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In einer ruhigen Amsterdamer Gegend wird ein altes Paar brutal ermordet aufgefunden. Wer ist verantwortlich für diese grausame Tat? Kommissarin Maud Mertens begibt sich auf die Jagd nach dem Schuldigen. Unterdessen zieht es die junge Kriminalistikstudentin Kyra Slagter nach London, wo sie hofft, endlich konkrete Hinweise auf den Verbleib ihrer Schwester zu finden, die vor Jahren verschwunden ist. Doch schnell zeichnet sich ab – es geht um mehr. Die Entführung steht in direkter Verbindung zu einem abscheulichen Verbrechen, das immer weitere Kreise zieht. Die Spuren führen zu einem Netzwerk, in das diverse hochrangige Persönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft verstrickt zu sein scheinen, und schließlich zu einem geheimnisvollen Boot, das auf der Nordsee treibt … Wird Kyra Slagter ihre Schwester jemals wiedersehen?

Im packenden Abschluss der ›Nordsee-Morde‹ führt Isa Maron uns entlang der Küste von Holland bis nach Schottland – und in dunkelste menschliche Abgründe.

Autor

© Y. Compier Ceejay

Isa Maron, geboren 1965, ist Autorin mehrerer erfolgreicher Kriminalromane. Ihr Debüt ›Passiespel‹ wurde 2008 als bester Frauen-Thriller des Jahres ausgezeichnet. Bei DuMont erschienen bislang ›Dunkle Flut‹ (2016), ›Kalte Brandung‹ (2016) und ›Schwarzes Wasser‹ (2017). ›Tödliche Gezeiten‹ ist der vierte Band und Abschluss der Nordsee-Morde.

ISA MARON

TÖDLICHE

GEZEITEN

DIE NORDSEE-MORDE

Ein neuer Fall für
Maud Mertens und Kyra Slagter

Aus dem Niederländischen
von Stefanie Schäfer

 

TÖDLICHE GEZEITEN

1

Die Tür steht halb offen. Das verheißt nichts Gutes. Undenkbar, dass Ab und Bep einfach vergessen würden, die Haustür zu schließen. Dafür sind sie viel zu vorsichtig. Argwöhnisch, könnte man fast sagen. Rietje Hennequin, immer auf eine Plauderei aus, steht im Eingang ihres eigenen Hauses, blickt über die Straße und zögert.

Bis vor Kurzem verliefen die Spaziergänge ihrer Nachbarn nach einem festen Muster, doch seitdem deren kleiner Hund gestorben ist, begegnet Rietje ihnen viel seltener. Sie werden älter – alle werden älter. Alle, die noch hier wohnen. Die Straße ist inzwischen zu einer Art Getto für alte Menschen geworden. Der Spielplatz liegt verwahrlost da, die gelbe Rutschbahn ist grün bemoost. Es flitzen keine Kinderfahrräder mehr über den Bürgersteig, und es gibt keine Väter mehr, die schimpfen, wenn ein Fußball gegen das neue Auto prallt.

Noch immer tut sich drüben nichts. Vielleicht sucht Bep wieder ihre Einkaufsliste oder ihr Portemonnaie. Rietje sieht im Geiste vor sich, wie die beiden Schubladen und Taschen durchwühlen. Bep schimpft wie immer leise vor sich hin und Ab redet beruhigend auf sie ein. So geht das, seit sich die beiden vor ein paar Jahren kennengelernt haben.

Rietje blickt die Straße hinauf und hinunter und überquert sie vorsichtig. Vielleicht sind sie schon weg – mal kurz zum Fischwagen, einen Hering zum Mittagessen holen – und haben einfach vergessen, die Tür zu schließen? Auf der Schwelle bleibt sie stehen und horcht, ob ihre Stimmen nicht vielleicht doch zu hören sind, aber es bleibt beängstigend still.

»Bep? Ab?« Sie stößt die Tür etwas weiter auf. »Huhu!«

Noch vor knapp einem Monat kam Gerrit auf einen zugerannt, sobald man hereinkam – ein kleines, graues, lebhaftes Hündchen. Eigentlich mag Rietje Hunde nicht besonders, aber Gerrit war so niedlich; er erinnerte sie daran, dass es so etwas wie bedingungslose Liebe gab. Ein kurzer Stich der Sehnsucht durchfährt sie, nach Tagen, die so lange her sind, dass sie fast keine Farbe mehr haben.

»Bep?« Sie drückt die Tür noch weiter auf und betritt die Diele. Es ist unnatürlich ruhig im Haus. »Ab?«

In der Diele ist es dunkel und ihre Augen haben Schwierigkeiten, sich daran zu gewöhnen. Sie spürt eine Art Druck im Kopf, so wie damals, als ihr älterer Bruder sie im Schwimmbad unter Wasser tauchte und sie dachte, sie würde ertrinken.

»Bep, wo bist du?«

Vorsichtig geht sie durch den schmalen Flur, vorbei an einem Schuhschrank, auf dem zahlreiche gerahmte Fotos der Enkelkinder stehen. Beps Tasche liegt auf dem Boden, der Inhalt ist herausgekullert. Die Küchentür steht offen, und auf der Anrichte sieht Rietje zwei Glastassen vor der Kaffeemaschine stehen, in beiden ein Löffel und ein wenig Milchpulver und Zucker. Die Kanne ist voll. Ein leichter Geruch nach Kaffee liegt in der Luft. Neben der Tür zum Wohnzimmer, die halb geöffnet ist, bleibt sie stehen. Vielleicht wäre es vernünftiger, wieder zu gehen. Vielleicht ist jemand da drin, der nicht dorthin gehört. Im Haus herrscht eine seltsame Atmosphäre, als hätte es vor Kurzem Streit gegeben, als könnte es jeden Moment donnern und blitzen.

Stell dich nicht so an.

Ihr Mann hat das früher oft zu ihr gesagt: »Jetzt reiß dich doch mal zusammen, du.« Sie strafft den Rücken – soweit das mit ihren 81 noch geht – und stößt die Wohnzimmertür weiter auf.

Ab liegt auf dem Boden vor dem Eichenbüfett, auf dem Bauch, mit der Nase im Teppich. Seine Füße sind schrecklich verdreht. Der Rücken seines Hemdes ist blutdurchtränkt, und unter seinem Kopf färbt sich der rote Teppich dunkel. Rechts, vor dem Esstisch, liegt Bep. Auf dem Rücken, die Hände mit den Handflächen nach oben neben ihrem Oberkörper. Die untere Hälfte ihres Gesichts ist eine blutige Masse. Jemand hat ihr ein Küchenhandtuch über die Augen gelegt.

Es ist, als würde das Haus kippen. Rietje hält sich am Türrahmen fest. Sie bekommt keine Luft, kann nicht begreifen, was sie da sieht. Sie blinzelt mit den Augen, als würde das helfen, als ginge dadurch das Blut weg, als würden die grausigen Details so ausgelöscht und die Machtlosigkeit verschwinden, die sie zu erdrücken droht.

Das kann nicht wahr sein. Das ist doch alles nicht wahr!

Die dümmsten Gedanken gehen ihr durch den Kopf. Dass Bep gerade beim Friseur war und ihr Haar jetzt ganz durcheinandergeraten ist. Dass Ab das karierte Hemd, das er trägt, von seinem Sohn aus Kanada bekommen hat. Dass Gerrit hätte Alarm schlagen können, wenn er noch gelebt hätte, in dem Moment, als … In dem Moment …

Ein Schrei steigt in ihr auf und sie stolpert rückwärts, fort von diesem Grauen, fort von ihrer Freundin, die so schlimm zugerichtet auf dem Boden liegt, weg von dem Ort, wo die zerstörerische Kraft, die sie gespürt hat, noch nachhallt.

