräftig genug, um sie tragen zu können, und sie war noch leicht genug, um getragen werden zu können.

Die Kunststudenten waren ein ebenso verschworener wie exklusiver Haufen. Es war in etwa so, als wären Greer und Zee auf einer Waldlichtung auf eine Subkultur gestoßen. Man faselte ständig von der »männlichen Sichtweise«, und es dauerte eine Weile, bis Greer begriff, was gemeint war. Sie huschten nach kurzer Zeit wieder hinaus und standen kaum draußen, als eine andere Studienanfängerin zielstrebig auf sie zukam und sich ihnen anschloss. Sie stellte sich als Chloe Shanahan vor und schien es mit ihren Stilettos, der Hollister-Jeans und den zig Armreifen, die sich zu einer Slinky-Spirale summierten, auf einen bestimmten Shopping-Mall-Schick anzulegen. Sie habe sich aus Versehen in das Atelier verirrt, erzählte sie, eigentlich suche sie die Theta Gamma Psi.

»Eine Verbindung?«, fragte Zee. »Echt? Die sind doch ätzend.«

Chloe zuckte mit den Schultern. »Sie haben angeblich laute Musik und ein Bierfass, und mehr brauche ich heute Abend nicht.«

Zee schaute Greer an. Hatte sie wirklich Lust auf die Party einer Verbindung? Greer hätte etwas anderes bevorzugt, wollte aber nicht allein sein, also hatte sie vielleicht Lust darauf. Sie stellte sich vor, dass Cory jetzt auf einer Party war und, an eine Wand gelehnt, über irgendetwas lachte. Sie malte sich die Leute aus, die zu ihm aufsahen – er überragte alle, egal, wo er war – und sein Lachen erwiderten.

Greer, Zee und Chloe bildeten ein schräges Trio, aber nach allem, was Greer wusste, war das typisch für die erste Zeit am College. Menschen, die keine Gemeinsamkeiten hatten, gingen vorübergehend ein so inniges Bündnis ein wie Jury-Angehörige oder Überlebende eines Flugzeugabsturzes. Chloe führte sie durch West Quad, dann schlugen sie einen Bogen um die Festung der Metzger-Bibliothek, hell erleuchtet und so gähnend leer wie ein rund um die Uhr geöffneter Supermarkt in tiefster Nacht.

Die Website des Ryland zeigte pflichtgemäß ein paar Fotos von Studenten mit Schutzbrille, die in einem Labor mit dem Brenner hantierten oder mit rauchendem Kopf vor einer weißen Tafel voller Berechnungen saßen, aber alles andere waren gesellige, gemütliche Szenen: Schlittschuhlaufen auf einem Teich, eine klassisch lauschige Aufnahme, die plaudernde Studenten unter einer ausladenden Eiche zeigte. Tatsächlich gab es auf dem gesamten Campus nur einen einzigen Baum dieser Art, der bis zum Überdruss abfotografiert worden war. Dann wieder Studenten, die tagsüber auf einem der Wege des nicht gerade schicken Campus zum Unterricht trabten, teils noch im Pyjama wie Angehörige einer gutmütigen Bärenfamilie aus einem Kinderbuch.

Gegen Abend begann jedoch das wahre College-Leben. Und heute Abend war ihr Ziel das große, marode Haus einer Verbindung, das durch den Krach in seinen Grundfesten erschüttert wurde. Im College-Katalog bezeichnete man dies als »griechische Lebensart«. Greer stellte sich vor, Cory später zu simsen: »Griechische Lebensart: Hä? Aristoteles? Baklava? Nix da.« Aber die spitzen Bemerkungen, mit denen sie sich gern amüsierten, waren jetzt fehl am Platz, denn Cory war nicht da, nicht einmal in der Nähe. Stattdessen ging sie mit diesen zwei Zufallsbekanntschaften durch eine breite Tür, strebte auf die ekelhaften und reizvollen Gerüche und – ebenso unbeabsichtigt wie unausweichlich – auf Faith Frank zu.

Der Drink des Abends hieß hier Ryland Fling, war blassrosa wie Brausepulver-Gesöff und entfaltete schon nach dem ersten Schluck eine sowohl entspannende als auch sinnestrübende Wirkung, zumal auf Greer, die fünfundfünzig Kilo wog und abends am Büfett nur ein paar armselige Ameisenhäufchen Salat gegessen hatte. Eigentlich zog sie es vor, klar im Kopf zu sein, wusste aber, dass ein klarer Kopf an diesem Abend nur ihr altes Unglücksgefühl geweckt hätte. Also leerte sie die Plastiktasse mit dem ersten zuckersüßen Ryland Fling bis auf den Grund und stellte sich für einen neuen an. Der Drink war heftig, aber sie hatte ja schon im Spanish House etwas getrunken.

