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© Brendan King / National Portrait Gallery, London

J. L. Carr wurde 1912 in der Grafschaft Yorkshire geboren und starb 1994. Nachdem er jahrelang als Lehrer gearbeitet hatte, gründete er 1966 einen eigenen Verlag und verfasste acht Romane. ›Ein Monat auf dem Land‹ (DuMont 2016) war 1980 für den Bookr-Preis nominiert. Bei DuMont erschien außerdem ›Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten‹ (2017).

Monika Köpfer war Lektorin bei zwei Münchener Publikumsverlagen und ist heute freie Lektorin und Übersetzerin. Zu den von ihr übersetzten Autoren zählen u. a. Naomi J. Williams, Richard C. Morais, Milena Agus, Fabio Stassi, Theresa Révay, Mohsin Hamid und Richard Russo.

J. L. Carr

EIN TAG
IM
SOMMER

Roman

Aus dem Englischen
von Monika Köpfer

 

 

 

 

Was ist die Welt? Was ist des Menschen Los?

Vom Schoß der Liebe sinkt er in den Schoß

Des kalten Grabes einsam und allein.

Geoffrey Chaucer, Canterbury-Erzählungen

MORGEN

DIE LOKOMOTIVE DAMPFT mit ihren drei Waggons im Schlepptau durch die Ebene.

Die Stadt hat sie weit hinter sich gelassen und mit ihr ihre Menschen, vielzählig und anonym, ihren ziellosen Tätigkeiten nachgehend; und dieser Zug, der gemächlich durch die frühmorgendliche Dunkelheit rattert, bringt ihn von dort weg. Er ist im Grunde ein gewöhnlicher Mann. Sein bisheriges Leben verlief unauffällig, aber was er heute tut, wird es bemerkenswert machen und ihn selbst mit einem Schlag zu einem außergewöhnlichen Menschen, der in dem Städtchen, in das er jetzt fährt, noch viele Jahre unvergessen bleiben wird.

Gerade erst beginnen sich unscharfe Umrisse aus der Dunkelheit und dem Mai-Nebel herauszuschälen: Hecken, Holzstöße, ein paar Ochsen, die sich träge unter einem Kastanienbaum regen, ein Bauernhof, Schornsteine und Dächer, ein steinerner Reiter auf seinem tänzelnden Ross inmitten eines steinernen Platzes und, auf dem Hügel jenseits davon, eine Kirche in ihrem Kirchhof, alles grau, undeutlich. In dem weiten Tal zieht ein Fluss eine dunklere Linie zwischen den schilf- und weidenbestandenen Ufern, wo eine verfallene Mühle steht. Ein Wald erhebt sich wie ein Meereswesen und schüttelt die Dunkelheit ab: Glockengeläut setzt ein.

Und schon von Weitem hört man diesen Zug sich nähern.

* * *

ALLEIN IM ABTEIL und in die Ecke seines Fenstersitzes gekauert, hob Peplow den Kopf und streckte die Glieder, um die Müdigkeit zu vertreiben, nachdem er sich noch ein wenig zu schlafen gezwungen hatte. Er war steif und fror: Sein ganzer Körper fühlte sich kalt an. An der gegenüberliegenden Trennwand, im Schatten der Gepäckablage, hing das Porträt einer Kleinstadt. Er nahm es in Augenschein und versuchte, das Motiv zu erkennen.

Felixstowe … Folkestone? Einer dieser Küstenorte mit einem blauen Meeresteppich davor, die alle mit »F« begannen. Für Folkestone war das dargestellte Städtchen zu flach. Vielleicht tatsächlich Felixstowe? Und wie sah noch mal Falmouth aus? Folkestone, Felixstowe, Falmouth, Fernandez Po, Fairyland … Great Minden. Er sollte sich besser auf Great Minden konzentrieren: Allzu weit konnte es nicht mehr sein.

Great Minden. Nur ein Name, weiter nichts! Ein Ort, an dem ich diesem Mann begegnen werde! Wie merkwürdig, ein kleines Städtchen, kaum größer als ein Dorf, wo lauter Fremde wohnen, zu denen weder er noch ich eine Verbindung haben, dachte er.