2

Kyra Slagter steht mitten in ihrem Zimmer, aufrecht, hellwach und zugleich in einer Art Trance. Manchmal versinkt sie in so tiefe Konzentration, dass sie alles um sich herum vergisst, nichts hört und nur noch eines sieht. In diesem Fall ist es die Karte der Nordsee.

Ringsum an den Küstenlinien – straff und gerade vor Belgien und den Niederlanden, zerklüfteter entlang der Küsten der Nachbarländer – hat sie mehrere Dutzend bunter Stecknadeln platziert. Rote, blaue, orangefarbene und gelbe Pünktchen, scheinbar wild durcheinander. Aber Kyra erzählen sie eine Geschichte. Vor ihren Augen läuft ein Film ab, in dem eine junge Frau nach der anderen im salzigen Meer landet, gegen die Wellen und die Kälte kämpft – prustend, zappelnd –, bis sie schließlich irgendwo angespült wird, still und reglos. Und irgendwo vermisst wird. Nur weiß man manchmal nicht, von wem. Nichts ist tragischer als eine namenlose Leiche.

Die Musik von Ben Howard hellt ihre Stimmung auch nicht gerade auf. Sie regelt die Lautstärke runter. Ohne ihre Augen von der Karte abzuwenden, trinkt sie einen Schluck von ihrem Tee. Kalt geworden. Gleich mal neuen kochen.

An der Nordseeküste werden mehr Frauen- als Männerleichen angespült, das zeigen die Stecknadeln. Darunter sind viele Teenager und junge Frauen zwischen zwanzig und dreißig. Sehr viele. Kyra kneift die Augen zusammen und trinkt noch einen Schluck Tee. Igitt! Sie stellt die Tasse weg, zieht ihre Büroschublade auf und nimmt ein Knäuel blaues Baumwollgarn heraus.

In den letzten Tagen hat sie die einzelnen Fälle genau recherchiert, Hintergrundinformationen gesammelt. Neben der Karte hängt eine Reihe von Ausdrucken, jeweils mit Foto, Namen, Alter und Fundort der betreffenden Person.

Kyra pult einen Faden vom Knäuel los, bindet ihn an eine blaue Nadel, die in der Küste Schottlands steckt, pinnt die Daten einer jungen, blonden Frau ungefähr in gleicher Höhe neben die Karte und verbindet die beiden Nadeln mit dem leuchtenden Faden. Sie tritt einen Schritt zurück und schaut sich ihre Übersicht an. Sie ist zufrieden.

Konzentriert arbeitet sie weiter, betrachtet schließlich das Ergebnis. Dann greift sie nach ihrem Handy, macht ein Foto und rennt die Treppe hinunter.

»Iih …« Maud Mertens verzieht das Gesicht, als hätte sie gerade ein Milchhäutchen runtergeschluckt. Im Fernsehen hackt jemand auf den Kopf eines Zombies ein, der wie eine Wassermelone auseinanderplatzt. Mittwochnachmittag, sie hatte gerade drei Tage frei und ist entspannt. Roos ist früh von der Schule nach Hause gekommen. Sie haben es sich auf dem Sofa bequem gemacht, ein paar Knabbereien bereitgestellt und Netflix eingeschaltet.

»Manchmal finde ich es eher lustig als gruselig«, sagt Roos. Ein Zombie beißt herzhaft in den Hals seines Opfers, und sofort spritzt schwarzes Blut aus dem klaffenden Loch. »Außer, wenn Carl auf eigene Faust loszieht«, fährt sie nachdenklich fort. »Dann finde ich es auf einmal total unheimlich.«

Maud lehnt sich nach vorn und nimmt eine Handvoll Chips. Es ist genau wie immer: Ihre Tochter rührt die Knabbersachen nicht an, und zum guten Schluss wird Maud sie wieder allein aufessen.

»Ich bleibe dabei, dass Rick am besten aussieht«, sagt sie. »Und er ist der Klügste.«

»Stimmt nicht«, erwidert Roos grinsend. Dieses Ritual spielen sie Folge für Folge ab. »Nichts geht über Daryl.«

»Der hat aber die blödeste Frisur«, mault Maud. »Rick hingegen …«

»Rick ist so brav und langweilig«, erwidert Roos lachend. »Daryl ist mysteriös.«

»Wie auch immer, ich frage mich sowieso, warum ich mir eine Serie anschaue, die Gewalt dermaßen verherrlicht«, sagt Maud und wechselt damit das Thema. Mit Roos zu diskutieren ist nicht gerade einfach, obwohl es in letzter Zeit etwas leichter mit ihr wird. Die Auswirkungen der Pubertät scheinen allmählich etwas nachzulassen, und der Zorn ihrer Tochter wegen ihres Umzugs von Amsterdam-Zuid nach Amsterdam-Noord hat sich auch gelegt. Außerdem leidet sie nicht mehr so häufig unter Kopfschmerzen, sodass sie nicht mehr so viel Unterricht versäumt.

»Gewalt … Gewalt …«, erwidert Roos. »Ist doch nur Gewalt gegen Zombies.«

»Aber es werden auch immer mehr normale Leute ermordet.«

»Hier nur die Bösen.«

»Aha, und die kann man ruhig umbringen?«

»Klar, in einer Welt ohne Gefängnisse. Die Leute müssen sich doch verteidigen?«

»Ich kapiere nicht, warum ihr euch das anschaut.« Edwin steht plötzlich hinter dem Sofa. »Vollkommen unrealistisch. Niemand von denen sucht jemals nach Klopapier. Oder nach Binden oder Rasierschaum. Und die sind auch nicht so abgemagert oder dehydriert, wie sie sein müssten. Und niemand von denen hat Haare unter den Achseln.«

»Ja, ja«, mault Roos. »Wissen wir.«

»Das müsste The Walking Bullshit heißen, nicht The Walking Dead

»Ja, ja!« Roos verliert die Geduld. Jedes Mal, wenn sie eine Folge schauen, verkündet Edwin, wie blöd er die Serie findet. Ohnehin ist er in letzter Zeit oft schlechter Laune.

»Lass uns doch einfach hier in Ruhe sitzen und unsere Serie gucken«, sagt Maud, ohne die Männer im Fernsehen aus den Augen zu lassen. Sie drohen, von einer großen Gruppe Zombies umzingelt zu werden. Jetzt müssen sie sich schnell etwas einfallen lassen.

»Geh doch Fußball gucken oder so«, sagt Roos. »Bestimmt gibt es irgendwo eine Wiederholung.«

»Gleich«, antwortet Edwin geistesabwesend und starrt auf den Fernseher.

Maud sieht, wie Roos die Augen verdreht. Sie lächeln sich an. Nicht zum ersten Mal trödelt Edwin vor dem Fernseher herum, während er meckert, und schaut ein wenig mit.

Daryl schlägt einem Zombie mit seiner Armbrust den Kopf ein. Rick schießt einen anderen nieder. Ein stöhnendes, ächzendes Ungeheuer schleicht sich von hinten an den kleinen Carl an, ohne dass es jemand bemerkt.

Als Mauds Handy klingelt, schrecken alle drei zusammen.

»Mama!« Roos schaut sie gereizt an.