Bald darauf tanzte sie mit den anderen zwei Mädchen im Kreis, als sollten sie einen Scheich ergötzen. Zee war eine ausgezeichnete Tänzerin, schwang die Hüften und ließ die Schultern spielen, bewegte den restlichen Körper aber auf geübt minimalistische Art. Die neben ihr tanzende Chloe malte mit den Händen Formen in die Luft und ließ ihre inflationär vielen Armreife klimpern. Greer tanzte nach Lust und Laune und untypisch enthemmt. Als sie nicht mehr konnten, sackten sie auf ein voluminöses schwarzes Ledersofa, das irgendwie nach Bratfisch roch. Greer wollte die Augen schließen, da begann ein nerviger Hip-Hop-Song von Pugnayshus.

Tell me why you wanna rag on me

When I’m in a state of perpetual agony …

»Ich liebe diesen Song«, sagte Chloe, gerade als Greer zu den Worten ansetzte: »Ich hasse diesen Song.« Sie bremste sich, um Chloes Geschmack nicht in Zweifel zu ziehen. Dann stimmte Chloe ein. »… perpetual a-go-ny …«, sang sie so sanft und mild wie der Engel eines himmlischen Chores.

Über ihnen stolzierte Darren Tinzler die herrschaftlich breite Treppe hinunter. Sie wussten zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass es Darren Tinzler war, er hatte noch keine Bedeutung für sie, war nur ein Verbindungs-Student, der auf dem Treppenabsatz vor dem violetten Bleiglasfenster stand, mit breiter Brust, in die Stirn fallenden Haaren und einer umgedreht aufgesetzten Baseballkappe über weit auseinanderliegenden Augen. Er ließ seinen Blick durch den Raum gleiten, überlegte kurz und marschierte dann zu den drei Mädchen, dieser hochkonzentrierten Weiblichkeit. Sobald er vor ihnen stand, wollte sich Chloe aus den Tiefen des Sofas erheben wie eine kleine Meerjungfrau vom Grund des Ozeans, scheiterte aber kläglich. Als er seine Aufmerksamkeit danach skeptisch auf Zee richtete, schloss diese die Augen und hob eine Hand, als würde sie eine Tür vor seiner Nase schließen.

Blieb Greer, die natürlich auch nicht frei war. Sie und Cory waren ein Herz und eine Seele, aber sie wusste, dass sie selbst als Single zu weich und zu beflissen für einen Typen wie diesen gewesen wäre; andererseits strahlte sie einen speziellen flughörnchenhaften Reiz aus, kompakt, klein und entschlossen, wie sie war. Ihre dunklen Haare waren glatt und glänzend; die Strähne hatte sie als Elftklässlerin mit einem Tönungs-Set aus der Drogerie gefärbt. Sie hatte Waschbecken, Läufer und Duschvorhang komplett mit Blau eingesaut, sodass das Bad am Ende dem Set eines außerirdischen Slasher-Films geglichen hatte.

Die Strähne war als vorübergehender Blickfang gedacht gewesen, aber Cory, den sie im letzten Schuljahr überraschend erobert hatte, strich gern über diesen ungewöhnlichen Farbtupfer, und deshalb hatte sie ihn behalten. In der ersten Zeit, wenn er sie lange betrachtet hatte, hatte sie oft instinktiv den Kopf gesenkt und zur Seite geblickt. Irgendwann hatte er gesagt: »Nicht wegschauen. Sieh mich wieder an. Sieh mich an.«

Darren Tinzler drehte jetzt die Kappe um und tippte gegen den Schirm, als wäre es eine Zylinderkrempe. Und Greer, nach den hochprozentigen Ryland Flings gefährlich entspannt, stand auf, tat so, als würde sie wie bei einem Knicks den Rock lüpfen, und verbeugte sich. »Was für ein vornehmer Anlass«, murmelte sie zu sich selbst.

»Hä?«, erwiderte Darren. »Du bist total dicht, Blausträhnchen.«

»Nein, stimmt nicht. Ich bin total offen.«

Er betrachtete sie neugierig, führte sie dann in eine Ecke, wo sie ihre Drinks auf einem wackeligen Stapel abgenutzter, längst vergessener Brettspiele abstellten – Seeschlacht, Risiko, Star Wars Trivial Pursuit, Full House Trivial Pursuit.

»Sind die im Jahr 1987 vor der großen Verbindungshaus-Flut gerettet worden?«, fragte sie.

Er starrte sie an. »Was?«, sagte er schließlich fast verärgert.