Noch nie habe ich mir ohne Erlaubnis einen Tag freigenommen, sinnierte er weiter, nicht einmal in der Schule habe ich geschwänzt und später bei der Fliegerstaffel auch nicht. Vielleicht hätte ich doch mit dem Filialleiter reden sollen.

[»Ich wollte fragen, ob es möglich wäre, dass ich mir Freitag freinehme?«

»Ich denke schon. Ist jemand krank? Eine dringende Angelegenheit?«

»Nein – nun, ja und nein. Um genau zu sein, muss ich aufs Land fahren und dort einen Mann erschießen. Ja, genau, einen Mann. Der Ort heißt Great Minden. Vielleicht haben Sie den Namen schon mal gehört?«

»Ach tatsächlich, Great Minden? Eine Tante von mir hat dort in der Nähe gewohnt. Ich hoffe, Sie halten es nicht für unverfroren, wenn ich mir erlaube zu fragen, wer … wen?«

»Es handelt sich um den Mann, der letzten Sommer meinen Jungen totgefahren hat. Er läuft in einem Jahrmarktgewand herum und wird meines Wissens nach am Freitag auf der dortigen Kirchweih sein. Es wäre also eine günstige Gelegenheit für mich.«

»Natürlich! Dann sehen wir Sie also Samstag wieder? Oder am Montag?«

»Nun, nein. Ich habe mehr oder weniger beschlossen, es wäre besser für mich, mir ebenfalls den Gnadenschuss zu geben. In aller Ruhe, auf der Rückfahrt, wenn alles erledigt ist. Damit ließe sich das peinliche Prozedere umgehen, das eine solche Sache in der Regel nach sich zieht. Sie verstehen bestimmt, was ich meine.«]

Er spürte wieder das vertraute nervöse Pochen an den Schläfen und setzte sich abrupt auf. Genau so hatte er sich gefühlt, als die Plauderei beim Morgenkaffee ins Stocken geraten war und er zum ersten Mal die verstohlenen Blicke seines Vorgesetzten bemerkt hatte, und auch als seine Frau unvermittelt in Tränen ausgebrochen war, während sie im Garten saßen.

Steif stand er auf und stapfte unsicher zwischen den Sitzen auf und ab, um nach einer Weile innezuhalten und in den Spiegel zu schauen. Sein Gesicht starrte erbarmungslos zurück. Interessiert musterte er das ordentlich gescheitelte Haar, das kurz geschnitten war, um von seinem fortschreitenden Ergrauen abzulenken, den makellosen Kragen, die Kricket-Club-Krawatte.

»Ha, der typische Bankangestellte«, sagte er ziemlich laut und setzte sich wieder.

Hilda hat mir meine Geschichte, dass ich am Donnerstag bis spätabends arbeiten müsse und es angebracht sei, in der Stadt zu übernachten, nicht wirklich abgenommen. Sie hat mir nicht geglaubt, aber es hat sie nicht sonderlich gekümmert. Nicht weiter verwunderlich, nehme ich an. Warum sollte es ihr auch etwas ausmachen? Die ganze Zeit schon halten wir die Fassade nur noch mit Mühe aufrecht. Aber bevor Tom getötet wurde …

Er langte in die Jackentasche seines Anzugs und tastete an seinem klobigen Militärrevolver vorbei nach seiner Uhr. Viertel vor sechs; in zwanzig Minuten würden sie in Great Minden ankommen. Der Morgen dämmerte herauf.

Er wischte mit der Hand über die beschlagene und beschmutzte Fensterscheibe, spähte desinteressiert hinaus und erblickte ein einzelnes Haus mit einem großen Baum davor, einer Kastanie, deren stachlige Blüten im Zwielicht schimmerten. Ein Gehöft, das ein wenig verloren inmitten der Felder lag, in einem Fenster im ersten Stock leuchtete ein mattes Licht; wenn er am Abend wieder zurückführe, würde er danach Ausschau halten. Er konnte es ebenso gut hier wie woanders tun.