Maud macht eine entschuldigende Geste und schlüpft mit ihrem Handy aus dem Wohnzimmer. Es ist Niels Bingsten, ihr Kollege.

»Zwei Tote«, sagt er knapp und nennt die Adresse. »Alte Leute. Trauriger Fall.«

»Bin unterwegs«, antwortet Maud, legt auf und öffnet die Tür zum Wohnzimmer. Edwin hat sich neben Roos aufs Sofa gesetzt. Rick und Daryl kämpfen sich einen Weg durch eine Gruppe Zombies frei. »Ich muss weg«, verkündet sie ihrer Familie. »Arbeiten. Weiß noch nicht, wann ich nach Hause komme.«

Edwin hebt die Hand zum Zeichen, dass er sie gehört hat. Roos blickt nicht einmal auf.

Kyra schlingt die Kette um ihre Sattelstange und befestigt sie mit dem Hängeschloss. Rasch schwingt sie sich auf das Herrenrad. Kurz darauf fährt sie den Deich entlang in Richtung Noordhollandsch Kanaal. Verbissen tritt sie in die Pedale. Seitdem sie aus London zurück ist, ist sie von einer nervösen Energie erfüllt, die sie hetzt und bedrückt zugleich.

Sarah. Sie geht ihr nicht aus dem Kopf. Ob sie noch lebt? Mabel und Phil, das Ehepaar, das die junge Frau unter seine Fittiche genommen hatte, versucht auf jede erdenkliche Art, Interesse für ihren Fall zu wecken und Hilfe zusammenzutrommeln, aber Kyra bezweifelt, dass noch mit genügend Druck nach Sarah gefahndet wird. Maud behauptet es zwar, aber es ist schon achtzehn Tage her, seit die junge Frau verschwunden ist.

Es ist zum Kotzen. Zum Kotzen, dass niemand weiß, wo Sarah ist, und zum Kotzen, dass Kyra nicht erfährt, wie die Ermittlungen in England vorangehen. Zum Kotzen, dass sie nichts unternehmen kann. Nichts unternehmen darf. Aber wie kann sie einfach nur untätig herumsitzen, wenn Sarah möglicherweise ein Bindeglied zu ihrer Schwester Sarina darstellt?

»Vincent will reden, aber wieder nur mit dir«, hatte Maud vor zehn Tagen gesagt, und in dem Moment war die Hoffnung in ihr wieder aufgeflackert. Vielleicht konnte sie doch noch etwas tun. Vielleicht würde Vincent diesmal etwas sagen, womit sie etwas anfangen konnten. Wenn sie Sarah hätten, könnte sie sie endlich befragen. Und vielleicht wüsste Sarah sogar, wo Sarina ist. Wenn das so wäre, wenn …

Doch als sie zur Besprechung ins Präsidium kam, erklärte ihr Maud, dass Vincent zwar ausdrücklich nach ihr gefragt habe, doch dass in England von höherer Stelle gegen ihr Kommen Einspruch erhoben worden sei. Zu jung. Zu unerfahren. Und außerdem: eine Zivilistin. Kyra noch einmal in Vincents Vernehmung miteinzubeziehen komme nicht infrage.

Warum hatte Maud sie dann überhaupt zu sich bestellt? Kyra hasste es, vertröstet zu werden. Da machte man sich nur falsche Hoffnungen. Mit das Schlimmste, was es gibt.

Sie fährt an dem Streichelzoo vorbei, wo vor einem halben Jahr Jesse verschwunden ist. Hier, im eiskalten Wasser des Kanals, hat sie Tom kennengelernt, während sie beide wie besessen nach dem armen kleinen Jungen tauchten. Jesse haben sie dort nicht gefunden. Und Tom ist ihr damals auch nicht besonders aufgefallen.

Einerseits passiert gerade so viel in ihrem Leben, und zugleich geht alles viel zu langsam. Sie wünschte, sie wäre schon fertig mit der Uni und könnte endlich bei der Kripo anfangen. Sie wünschte, die verdammten Engländer würden ihr erlauben, mit Vincent zu reden. Maud hatte versprochen, noch einmal mit den Briten zu verhandeln, aber das war jetzt auch schon wieder ein paar Tage her. Kostbare Tage. Tage, an denen sie Fortschritte hätte erzielen können.

Kyra fährt durch die Fahrradunterführung und hört die Fahrzeuge auf der Ringstraße über sich hinwegrasen. Nachdem sie die Stadtgrenze hinter sich gelassen hat, auf dem langen Weg durch die Felder, tritt sie noch schneller in die Pedale. Hoffentlich ist Jan Anne zu Hause.

Das Haus der beiden Senioren ist klein. Zu klein für die Gruppe der Ermittler, die in weißen Anzügen versuchen, ihre Arbeit zu tun. Maud steht reglos in einer Ecke des Wohnzimmers und macht sich ein Bild vom Tatort.

Die Opfer liegen auf dem Boden. Der Mann auf dem Bauch, die Frau auf dem Rücken. Auf beide wurde so oft und so heftig eingestochen, dass die tiefen Fleischwunden durch die Kleidung hindurch sichtbar sind. Das Gesicht der alten Frau ist schwer verstümmelt, und am Saum des Küchenhandtuchs, das über ihre Augen gelegt wurde, klafft ein breiter Wundrand. Sie trägt eine weiße Strickjacke. Genau so eine, wie Mauds Mutter sie besitzt. Dünn, mit kleinen Perlmuttknöpfen und einem runden Halsausschnitt.

Sie stellt sich vor, es wäre ihre Mutter, sieht vor sich, wie die arme alte Frau die Arme hebt, in dem Versuch, sich gegen die Schläge zu schützen. Sie sieht den ungläubigen Blick, das Erstarren vor Schmerz und Angst.

Wer ist zu so etwas fähig?

Die Wut, nein, der Hass, der aus dieser Tat spricht, ist so groß – wie kann er sich nur gegen zwei alte, wehrlose Menschen richten?

Auf dem Esstisch im Wohnzimmer liegen die mutmaßlichen Tatwaffen ordentlich aufgereiht neben dem Kristallaschenbecher. Zwei gezackte Messer mit Holzgriffen. Ein Hammer. Ein Brotmesser – eine lange Stichwaffe, die durch die Kraft, mit der sie ins Opfer eingedrungen ist, ganz verbogen ist.

Jemand sticht und schlägt die Opfer zu Mus, deckt die Augen der alten Frau mit einem Küchentuch ab, legt die Messer ordentlich nebeneinander auf den Tisch und geht.

Warum?

»Das muss das Werk eines Irren sein«, hört sie Niels leise sagen. Er hat sich neben sie gestellt, und sie sieht die Spannung in seinen Kiefermuskeln, die Wut und die Ohnmacht. Sie nickt und schaut sich das Wohnzimmer genau an. Auf dem Tisch, hinter den Messern, steht ein frischer Blumenstrauß. Im Schrank sieht sie die grünen Rücken eines dicken, dreibändigen Wörterbuchs. Auf einem Schränkchen in der Ecke prunkt eine verzierte Porzellanvase. Das Haus ist sauber, ordentlich und sorgfältig eingerichtet. Die schwarzen Blutflecke auf dem Boden und die zwei Leichen passen hier nicht hin. Die Kollegen, die durch die aufgeplusterten weißen Anzüge noch größer wirken, geben sich Mühe, einander nicht im Weg zu sein.