»Nichts.«

Sie erzählte, dass sie im Woolley wohne, und er meinte: »Ich fühle mit dir. Ist echt deprimierend.«

»Ja, absolut«, erwiderte sie. »Und die Wände haben die Farbe von Hörgeräten, stimmt’s?« Cory hatte über diese Bemerkung gelacht und gesagt: »Ich liebe dich.« Darren schaute sie noch einmal irritiert an. Sogar angewidert, wie sie meinte. Aber dann lächelte er wieder, sie schien sich also getäuscht zu haben. Der Mensch hatte so viele Gesichter, und sie folgten aufeinander wie bei einer rasanten Diashow, eines nach dem anderen.

»Ist alles nicht so toll gelaufen«, vertraute sie ihm an. »Ich bin eigentlich falsch in Ryland. Ist ein gigantischer Irrtum, aber geschehen ist geschehen, und ich kann nichts mehr daran ändern.«

»Echt?«, fragte er. »Du solltest auf ein anderes College?«

»Ja. Auf ein viel besseres.«

»Ach, wirklich? Und welches?«

»Yale.«

Er lachte. »Das ist mal ein guter Witz.«

»Das stimmt«, sagte sie. Und fügte einigermaßen entrüstet hinzu: »Ich hatte einen Platz.«

»Na klar.«

»Doch. Hat aber nicht geklappt. Ist zu kompliziert, um es jetzt zu erklären. Und da bin ich nun.«

»Tja, da bist du nun«, sagte Darren Tinzler. Er rieb ihren Hemdkragen zwischen zwei Fingern, eine Übergriffigkeit, die sie verblüffte und ratlos machte. Mit der anderen Hand strich er forschend über ihre Bluse, und die schockierte Greer stand wie erstarrt da, während er die Wölbung einer Brust ertastete und die Hand darum schloss, ihr dabei in die Augen sah, ohne mit der Wimper zu zucken, einfach nur schaute.

Sie wich zurück und sagte: »Was machst du da?«

Doch er ließ nicht los, sondern drückte ihre Brust hart und schmerzhaft zusammen, verdrehte das Fleisch. Als sie sich endgültig löste, packte er sie beim Handgelenk, riss sie zu sich heran und sagte: »Was glaubst du, was ich da tue? Du stehst hier und machst mich mit diesem Scheiß über deinen Platz in Yale an.«

»Lass los«, sagte sie, doch er hörte nicht auf sie.

»Hier fickt dich keiner außer mir, Blausträhnchen«, fuhr er fort. »Und wenn nur aus Mitleid. Du würdest mir doch auf Knien danken, wenn ich zwei Minuten in dir wäre. Na, komm schon. So sexy bist du nun auch wieder nicht.«

Danach ließ er ihre Hand los und stieß sie weg, als wäre sie die Aggressive gewesen. Während sich dies abspielte, war Greer die Hitze ins Gesicht gestiegen, ihr Mund war wie ausgedörrt. Sie saß schon wieder in der Falle der Unfähigkeit, ihre Gefühle ausdrücken zu können. Der Raum fraß sie auf – der Raum und die Party und das College und der Abend.

Der Vorfall schien nicht bemerkt worden zu sein, jedenfalls niemanden zu überraschen. Die Szene hatte sich vor aller Augen abgespielt: Ein Typ griff einem Mädchen an die Brust, quetschte diese zusammen, stieß es dann weg. Greer war so unsichtbar wie der auf dem Gemälde von Bruegel abstürzende Ikarus, ein Bild, das sie am allerersten Tag behandelt hatten. Dies war ein College, und dies war eine College-Party. Man spielte Hefte den Schwanz an den Esel, und mehrere Leute intonierten monoton: »Los, Kyla, los, Kyla«, während ein Mädchen mit verbundenen Augen und einem Papierschwanz in der Hand ein paar torkelnde Babyschritte tat. In einer anderen Ecke des Raumes kotzte ein Junge lautlos in einen Porkpie-Hut. Greer überlegte, zur Krankenstation zu laufen, da läge sie vielleicht neben dem Mädchen aus dem Woolley, das sich wegen seines Durchfalls dorthin begeben hatte. Der Auftakt am College stand für beide unter keinem guten Stern.

Greer musste allerdings nicht dorthin; aber sie musste dieses Haus verlassen. Sie hörte Darrens leises, meckerndes Lachen, während sie sich durch die Menge schob, die Veranda mit der knarrenden Hollywoodschaukel betrat, auf der ein eng umschlungenes Paar lag, und dann auf den Rasen des Colleges eilte, dessen Boden noch sommerlich federte, am Rand aber langsam mürbe wurde.

So war sie noch nie angefasst worden, dachte sie, als sie zu einem unsicheren Eilmarsch über den Campus ansetzte. In dieser dunklen, unwirtlichen Nacht, ganz allein in einer neuen Umgebung, versuchte sie, den Vorfall zu verdauen. Jungs und Männer hatten sie natürlich oft mit groben oder anzüglichen Bemerkungen bedacht, das passierte allen Mädchen, das geschah überall. Als Elfjährige war Greer von den Bikern, die am KwikStop in Macopee abhingen, angemacht worden. Sie war an einem Sommertag dorthin gegangen, in Shorts und einem kurzen, ärmellosen Top, um ihr Lieblingseis zu kaufen, einen Klondike Choco Taco, und bei der Gelegenheit war ihr ein Mann mit ZZ-Top-Bart auf die Pelle gerückt, hatte sie von Kopf bis Fuß gemustert und dann sein Urteil verkündet: »Du hast ja gar nichts im Hemd, Süße.«

Greer hatte sich gegen ZZ Top nicht wehren, nichts Scharfes erwidern, den Mann nicht in seine Schranken weisen oder anbrüllen können. Sie hatte stumm dagestanden, wehrlos und unfrech. Sie gehörte nicht zu diesen angeblich allgegenwärtigen Mädchen, in bestimmten Filmen und Büchern »Spitfires«, später auch »Kickass« genannt, die trotzig die Hände in die Hüften stemmten.

Solche Mädchen gab es bis heute am College, sie strotzten vor rotzfrechem Selbstvertrauen, waren sich ihrer Stellung in der Welt gewiss. Mit unverhohlenem Sexismus oder noch platteren Vorurteilen konfrontiert, stauchten sie ihr Gegenüber zusammen oder verdrehten einfach die Augen und taten so, als wäre es unter ihrer Würde, diesen Schwachsinn zur Kenntnis zu nehmen. Sie vergeudeten keinen Gedanken an jemanden wie Darren Tinzler.

Inzwischen liefen Studenten, die abflauende Partys verlassen hatten oder zu kleineren unterwegs waren, die erst jetzt begannen, über die Rasenfläche. Es war tiefste Nacht, die Temperatur war weiter gefallen, und Greer, die keinen Pullover trug, bibberte. Wieder im Woolley, fand sie das Mädchen mit dem Popcorn schlafend im Gemeinschaftsraum vor, im Arm die große Plastikschale mit ein paar Maiskörnern, die nicht aufgegangen waren und an versprengte Marienkäfer erinnerten.

»Jemand hat etwas mit mir gemacht«, erzählte Greer dem schlafenden Mädchen im Flüsterton.

Während der nächsten Tage wiederholte sie diversen wachen Menschen gegenüber eine Abwandlung dieses Satzes, anfangs, weil sie der Vorfall so aufregte, später, weil sie ihn als extrem beleidigend empfand. »Er glaubt offenbar, sich alles erlauben zu können«, sagte Greer am Telefon mit wütendem Erstaunen zu Cory. »Wie ich mich dabei fühlte, war ihm egal. Er hat allen Ernstes geglaubt, sich das herausnehmen zu dürfen.«

»Ich wünschte, ich wäre bei dir«, erwiderte Cory.

Zee fand, Greer solle den Vorfall melden. »Die Verwaltung muss das erfahren. Das ist sexuelle Belästigung, ganz klar.«

»Ich hatte getrunken«, meinte Greer. »Das spielt wohl auch eine Rolle.«

»Ja, und? Noch ein Grund mehr, dich nicht zu belästigen.« Als Greer schwieg, sagte Zee: »Mensch, Greer, das darf man nicht einfach so schlucken. Das war ein Unding.«

»Vielleicht ist das typisch für Ryland. In Princeton würde so was nicht passieren. Glaube ich.«

»Willst du mich verarschen? Das ist doch Quatsch.«

Zee war offen und überzeugt politisch. In jungen Jahren hatte sie sich für den Tierschutz engagiert, dann war sie Vegetarierin geworden. Mit der Zeit hatte sich ihr Mitgefühl für Tiere auf Menschen ausgeweitet, und sie hatte Frauenrechte, die Rechte sexueller Minderheiten, Kriege und die dadurch ausgelösten Flüchtlingsströme auf ihre Agenda gesetzt und am Ende auch noch den Klimawandel, weil dieser die Schreckensvision einer Zukunft heraufbeschwor, in der sowohl Tiere als auch Menschen bedroht wären, um Atem rängen, keine Chance mehr hätten.