»Los, nach draußen«, fordert Maud Niels auf. Sie gehen hinaus und bleiben vor der Tür stehen. Schweigend begrüßen sie Barbara Ruigbot, die Staatsanwältin, die mit grimmigem Blick auf sie zukommt. Die hellblonde Frau nickt ihnen zu und betritt ohne ein Wort das Haus.

»Weißt du schon etwas über die Opfer?«, fragt Maud ihren Kollegen.

»Ab Bovenberg und Bep Stans«, antwortet er. »Ab hat schon sehr lange hier gewohnt. Bep ist vor ein paar Jahren in die Nachbarschaft gekommen und schon bald darauf mit Ab zusammengezogen. Viel mehr weiß ich auch noch nicht. Die Nachbarn sagen, es wären ordentliche Leute gewesen, mit denen es nie Probleme gegeben habe.«

»Zeugen?«

»Niemand hat etwas gehört oder gesehen, aber die Befragung der Nachbarn läuft noch.«

»Alles klar.«

Durch den Flur sehen sie zwei Kollegen in weißen Anzügen mit einem Stück Bodenbelag aus der Küche kommen. Maud und Niels gehen zurück ins Haus und laufen auf sie zu.

»Habt ihr etwas?«, fragt Niels.

»Sieht aus wie eine Täterspur«, sagt der Kriminaltechniker und deutet auf einen blutigen Schuhabdruck. »Stimmt nicht mit den Schuhen der Opfer überein.«

»Ein Schuh mit einer groben Sohle«, stellt Niels fest. »Ein Arbeitsschuh oder ein Stiefel.«

Die beiden Kriminaltechniker machen sich daran, die Spur zu sichern. Niels dreht sich zu Maud um. »Komm, informieren wir die Angehörigen«, sagt er.

»Hast du einen Drucker?« Kyra hält ihr Handy hoch. »Dann maile ich dir was.«

Der verwunschene Garten, in dem sie steht, wirkt wie ein Vergnügungspark und ein Dalí-Museum zugleich. Er gehört dem ehemaligen Ermittler Jan Anne Gerritsen.

»Klar«, sagt er, nickt und schaut Kyra mit freundlichem Lächeln an. Mit einer Hand schiebt er die Schutzbrille hoch, die er bei der Arbeit getragen hat, und geht – leicht gebeugt und sich Schritt für Schritt weiter aufrichtend – auf das Haus zu. Kyra folgt ihm durch seinen Garten voller Kunstwerke aus Beton mit Metallfühlern, vorbei an der halbrunden Hütte, die an einen Hobbit-Bau mit Mosaiken an den Außenwänden erinnert, und dem Treibhaus, in dem grünes Gemüse und rote Tomaten wachsen.

»Maud hat mir erzählt, dass du nur noch ganz selten im Haus bist«, bemerkt Kyra. »Und dass du mehr oder weniger im Gartenhaus wohnst.«

»Hmm«, antwortet Jan Anne. Es klingt weder bestätigend noch verneinend. Er öffnet die Hintertür und geht ihr voraus durch einen dunklen Flur. Rechts blickt Kyra in eine kleine Küche – aufgeräumt, sauber –, dahinter verschwindet Jan Anne durch eine Tür. Als sie näher kommt, sieht sie, dass er auf sie wartet und ihr die Tür aufhält. Sie betritt das Zimmer und blickt sich voller Erstaunen um.

An der Wand stehen stabile Archivschränke aus Metall mit dicken Schlössern an den Türen. Sie sehen aus wie raumhohe Tresore. Eine andere Wand ist bedeckt mit Karten, Fotos, Tabellen und einem großen Bildschirm. Mitten im Zimmer steht ein massiver Schreibtisch mit mehreren Monitoren darauf. Schweigend geht der alte Mann zur Wand, legt einen Schalter um und das Zimmer erwacht zum Leben. Monitore springen an, der Drucker beginnt zu summen und der Bildschirm leuchtet auf.

»Ich dachte, du arbeitest nicht mehr«, bemerkt Kyra.

»Tue ich auch nicht«, bestätigt Jan Anne, während er sich an seinen Computer setzt und sich einloggt.

»Das ist also nur ein Hobby«, sagt Kyra und blickt sich um. Viele Ermittler würden sich wünschen, so ein Büro zu haben. Sie kann sich ein Lachen nicht verkneifen.

»Genau.« Jan Anne achtet nicht weiter auf sie, sondern öffnet verschiedene Programme. »Was möchtest du ausdrucken?«, fragt er und deutet auf ihr Handy.

»Eine Karte«, sagt Kyra und gibt seine Adresse ein.

Jan Anne öffnet das Dokument, und bald darauf erscheint das Bild der Nordseekarte, die bei Kyra zu Hause an der Wand hängt, auf dem Bildschirm.

»Schick, oder?«, fragt Kyra. »Was sagst du dazu?«

»Meine Augen sind nicht mehr so gut«, erwidert Jan Anne grinsend, steht auf und stellt sich neben Kyra, um mit ihr gemeinsam die Landkarte zu studieren.

»Sie zeigt die Fundorte von Frauenleichen, die an der Küste angespült wurden«, beginnt Kyra. »Rot bedeutet: nicht identifiziert, blau bedeutet: identifizierte Leiche. Diese Frauen waren alle unter fünfundzwanzig. Siehst du, daneben hängen Fotos der identifizierten Frauen.«

Jan Anne schiebt seine Sonnenbrille, die offenbar auch als Lesebrille dient, auf die Nasenspitze und studiert die Karte etwa zehn Minuten lang ausführlich.

»Die gelben Nadeln stehen für all die anderen angeschwemmten Leichen«, erklärt Kyra weiter. »Männlich, weiblich, älter als fünfundzwanzig. Die orangefarbenen Stecknadeln markieren die Orte, an denen in den letzten Jahren Vermisstenfälle gemeldet wurden, die nie aufgeklärt wurden.«

Eine von ihnen ist Sarina.

»Wie viele von den gelben Nadeln stehen für Frauen über fünfundzwanzig?«, fragt Jan Anne und starrt aus einer solchen Nähe auf den Bildschirm, dass Kyra sich fragt, ob er überhaupt etwas sehen kann.

»Kaum welche«, antwortet Kyra. »Ungefähr fünf.«

»Also im Vergleich viel zu viele Teenagermädchen und junge Frauen unter fünfundzwanzig«, fasst Jan Anne zusammen, als er wieder zurücktritt. Er brummt etwas und setzt sich an seinen PC. Ohne etwas zu sagen, beginnt er, mit der Maus herumzuklicken. Kyra sieht sich die Papiere an, die an der Wand hängen. Gezeitentabellen. Telefonnummern. Ein Ausdruck der Homepage eines Restaurants in Norwegen. Es liegt in dem Wohnort des Mannes, der über ihre Schwester ausgesagt hat. Der Sarina nackt und mit blutigen Füßen die Straße entlangrennen sah. Gehetzt. Verwirrt. Kyra ballt die Fäuste und versucht, an etwas anderes zu denken.

»Was sagen deine amerikanischen Freunde dazu?«, fragt Jan Anne nach einer Weile.

»Mit denen habe ich noch nicht geredet«, antwortet Kyra.

»Und die Engländer?«

»Auch mit denen habe ich noch nicht gesprochen«, erklärt sie. »Die wollen mich aus allem raushalten. Ich darf nicht mal mit Vincent …«

»Ich weiß«, unterbricht sie Jan Anne. »Ist auch nicht weiter verwunderlich. Du bist weder Expertin noch Polizistin.«

»Na ja …«, beginnt Kyra.