Greer hatte noch kein politisches Bewusstsein entwickelt, und die Vorstellung, eine Beschwerde einzureichen, mit einem Klemmbrett im Schoß ganz allein in Dean Harkvays Büro in der Masterson Hall zu sitzen und mit ihrer Braves-Mädchen-Handschrift einen Bericht über Darren Tinzler zu verfassen, sorgte für Unbehagen und Widerwillen. Ihre Buchstaben, immer noch rund, aufgebläht und kindlich, würden in einem krassen Gegensatz zu dem Inhalt der Beschwerde stehen. Würde man sie überhaupt ernst nehmen?

Greer fiel ein, dass die Namen der Opfer nie genannt wurden, wenn man über sexuelle Übergriffe berichtete. Die Vorstellung, dass jemandem etwas angetan worden war, schien auch das Opfer zu kompromittieren. Obwohl das niemand offen sagte, schien dessen Körper – für gewöhnlich im Dunkeln unter den Kleidern verborgen – plötzlich in ein grelles Licht zu tauchen. Wenn die Leute wüssten, was einem passiert war, wäre man bis an sein Lebensende eine Person mit einem Körper, der Opfer eines Übergriffs, von Gewalt geworden war. Außerdem wäre man bis an sein Lebensende eine Person mit einem Körper, der allen lebhaft vor Augen stünde. Damit verglichen war das, was sie erlebt hatte, nur Kleinkram. Und dann dachte Greer an ihre Brüste, die auch so beschrieben werden konnten: Kleinkram. Das war die Summe dessen, was sie war.

»Ich weiß nicht«, sagte Greer zu Zee und spürte, wie sie von einer vertrauten Schwammigkeit erfüllt wurde. Sie benutzte manchmal die Worte »Ich weiß nicht«, auch wenn diese nicht zutrafen, denn es war bequemer, schwammig zu bleiben, als konkret zu werden.

Je mehr Zeit verstrich, desto unwirklicher wurde der Vorfall mit Darren Tinzler, und am Ende war er nur noch eine Anekdote, die Greer mehrmals mit ihren Mitbewohnerinnen analysierte, während sie gemeinsam im Bad standen, in der Hand die von ihren Müttern für das College gekauften Plastikduscheimer, mit denen sie einer Kinderhorde im Sandkasten glichen. Allen war klar geworden, dass man den miesen Darren Tinzler meiden musste, und schließlich waren sowohl das Thema als auch jene erschöpft, die darüber diskutierten. Es sei ja keine Vergewaltigung gewesen, hatte Greer betont, nicht einmal annähernd. Am Ende kam ihr die Sache banal vor, denn an anderen Colleges passierte Schlimmeres: Rugby-Spieler, die Mädchen K.-o.-Tropfen verabreichten, die Polizeiberichte, die Empörung.

Während der folgenden Wochen machte jedoch ein weiteres halbes Dutzend Studentinnen Erfahrungen mit Darren Tinzler. Die meisten kannten anfangs nicht mal seinen Namen, er wurde nur als Typ mit Baseballkappe und »Augen wie ein Karpfen« beschrieben. Eines Abends saß Darren mit Freunden in der Mensa und glotzte eine Studienanfängerin an, endlos lange, ganz gelassen; glotzte sie quer durch den vollen Raum an, während sie einen Löffel fettarmes Dieses-oder-jenes zum Mund führte. An einem anderen Abend hockte er im Lesesaal der Bibliothek an einem der karamellbraunen Tische und beäugte eine Studentin, die sich durch Mankiws Grundzüge der Volkswirtschaftslehre quälte.

Wenn sie dann aufstand, um mit einer Freundin zu plaudern oder ihren Teller wegzubringen oder etwas von dem angeblich Blasenentzündungen vorbeugenden Cranberry-Saft zu holen, dessen kostenloses Sprudeln ein entscheidendes Merkmal des College-Lebens war, oder um sich einfach mit knackenden und knirschenden Gelenken zu recken und zu strecken, dann stand auch er auf und steuerte entschlossen auf sie zu, stellte sicher, dass er direkt neben ihr stand.