»Und ziemlich jung«, fährt Jan Anne fort.

»Das ist doch kein Argument«, sagt Kyra wütend. »Manche Spitzensportler sind auch jung. Und trotzdem leistungsfähig und erfolgreich.«

Der alte Mann antwortet nicht. Er schreibt offenbar eine Mail. Kyra fühlt sich allmählich unbehaglich dabei, die ganze Zeit nur untätig im Zimmer herumzustehen.

»Ich würde mal recherchieren, wo die identifizierten toten Frauen zuletzt gesehen wurden«, schlägt Jan Anne vor. »Du weißt, wo sie aufgetaucht sind, aber du musst an die Quelle, dorthin, wo sie verschwunden sind. Komm, nimm dir einen Stuhl.«

»Das männliche Opfer hat über dreißig Stichwunden«, stellt Barbara Ruigbot fest. »Einige Stiche haben den Oberkörper vollständig durchdrungen.«

Das Team von Maud sitzt schweigend da. Es passiert nicht oft, dass sich die Staatsanwältin bei einem Teammeeting blicken lässt. Maud überlässt ihr das Reden. Dies ist nicht der richtige Zeitpunkt, um lange darüber zu diskutieren, wer hier die Leitung übernehmen soll, und außerdem fühlt sie sich zu erschöpft für diese Art von Rangelei. Das ist der Nachteil des Berufs, den sie so sehr liebt: der unablässige Strom von Gewalt und psychischer Belastung.

»Das weibliche Opfer hat gravierende Verletzungen im Gesicht.« Barbara schweigt für einen Moment. »Die Nase ist gebrochen, der Unterkiefer ist gebrochen. Und ihre Augen wurden durchbohrt. Wahrscheinlich wurde ihr mit dem Hammer auf den Kopf geschlagen. Beiden Opfern wurde die Kehle durchgeschnitten.«

Ein angespanntes Schweigen tritt ein.

»Scheißkerl!«, flucht John schließlich. Er sitzt vornübergebeugt auf seinem Stuhl, sein ansehnlicher Bauch ruht auf seinen Oberschenkeln.

»Es ist wirklich grauenvoll«, sagt Barbara tonlos. »Wir müssen diesen Fall lösen. Das ist mir sehr wichtig. Maud?«

Maud erklärt, wie die Aufgaben verteilt werden sollen.

»Die Kriminaltechnik ist nach wie vor mit der Spurensicherung beschäftigt«, erklärt sie. »Das ganze Haus wird Quadratzentimeter um Quadratzentimeter durchkämmt. Das Labor hat auch noch eine Weile zu tun. Für uns steht jetzt als Erstes die Befragung der Nachbarn auf dem Programm.«

»Was ist mit den Angehörigen?«, fragt Thomas Kuipers. Er gähnt. Kommt gerade aus dem Nachtdienst, hat sich aber geweigert, nach Hause zu gehen, als er von dem Mord an den beiden alten Leuten erfahren hat.

»Die beiden Toten haben vor einigen Jahre ihre jeweiligen Lebensgefährten verloren«, erzählt Niels. »Aber beide haben Kinder. Bep hat zwei Söhne, Ab einen Sohn und eine Tochter.«

»Das war bestimmt ein Schock für sie, oder?«, fragt John. »Solche alten Leutchen«, fährt er kopfschüttelnd fort. »Und diese Gewalt!«

»Einer von Beps Söhnen hat ein bisschen seltsam reagiert«, berichtet Niels. »Ungerührt. Er hat mir lauter theoretische Fragen gestellt, über die Verletzungen und so weiter, und er hat gefragt, ob es Einbruchsspuren gegeben habe.«

»Schnell unter die Lupe nehmen«, rät John.

»Genau«, stimmt Maud zu. »Mir scheint, das ist die passende Aufgabe für dich, John.«

John grinst zufrieden. »Geht klar«, sagt er.

»Myrna«, sagt Maud. »Unterstützt du John?«

Myrna, die Jüngste im Team, nickt.

»Jolanda«, fährt Maud fort. »Thomas und du, ihr recherchiert alles zu den beiden Opfern. Vermögen. Schulden. Sonstige Besonderheiten. Ich will wissen, was das für Leute waren.«

»Wir vermuten, dass die Morde am frühen Morgen verübt wurden«, sagt Barbara. »Der Kaffee stand bereit, die Betten waren noch nicht gemacht.«

»Ich glaube nicht an Raubmord«, sagt John. »Wenn man einbrechen will, dann doch nicht zu einem Zeitpunkt, an dem die alten Leute zu Hause sind. Warum nicht warten, bis sie kurz weg sind, zum Einkaufen oder so? Oder mal für einen Tag bei den Kindern?«

»Vielleicht war es tatsächlich kein Raubmord«, schließt Myrna sich an. »Vielleicht sind sie aus einem anderen Grund gekommen.«

Schweigen tritt ein. Myrna hat recht, denkt Maud. Ein Raubmord so früh am Tag, derart brutal, warum?

»Halb über die Frau ausgebreitet lag eine Bahn Frischhaltefolie«, zählt Niels weiter die Einzelheiten des Mordes auf und deutet auf ein Foto an der Wand.

»Merkwürdiges Zeichen«, bemerkt John. Die Folie ist zu einer lang gezogenen Rolle zusammengeklebt, die in einer geraden Linie, unterbrochen von einer Art Schlinge, auf dem weiblichen Opfer und auf dem Boden neben ihr liegt.

»Sieht aus wie ein Omega«, sagt Niels. »Wir wissen nicht, ob das eine Bedeutung hat. Wir untersuchen das Material auf Fingerabdrücke.«

»Viel Spaß«, brummt John. »Glaub nicht, dass du noch einen darauf findest.«

»Das Omega ist das Zeichen für die Einheit, in der elektrischer Widerstand gemessen wird«, bemerkt Myrna nachdenklich.

»Ja?«, fragt John. »Also?«

»Keine Ahnung.« Myrna schüttelt den Kopf. »Ich denke nur laut.«

»Das kannst du in deiner Freizeit machen«, knurrt John. Sogar für seine Verhältnisse ist er schlecht gelaunt. »Sonst noch was, Maud? Ich will loslegen.«

Maud schüttelt den Kopf. »Ich glaube, wir haben vorläufig genug zu tun.«

Sie stehen auf und gehen schweigend an ihre Arbeitsplätze. Dass zwei wehrlose alte Menschen auf eine so grausame Art und Weise abgeschlachtet wurden, berührt sie alle.

»Maud«, sagt Barbara. »Hast du noch einen Moment? Mir ist etwas im Zusammenhang mit Kyra Slagter eingefallen.«

»Was weißt du über Verhörtechniken?«, fragt Jan Anne. Sie sitzen mit einer Tasse Tee am Wasser hinter seinem Garten. Bei den Recherchen bezüglich der angeschwemmten Frauen sind sie in eine Sackgasse geraten. Kyra hat bisher nur bei zwei von ihnen herausgefunden, wo und unter welchen Umständen sie verschwunden sind. Beide in einer Küstenstadt, einem Urlaubsort, Hunderte Kilometer von der Stelle entfernt, an der sie schließlich gefunden wurden.

Kyra runzelt die Stirn. »Offene Fragen stellen«, beginnt sie. »Und nicht zu viele auf einmal, am besten immer nur eine. Mit leichten beginnen, später zu den schwierigen übergehen.« Sie denkt kurz nach. »Möglichst ein Vertrauensverhältnis zu dem Befragten aufbauen.«

Dann fällt ihr nichts mehr ein.

»Wenn ich Vincent wäre …«, beginnt Jan Anne, und sofort hat Kyra einen Knoten im Bauch. Dieser Mann weiß, wo Sarah ist. Hat Informationen über ihre Schwester. Wie hätte sie ihn in London anpacken müssen? Sie ist schuld, dass er dichtgemacht hat und kein Wort mehr sagen wollte. Doch inzwischen hat er die Polizei wissen lassen, dass er doch reden wolle, wiederum ausschließlich mit ihr. Wenn man es ihr doch erlauben würde, wenn man ihr nur irgendetwas erlauben würde!

»Wenn ich Vincent wäre«, wiederholt Jan Anne. »Was würdest du mich dann fragen?«

Wo Sarina ist? Wo Sarah ist? Was geschehen ist? Aber das würde er ihr natürlich nicht einfach so erzählen.

»Ich würde ihn fragen, wie ihm die Arbeit in der Klinik gefallen hat.«

Vincent ist ein Meisterbetrüger. Er hat sich stets als verheirateter Mann und Vater von zwei Kindern ausgegeben, als Mann mit festem Job, der nebenbei als Unternehmensberater arbeitet. In Wirklichkeit ist er weder verheiratet noch hat er Kinder oder eine Arbeit, jedenfalls keine länger als ein halbes Jahr. Sein Vermögen hat er dadurch erworben, dass er mithilfe der großzügigen Zuwendungen seiner Eltern an der Börse spekulierte. Dadurch ist er ein reicher Mann geworden. Ein Scheißkerl, aber ein wohlhabender.

»Vielleicht würde ich ihn fragen«, fährt Kyra fort, »wie er es geschafft hat, in einer renommierten Klinik eine Stelle als Psychologe zu ergattern. Ich glaube, er ist stolz darauf. Vielleicht würde er sogar damit angeben. Er tut so bescheiden, ist aber eigentlich ein eitler Fatzke.«

»Kann sein«, sagt Jan Anne. »Und was machst du, wenn er nicht anbeißt?«

Kyra trinkt einen Schluck Tee und starrt vor sich hin. Sie sieht ihn vor sich, ihn, der früher in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft gelebt hat. Vincent. Das dunkelblonde Haar, die blauen Augen, den durchtrainierten Körper. Nicht hübsch, aber auch nicht unattraktiv, ganz normal und doch ein Ungeheuer.

»Was willst du mit deinen Fragen erreichen?«, bohrt Jan Anne weiter, als Kyra schweigt. »Wo soll das Verhör hinführen?«

»Ich will wissen, wo Sarah ist«, antwortet sie sofort. »Was er von Sarina weiß, wo sie ist und was geschehen ist!«

»Warum hat er letztes Mal dichtgemacht, als du ihn befragt hast?«

»Er hat gespürt, wie wichtig seine Informationen für mich waren. Ich bin laut geworden. ›Sag es mir!‹, habe ich ihn angefahren, und da …«

»Spätestens da hat er gespürt, wie sehr du dich nach Antworten sehnst …«

»Und mein Verhalten hat ihm nicht gepasst. Ich hätte ihn nicht so grob angehen dürfen, sondern freundlich bitten müssen.«

»Er wollte, dass du ihn anflehst.«

»Ja.«

»Und dann?« Jan Anne sieht sie an.

»Ich habe ihn gefragt, ob er es mir sagt, wenn ich ihn höflich darum bitte«, antwortet Kyra.

»Du hast ihn auf die Probe gestellt.« Jan Anne nickt und wendet den Blick von ihr ab. Jenseits des Wassergrabens grasen ein paar Kühe auf der Weide.

»›Ich lüge nicht‹ – das war das Einzige, was er darauf erwidert hat. Und dass er weiter nichts mehr zu sagen hätte.«

Wieder nickt Jan Anne.

»Wie hat das Gespräch begonnen?«, fragt er nach ein paar Minuten.

»›Schön dich zu sehen‹, hat er zu mir gesagt. Ich habe erwidert, es ist lange her, woraufhin er geantwortet hat: ›Nicht für mich, nicht für mich.‹«

»Hattest du ihn davor tatsächlich noch einmal gesehen?«

Kyra schüttelt den Kopf.

»Nein, aber in meinem Mac hat ein Keylogger gesteckt, weißt du noch? Es wurden zwar keine Spuren von Vincent in meinem Zimmer gefunden, aber ich glaube trotzdem, dass er ihn dort hinterlassen hat.«

»Er ist vermutlich öfter in deiner Nähe gewesen, als dir bewusst war.«

»Er verlangt nicht umsonst nach mir«, sagt Kyra.

»Nein, bestimmt nicht.«

»Und er sagt, er freue sich, mich zu sehen. Ob es so einfach ist? Ob wirklich nichts weiter dahintersteckt?«

»Ich weiß nicht«, antwortet Jan Anne. »Noch nicht. Komm mit.« Er steht auf. »Wir machen uns doch mal an die Arbeit. Wir setzen uns an den Küchentisch und trainieren Verhörtechniken.«

3

Es ist die Art von Gegend, in der er sich zu Hause fühlt. Mit Brettern vernagelte Fenster. Geschäfte, die mit graffitibeschmierten Rollläden verrammelt sind. Müll in den Straßen. Eigentlich stören ihn nur die Gruppen von jungen Männern, die hier und da herumhängen. Normalerweise würde er sie gar nicht wahrnehmen, heute sind sie ihm lästig.

»Die Ware wurde ans Zwischenlager geliefert«, hat Vincent ihm vorgestern gemailt. »Zwischenlager« bedeutet, dass etwas schiefgelaufen ist. Als er in dem Forum nachgeschaut hat, wo sie unter falschen Namen Informationen austauschen, hat er gesehen, dass Vincent ihm dort einen Screenshot des Standortes inklusive Koordinaten und Beschreibung hinterlassen hatte. Trotzdem läuft er jetzt schon seit einer Viertelstunde hier herum und hat den weißen Kleinbus immer noch nicht gefunden. Schlimmer noch: Er fällt allmählich auf. Wenn er nicht wüsste, was in dem Bus steckt, hätte er längst die Biege gemacht, aber diese Chance – sie! – kann er sich unmöglich entgehen lassen.

Hinter einer kleinen Mauer bleibt er stehen, öffnet noch einmal das Foto und vergrößert es. Aber er befindet sich doch in der Straße, wo der blaue Punkt den Standort markiert! Diese elenden Karten auf dem Handy sind eben nicht immer genau. Vielleicht sollte er es eine Straße weiter südlich versuchen – oder doch eher nördlich.

»Hey, Kumpel«, spricht ihn ein kleiner Typ mit Bärtchen an. Er hält den Kopf schräg und kneift die Augen leicht zusammen. Er hat seine Kumpel mitgebracht. Sie alle tragen Strickmützen, obwohl das Thermometer weit mehr als zwanzig Grad anzeigt. »Was hast du hier zu suchen?«

»Geht dich gar nichts an«, antwortet er barsch. Wenn man ihn einfach in Ruhe ließe, könnte er sein Ding durchziehen und schnell wieder von hier abhauen.

»Hier geht mich alles an«, erwidert der Typ seelenruhig. Einer seiner Kumpel hinter ihm lässt seinen Bizeps spielen. Wie beeindruckend! Jetzt kriegt er es aber mit der Angst zu tun, haha.