Und wenn sie dann in einem Alkoven oder hinter einer Wand vor neugierigen Blicken verborgen waren, knüpfte er ein Gespräch an. Und er fasste ihre Höflichkeit oder Freundlichkeit oder ihr vages Entgegenkommen irgendwann als Interesse auf, und vielleicht war das sogar manchmal der Fall. Und dann wurde er stets übergriffig, betatschte Brust oder Schritt, strich einmal sogar mit dem Finger über die Lippen eines Mädchens. Und wenn dieses zurückwich, wurde er wütend und drückte zu, bis es aufschrie, riss es zu sich heran und sagte etwas wie: »Oh, klar, du bist total schockiert. Was soll der Scheiß? Du bist doch auch nur eine kleine Schlampe.«

Und jedes Mädchen wich abrupt zurück, rief: »Verpiss dich!«, oder stürmte mit den Worten »Krankes Arschloch!« davon oder schwieg und erzählte seinen Mitbewohnerinnen später von dem Vorfall oder behielt diesen für sich oder bedrängte noch am gleichen Abend alle Freundinnen mit der Frage: »Ich sehe doch nicht aus wie eine Schlampe, oder?«, woraufhin alle beteuerten: »Aber nein, Emily, du siehst fantastisch aus. Ich liebe es, wie du aussiehst, du wirkst so unkonventionell.«

Aber dann kam der Abend im Havermeyer, immer noch das »neue« Wohnheim genannt, obwohl es 1980 erbaut worden war. Inmitten des eklektischen architektonischen Overkills, der den Ryland-Campus auszeichnete, wirkte es fast sowjetisch. An jenem Abend entdeckte eine Studienanfängerin namens Ariel Diski, die zu sehr später Stunde zu ihrem Zimmer zurückkehrte, einen Jungen, der in der Telefonzelle im Flur des vierten Stocks herumlungerte. Darin gab es nur noch mit Kaugummis gefüllte Löcher in der Wand, die vom abgerissenen Telefon zeugten, und eine kleine Holzpritsche, die in dem nutzlosen Kabuff als Sitz diente. Der Junge öffnete die quietschende Falttür und ging auf Ariel zu, sprach sie an, machte sogar eine lustige Bemerkung. Kurz darauf wurde er grob und drängte sie in ihr Zimmer, und als sie sich losriss, drehte er durch und hielt sie an den Gürtelschlaufen fest.

Doch Ariel Diski hatte an der Highschool bei einem israelischen Sportlehrer Krav Maga trainiert, und sie verpasste Darren einen perfekt ausgeführten Ellbogenstoß gegen das Brustbein. Er brüllte vor Schmerz, im ganzen Flur flogen die Türen auf, und Leute erschienen, mehr oder weniger bekleidet und mit mehr oder weniger wirren Haaren, und dann polterten die Sicherheitsleute mit ihren knisternden, knackenden Walkie-Talkies ins Gebäude. Obwohl Darren Tinzler zu dem Zeitpunkt schon verschwunden war, konnte man ihn rasch identifizieren und fand ihn im Theta-Gamma-Psi-Haus, wo er so tat, als wäre er in eine einsame Runde Star Wars Trivial Pursuit vertieft.

Bald darauf taten sich die anderen Mädchen zusammen und machten die Übergriffe öffentlich, und obwohl das College zunächst versuchte, die Vorfälle unter den Teppich zu kehren, stimmte die unter Druck gesetzte Leitung am Ende einer disziplinarischen Anhörung zu. Sie fand in einem Biologie-Labor statt, im spärlichen, fahlen Licht eines Freitagnachmittags, an dem jeder in Gedanken schon beim Wochenende war. Als Greer an der Reihe war, trat sie vor einen glänzend schwarzen Tisch mit aufgereihten Bunsenbrennern und berichtete im Flüsterton, was Darren Tinzler ihr an jenem Abend auf der Party angetan hatte. Sie war überzeugt davon, durch ihre Aussage Fieber bekommen zu haben, glühend heißes Fieber. Vielleicht scharlachrotes Fieber.

Darren hatte ausnahmsweise auf die Baseballkappe verzichtet; seine platten blonden Haare glichen einem Rasenfleck, der unter einem Planschbecken in der Falle saß und zum Sterben verdammt war. Am Ende verlas er eine vorbereitete Erklärung: »Ich, Darren Tinzler, seit 2007 am College, mit einem Abschluss in Kommunikationswissenschaft in Kissimmee, Florida, möchte hier festhalten, dass ich offenbar irgendwie schlecht darin bin, die Reaktionen des anderen Geschlechts zu interpretieren. Ich schäme mich zutiefst, und ich entschuldige mich für meine wiederholten Missdeutungen sozialer Signale.«

Man traf die Entscheidung im Laufe der nächsten Stunde. Die junge Vorsitzende des Disziplinarrats, zugleich eine Stellvertreterin des Deans, verkündete, Darren dürfe auf dem Campus bleiben, sofern er einwillige, drei Beratungseinheiten bei einer lokalen Verhaltenstherapeutin zu absolvieren: Melanie Stapp, Master of Social Work, die laut ihrer Website auf Impulskontrolle spezialisiert war. Die Website zeigte auch Illustrationen eines hektisch rauchenden Mannes sowie einer todunglücklichen Frau, die einen Donut futterte.