Er räuspert sich und spuckt einen dicken Schleimklumpen direkt neben die Füße des Typen.

»Dann mach ich mich jetzt mal auf«, sagt er. Er hat anderes zu tun, Besseres. Er steckt das Handy in die Hosentasche und tritt einen Schritt beiseite. Nie dem Gegner den Rücken zukehren. Er nimmt die Hände vor den Brustkorb, die Handflächen nach innen, um sofort eine Faust ballen zu können. Immer bereit sein, immer für Deckung sorgen – alle seine Muskeln sind angespannt. Der Bodybuildertyp stellt sich ihm in den Weg.

»Du hast mir nicht geantwortet«, sagt der Kleine. »Was hast du hier zu suchen?«

Es wird zum Kampf kommen, daran führt kein Weg vorbei. Er hat ja oft Lust, sich zu prügeln, aber diesmal passt es ihm nicht in den Kram. Er macht einen kleinen, tänzelnden Schritt nach vorn, es ist, als schwebe er über dem dreckigen Bürgersteig, eine Hand schnellt nach vorn und trifft den Bodybuilder voll auf den Unterkiefer. Das Weichei geht gestreckt zu Boden. In einer fließenden Bewegung verpasst er einem der anderen Typen, der auch ziemlich stark aussieht, einen Mawashi-Geri in die Seite. Der Typ greift sich an die Rippen und schnappt nach Luft. Als sein Fuß wieder den Boden berührt, holt er aus, nutzt den Schwung der Bewegung und drischt seinem Gegner die Knöchel an die Schläfe. Sein Blick und der des kleinen Bärtigen, der sich keinen Zentimeter vom Fleck bewegt hat, treffen sich. Einen Moment lang stehen sie reglos da, gefroren in der Zeit. Er hebt seinen Zeigefinger und deutet warnend auf die zwei Typen am Boden. Die anderen weichen zur Seite. Er setzt seinen Weg fort. Vielleicht sollte er den Kleinbus doch in London zurücklassen. Eigentlich kann ihm das Ding samt Inhalt gestohlen bleiben.

4

»Die Briten stören sich hauptsächlich daran, dass Kyra Zivilistin ist«, erklärt Barbara Ruigbot und streicht mit ihrer mageren Hand ein paar Strähnen ihres kurzen, fast weißen Haares glatt.

»Aber es ist doch nicht unüblich, dass externe Spezialisten hinzugezogen werden. Das machen wir ja auch.«

»Schon.« Barbara nickt und zieht die Brauen hoch, die hellen Augen fest auf Maud geheftet. »Aber keine Spezialisten von gerade mal zwanzig Jahren.«

Maud seufzt. »Ich hasse das. Dass alles immer so zäh verläuft! Ausgerechnet jetzt, wo wir einen Hinweis haben, eine brauchbare Spur!«

»Ich habe mir also gedacht«, fährt Barbara ungerührt fort, »dass wir Kyra einfach unter Vertrag nehmen, befristet für ein halbes Jahr, einen Tag pro Woche.«

Maud sieht die Staatsanwältin mit offenem Mund an.

»Dann ist sie keine Zivilistin mehr«, erläutert Barbara achselzuckend.

»Kriegst du das hin?«, fragt Maud.

Barbara schiebt ihr ein Blatt Papier hinüber. »Ein Zeitvertrag. Als Ermittlungsassistentin im Fall Sarina, der jetzt offiziell wieder aufgerollt wird und den Codenamen … Saavreda erhält.«

»Saavreda.« Maud ächzt. »Wer denkt sich bloß immer solche Namen aus? Und glaubst du im Ernst, dass die Briten jetzt nachgeben werden?«

»Ich habe schon Kontakt mit meinem Kollegen in England aufgenommen und einen Antrag eingereicht. Jetzt, wo Kyra offiziell Mitglied des Untersuchungsteams ist, können sie sich im Grunde nicht mehr weigern. Ich erwarte heute oder morgen eine Antwort. Wenn sie sich querstellen, können wir immer noch das Ministerium bitten, Druck zu machen.«

»Hut ab, Barbara.« Maud lächelt die albinogleiche Staatsanwältin an. Auch wenn sie sonst eher kritisch und spröde ist, heute ist sie doch ausnehmend freundlich und entgegenkommend.

»Könntest du Kyra kontaktieren und sie fragen, ob das etwas für sie wäre?«

»Ich rufe sie gleich an.« Maud wirft einen Blick auf den Vertrag und sieht dann wieder Barbara Ruigbot an. »Vielleicht kommen wir Sarina Slagter so tatsächlich einen Schritt näher.«

»Das reicht für heute«, beschließt Jan Anne, steht auf, füllt den Wasserkocher und nimmt eine Teedose aus dem Schrank. Sie sitzen im Haus, wo es angenehm kühl und still ist. Gegenüber der Küchenzeile steht ein großes Büfett, und den Ascheresten nach zu urteilen benutzt Jan Anne regelmäßig den Kamin. Wenn auch nicht an diesem Sommertag.

»Hier, die hast du dir verdient«, sagt Jan Anne und wirft ein Päckchen Sirupwaffeln auf den Tisch. Dann schenkt er Tee ein. »Setzen wir uns noch ein bisschen ans Wasser?«

Als sie das durchgesägte Ruderboot erreicht haben, das als Bank dient, sieht er sie an: »Ich schlage vor, du nimmst Kontakt zu Grigor auf.« Kyra wartet, bis der alte Mann sich gesetzt hat, und nimmt dann neben ihm Platz. Die Kühe grasen noch immer auf der anderen Seite des Wassergrabens. Was für ein Leben! Grasen, wiederkäuen, hier und da einen Fladen fallen lassen, grasen, wiederkäuen, gemolken werden. Mehr nicht.

»Er hat die nötigen Kontakte, um sich mit Leichtigkeit Zugang zu allen wichtigen Datenbanken zu verschaffen«, fährt Jan Anne fort. »Ich habe hier nur Zugang zu den europäischen.«

»Wonach sollen sie suchen?« Kyra pustet über ihren Tee und trinkt einen Schluck. Aus den Augenwinkeln lugt sie nach dem Päckchen Sirupwaffeln. Zucker mit Zucker und noch mehr Zucker.

»Ich möchte wissen, ob es weitere Gebiete gibt, in denen eine überdurchschnittlich hohe Anzahl junger Frauen angeschwemmt wurde«, sagt Jan Anne. »Vielleicht an den Küsten der Karibik, in Australien, Thailand oder rund um das Mittelmeer? Wir müssen vor allem in touristischen Regionen suchen.«

Er hat recht. Irgendwie hat sie nur an die Nordsee gedacht, aber vielleicht geht das Ganze noch viel weiter. Möglicherweise ist er auch an anderen Orten aktiv gewesen. Jerry Hasting. Der unsichtbare, unauffindbare Mann, der ihre Schwester verschleppt und missbraucht hat. Rasch stellt sie die Tasse Tee hin und konzentriert sich auf das Öffnen der Waffelpackung. Sie nimmt eine heraus, gibt sie Jan Anne, nimmt selbst auch eine und beißt ein großes Stück ab. Knusprig von außen, weich von innen und süß, so süß.

Als sie den letzten Rest hinunterschluckt, klingelt ihr Handy.

»Das ist Maud«, sagt sie zu Jan Anne. »Ich geh mal eben ran.«

Jan Anne grinst.

»Würde ich an deiner Stelle auch tun«, sagt er.