Auf dem Campus sorgte dies für einen lauten, aber diffusen Aufschrei. »Das ist unverhohlen frauenfeindlich«, sagte eine ältere Studentin, als sie eines Abends zu später Stunde im Gemeinschaftsraum des Woolley saßen.

»Schon erstaunlich, dass die Vorsitzende nicht mit den Opfern fühlt«, sagte eine Studienanfängerin.

»Sie ist wahrscheinlich eine dieser Frauen, die andere Frauen hassen«, sagte Zee. »Eine echte Fotze.« Und sie stimmte ihre Version des Liedes aus einem Musical an, das ihre Eltern sehr gemocht hatten: »Frauen … Frauen, die Frauen hassen … sind die fotzigsten Frauen … auf der ganzen Welt …«

Greer sagte: »Schrecklich! Fotze sagt man doch nicht.«

Zee sagte: Fotze, und alle lachten. »Ach, komm schon«, fuhr sie fort. »Ich kann sagen, was ich will. Das ist der freie Wille.«

»Das klingt noch schrecklicher«, meinte Greer.

Greer und Zee führten in der Mensa mit anderen lange Diskussionen über Darren; sie saßen da, bis sie von den Küchenangestellten hinausgeworfen wurden. Die Wut ließ sich allerdings nur mit Mühe aufrechterhalten, und trotz der Gespräche und des klug argumentierenden Kommentars einer graduierten Studentin im Ryland Clarion erklärten zwei der betroffenen Mädchen, die Vorfälle nicht weiter verfolgen zu wollen.

Greer musste nach wie vor daran denken. Was blieb, war nicht der eigentliche Übergriff, denn die Erinnerung daran war fast verblasst. Stattdessen fand sie es unfair, dass Darren weiter geduldet wurde. »Unfair«: Das Wort klang wie ein Vorwurf, den ein Kind seinen Eltern ins Gesicht brüllte.

»Tut mir leid, aber ich möchte nicht mehr an ihn denken«, sagte Ariel Diski eines Vormittags im Raum des Studentenbundes, nachdem sie vorsichtig von Greer angesprochen worden war. »Ich habe jede Menge um die Ohren«, sagte Ariel, »und er ist einfach nur ein Vollidiot.«

»Ja, sicher«, sagte Greer. »Aber vielleicht sollte man die Hände jetzt noch nicht in den Schoß legen. Das findet jedenfalls meine Freundin Zee.«

»Ich weiß, dass dich die Sache noch beschäftigt«, erwiderte Ariel, »aber ich bereite mich auf das Jura-Studium vor und kann mir keinen weiteren Stress leisten, nichts für ungut. Tut mir leid, Greer, aber ich bin raus.«

An jenem Abend saßen Zee, Greer und Chloe in Zees Zimmer und lackierten ihre Zehennägel in militärischem Olivgrün. Der Raum war von einem chemischen Gärungsgeruch erfüllt, der sowohl für leichte Übelkeit als auch für Überdrehtheit sorgte. »Du könntest dich an die Women’s Alliance wenden«, schlug Zee vor. »Vielleicht kann man dir dort helfen.«

»Oder auch nicht. Meine Mitbewohnerin hat mal eines der Treffen besucht«, sagte Chloe. »Sie meint, dort backt man nur Kekse gegen Genitalverstümmelung.«

Ryland war nicht besonders politisiert, also begnügte man sich mit dem, was es gab. Manchmal kam es zu einer unerwarteten Protestwelle. Der Irakkrieg schleppte sich schon einige Jahre dahin, da konnte man Zee und zwei weitere Erstsemester mit Megafon und Handzetteln auf den Stufen der Bibliothek sehen. Außerdem gab es eine Reihe von Protesten der sehr kleinen, aber bestens organisierten Black Students Association. Die Klimawandel-Gruppe machte sich regelmäßig lautstark bemerkbar, und auch hier war Zee engagiert. Der Himmel breche ein, teilten sie allen immer wieder mit, der heiße, kochende Himmel.