Maud sitzt an ihrem Schreibtisch. Papierkram. Berichte schreiben. Begründungen. Budgetierung. Alles notwendige Übel, aber die Arbeit widerstrebt ihr weniger als sonst. Obwohl der Mord an den zwei alten Herrschaften ein ziemlich grausiger Fall ist, ist sie optimistisch gestimmt. Ein solches Massaker richtet man nicht an, ohne Spuren zu hinterlassen. Vielleicht hilft der Schuhabdruck ihnen weiter. Oder sie stoßen noch auf einen in der Eile hinterlassenen Fingerabdruck. Irgendwo muss etwas zu finden sein!

John ist davon überzeugt, dass Beps Kinder etwas mit den Morden zu tun haben. Bep hatte Geld. Mehrere Immobilien, ein gut gefülltes Bankkonto. Keine Millionen, aber dennoch genug, um sehr angenehm davon leben zu können. Und dann will die betagte Mutter plötzlich den Freund heiraten, mit dem sie seit zwei Jahren zusammen ist. Da geht das schöne Geld dahin, man muss es plötzlich teilen, mit Ab und auch mit dessen beiden Kindern.

Maud kann sich nicht vorstellen, dass es sich so verhält, aber sie weiß auch, dass man in solchen Fällen nichts ausschließen darf, selbst wenn man sich ein bestimmtes Szenario nicht vorstellen kann oder man der Familie mit einem Verdacht auf die Füße tritt. Natürlich werden Beps Kinder sie mit Vorwürfen überschütten, wenn sie sie damit konfrontiert. Ob die Polizei total verrückt geworden sei, ob sie nicht genug Kummer hätten, ob das Ganze nicht schlimm genug sei. So geht das immer. Und doch muss man diese Schlammschlacht durchstehen. Will man gründlich ermitteln, kommt man nicht umhin, sich ab und zu die Hände schmutzig zu machen.

Maud schiebt ihre Tastatur weg und breitet die Fotos vom Tatort fächerförmig auf ihrem Schreibtisch aus. Die Blutspritzer ziehen sich hoch bis zur Decke. Gebrochene Knochen. Aufgeplatztes Fleisch. Große, dunkle Flecken auf den Teppichen. Sie öffnet eines der Fotos auf ihrem PC und vergrößert die Hand des Mannes. Sie ist geschwollen und auf dem Handrücken scheint sich ein Bluterguss gebildet zu haben. Sie greift zum Telefon und ruft im Labor an.

»Dieser Bluterguss auf Abs Hand«, sagt sie. »Kann es sein, dass er sich gewehrt hat? Dass er einen der Täter mit der Faust erwischt hat?«

»Augenblick.« Sie hört die Schritte des Rechtsmediziners. In Gedanken sieht sie den alten Mann auf dem Autopsietisch liegen. Nackt. Weiß. Gebrochen.

»Sie haben recht«, antwortet der Mediziner. »Ich greife jetzt den endgültigen Untersuchungsbefunden etwas vor, aber es könnte in der Tat ein Boxerbruch sein.«

Ein kurzes Schweigen tritt ein.

»Ich sehe auch Verletzungen an den Knöcheln.«

»Er hat also gekämpft«, schlussfolgert Maud.

»Sieht ganz danach aus.«

Sie bedankt sich, legt auf und schaut auf die Uhr. Kyra kann jeden Moment kommen.

»Eine Unterschrift?«, hat die junge Frau sie am Telefon gefragt. »Warum brauchen Sie eine Unterschrift von mir?«

Sie hat geglaubt, Maud nehme sie auf den Arm, und Jan Anne musste einschreiten, um ihr klarzumachen, welche Chance sie da hatte.

»Ich komme gleich«, versprach sie, als sie schließlich verstanden hatte. »Ich springe sofort aufs Fahrrad. Bin in einer halben Stunde da.«

Es ist gut, dass in Sarinas Fall – »Operation Saavreda«, sollte sie sagen – wieder Bewegung gekommen ist. Maud lässt sich von ihrer Arbeit nicht so schnell aus dem Gleichgewicht bringen, aber die Hilflosigkeit, die sie empfand, als sich herausstellte, dass Vincent Sarah entführt hatte, und als er sich weigerte zu verraten, wo sie sich befand, hatte ihr nächtelang den Schlaf geraubt.

Jetzt, wo wahrscheinlich ist, dass Kyra mit Vincent wird reden können, tauchen die Fragen wieder auf, die sie sich während dieser nächtlichen Stunden gestellt hat. Was soll sie mit den Informationen anfangen, die sie von Carla erhalten hat? Darf sie ihr Vertrauen missbrauchen? Andererseits: Ist es zu verantworten, nichts damit anzufangen?

Vertraulich, stand auf dem Brief, den Carla ihr geschickt hat. Unter keinen Umständen darf dies öffentlich gemacht werden oder irgendeinem deiner Kollegen zu Ohren kommen. Ich gebe dir hiermit Hintergrundinformationen, zur Unterstützung bei deinen Ermittlungen. Aber ich will nicht, dass irgendjemand außer dir davon erfährt. Die Scham ist zu groß. Und auch die Gefahr.

Da sitzt sie also auf einer brandheißen, ja explosiven Geschichte und darf sie nicht verwenden. Noch nicht.

Wenigstens hat sie eine Liste mit Namen, die sie überprüfen kann, darunter Freunde und Freundinnen von Carla aus der Zeit, in der sie noch bei ihren Eltern gewohnt hat. Unter ihnen befindet sich ein alter Bekannter: Willem de Jong, Kyras ehemaliger Mathelehrer, den sie vor gut einem Jahr im Fall von Marc Gaullier – dem ermordeten Kunstlehrer – vernommen hat. Sie hat sich vorgenommen, noch einmal mit ihm zu reden. Ein geeigneter erster Schritt auf einem Weg, von dem sie noch nicht weiß, wohin er sie führen wird.

»Herzlichen Glückwunsch«, sagt Maud kurz darauf zu einer strahlenden Kyra. »Zu deiner ersten Stelle bei der Kripo.«

»Kollegin!« Niels Bingsten klopft Kyra kräftig auf die Schulter.

»Vielen Dank«, sagt sie. »Oje. Das ist echt verrückt! Vielen, vielen Dank.«

»Die Staatsanwältin arbeitet jetzt daran, die Engländer zu überzeugen«, erklärt Maud. »Ich rechne damit, schon bald von ihr zu hören.«

»Das bedeutet«, ergänzt Niels, »dass wir demnächst nach England fahren. Du zu Vincent, in Begleitung von Maud. Und ich muss dort auch noch eine Reihe von Leuten befragen.«

»Okay«, sagt Kyra.

So schüchtern hat Maud sie noch nie erlebt. Vielleicht macht ihr der Gedanke, dass sie Vincent jetzt tatsächlich vernehmen kann, Angst?

Als hätte sie ihre Gedanken gelesen, sagt Kyra: »Ich habe schon eine Verhörstrategie ausgearbeitet.« Na dann mal los, Frau Kollegin.

»Aber ich würde gerne eure Meinung dazu hören«, fährt die junge Frau fort. »Und ich möchte noch weiter mit Jan Anne üben.«

»Denk einfach noch mal gründlich über die Gespräche mit Vincent nach«, rät Niels. »Wir können auf dem Weg nach London darüber reden oder uns vorher zusammensetzen, wenn du willst. Wir alle hatten schon öfter mit solchen Typen zu tun.«