»Weißt du, was?«, sagte Zee. »In Scarsdale habe ich als Kind mal T-Shirts gestaltet und verkauft, um Geld für den Kampf gegen die Misshandlung von Tieren zu bekommen. Wir könnten ja T-Shirts mit Darren Tinzlers Visage und dem Slogan ›Unerwünscht‹ darunter produzieren und verschenken.«

Sie sammelten Geld, kauften auf die Schnelle fünfzig billige T-Shirts bei einem Online-Großhändler, der vertickte, was nach Geschäftsinsolvenzen übrig blieb, und dann standen Greer, Zee und Chloe bis in die Puppen im Keller des Woolley, wo sie Abzüge von Darren Tinzlers Konterfei zwischen geparkten Fahrrädern, stampfenden Waschmaschinen und in die Tiefe rauschendem Klosettwasser auf Kunstfaser-T-Shirts bügelten, weil das billiger war, als diese bedrucken zu lassen. Gegen vier Uhr früh schob Greer das heiße Eisen immer noch unermüdlich über Darrens bleiches Allerweltsgesicht – mit der tief in die Stirn gezogenen Baseballkappe, den extrem weit auseinanderliegenden Augen. Er sah dumm aus, dachte sie, aber hinter dieser Fassade verbarg sich ein listiger, barbarischer Instinkt.

Bald darauf gab Chloe auf, erhob sich, reckte die Arme und sagte: »Muss. Ins. Bett.« Also saßen Greer und Zee ein paar Stunden später allein und gähnend im hellen Eingang der Mensa und versuchten, den Leuten die T-Shirts schmackhaft zu machen. »T-Shirts zu verschenken!«, sagten sie allen, wurden aber nur fünf los. Eine Enttäuschung, ein trauriger Fehlschlag. Dennoch trugen Greer und Zee ihr T-Shirt so oft wie möglich, obwohl es beim Waschen einlief und Darren Tinzlers Gesicht etwas gedehnt und verzerrt wurde, so als hätte er seinen Kopf in ein Kopiergerät gesteckt.

Dieses T-Shirt trugen sie beide an dem Abend, als Faith Frank ihren Vortrag halten sollte.

Zee hatte die Ankündigung im Weekly Blast entdeckt und war ganz aus dem Häuschen. »Ich fand sie immer toll«, sagte sie zu Greer. Sie hatten sich im Eiltempo angefreundet, denn während ihrer nächtlichen Bügel-Aktion hatten sie gequatscht, Pläne geschmiedet und wie wild herumgesponnen. »Schon klar, dass sie für einen altmodischen Feminismus steht«, sagte Zee, »der sich auf Themen konzentriert, die meist privilegierte Frauen betreffen. Das ist ganz klar. Aber weißt du, was? Sie hat viel erreicht, und ich finde sie umwerfend. Außerdem zeichnet sich Faith Frank dadurch aus«, fuhr sie fort, »dass sie trotz ihrer Berühmtheit und ihres fast ikonenhaften Status jedem gegenüber offen ist. Wir müssen auf sie zugehen, Greer. Du musst mit ihr reden, erzählen, was hier passiert ist. Erzähl ihr davon. Sie kann uns sicher sagen, was wir tun sollen.«

Greer wusste beschämend wenig über Faith Frank, rüstete sich am Abend vor der Lesung aber durch intensives Googeln. Sie fand es tröstlich, Fakten online zu checken; hier waren im Handumdrehen Antworten zu finden, selbst wenn die Welt aus dem Ruder liefe. Doch es gab keine Antwort auf die Frage, wie sich Faith Franks Persönlichkeit entwickelt hatte, sondern nur Informationen zu Lebenslauf und Umfeld.

Greer las, dass Faith Frank zu Beginn der 1970er-Jahre zu den Gründerinnen der Zeitschrift Bloomer gehört hatte, benannt nach Amelia Bloomer, der Feministin und Sozialreformerin, die die erste Zeitung für Frauen publiziert hatte. Bloomer galt als schmuddelige kleine Schwester der Zeitschrift Ms. Sie war anfangs anspruchsvoll, aber weniger elegant und gebildet als Ms. gewesen, und auch die Gestaltung hatte zu wünschen übrig gelassen. Dafür wimmelte die Zeitschrift von ebenso faszinierenden wie leidenschaftlichen Kolumnen, Artikeln und Glossen. Im Laufe der Jahrzehnte war die Leserschaft deutlich geschrumpft, und heute war das Blatt, das einst als Lagebericht von vorderster Front gegolten hatte, ähnlich dünn wie die Gebrauchsanleitung für ein kleines Haushaltsgerät.

Faith, als »nur ein paar Grade weniger berühmt als Gloria Steinem« charakterisiert, ließ jedoch weiter von sich hören. Gegen Ende der 1970er begann sie, Bücher für ein breiteres Publikum zu schreiben, die sich aufgrund ihrer plakativen und ermutigenden Empowerment-Botschaften gut verkauften. 1984 landete sie dann einen Riesenerfolg mit dem Manifest Das weibliche Prinzip, das Frauen dazu aufrief, die Tatsache anzuerkennen, dass sich Weiblichkeit durch weit mehr auszeichne als durch Schulterpolster und forsches Auftreten. US