Er schürzte trotzig die Lippen. Ob in der Schule, im Geschäftsleben, bei der Fliegerstaffel, sein ganzes Leben lang hatte er sich stets zurückgehalten, hatte am Rand gestanden, es vermieden, Stellung zu beziehen. Aber nun hatte man ihn aus dem Hintergrund hervorgezerrt, ihn gezwungen, auf irgendeine Weise Farbe zu bekennen. Er hatte lange dazu gebraucht, seit dem Freispruch. Aber besser spät als nie!

Wieder sah er auf die Uhr, nahm dann seine Aktentasche von der Gepäckablage und schritt zum Waggonausgang.

Dann machte er plötzlich kehrt, um nochmals das Bild in Augenschein zu nehmen. Felixstowe! Sieht hübsch aus, dachte er. Wir hätten anstatt immer nur nach Cornwall zur Abwechslung mal dorthin fahren können.

Der Zug begann zu bremsen. Great Minden.

* * *

HERBERT RUSKIN, DER BEREITS am Fenster seines Zimmers im ersten Stock saß, von wo man auf den kleinen Platz blickte, drückte seine erste Zigarette aus und rückte seinen Rollstuhl ein wenig nach hinten, um sich trotz seines massigen Körpers auf dem Fensterbrett abstützen zu können. Er sah auf den steinernen Reiter hinab und ließ den Blick über die Dächer hinweg zu dem Hügel jenseits davon schweifen.

Sommer! Herrlich, diese warmen Morgen, bevor die Ruhe und der Glanz durch Motorengeknatter und Abgase getrübt wurden! Diese langen Tage, lange, ruhige Sonnentage, offene Türen, Felder mit Salat, Erdbeeren, mit grüner, regloser Gerste, die große Kalkmauer der King’s Chapel matt im frühen Morgenlicht, und diese wunderbar stillen Wälder, die die Landebahn hinter Dover säumten und die man am frühen Morgen aus der Luft sehen konnte, wenn man von der Nachtpatrouille über der Küstenlinie zwischen Gravelines und Cherbourg zurückkehrte. Das waren die Tage, an die er sich am besten erinnerte. Er steckte sich eine weitere Zigarette an und dachte an vergangene Sommer.

Vom Flur draußen war ein Pfeifen zu hören, während Wasser durch die Rohre heraufrauschte – seine Vermieterin war aufgestanden. In dem Haus auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes wurde ein Vorhang ein klein wenig zurückgezogen, gerade so weit, um genügend Licht hereinzulassen, damit sich der Metzger anziehen konnte – Ruskin sah ihn mit der dicken Bauchbinde kämpfen, seine mit Flicken übersäte Hose hochzerren und sich im Mund herumfummeln, bis er seine grauenhaften dritten Zähne eingesetzt hatte. Oben, im Zimmer über ihm, knarrten die Federn von Crosers Bett, während sich dieser darin wälzte und tiefer unter die Steppdecke kroch.

»Ah, du denkst wohl an das wilde Gerangel gestern Nacht hinter der Hecke, du junger geiler Bock!«, murmelte Ruskin. »Welche war es diesmal? Baby Doll oder die Mieze aus dem Pfarrhaus?«

Wieder rief er sich die langen heißen Sommer zwischen 1940 und 1944 ins Gedächtnis. Vor allem den von 1944, ein wahrlich herausragendes Jahr.

»Neunzehnhundertvierundvierzig«, sagte er versonnen und betonte jede Silbe. »Mein letzter Sommer!«

Er wiederholte die Jahreszahl.

»Neunzehnhundertvierundvierzig!«

Ein letzter Sommer und ein letztes Abendmahl vor der Kreuzigung, bei dem ihm der Kelch an die Lippen gepresst worden war, ehe sein Körper in einer Explosion aus Schmerz entzweigerissen wurde. Dieser Sommer mit seinen herrlichen Vollmondnächten und ohne die kleinste Wolke am Himmel, hinter der er seine lächerliche Albacore hätte verstecken können, wenn er mit ihr übers Meer hinwegtaumelte. Dieser Sommer mit seinen langen Tagen, die sie im ungemähten und von Mohnblumen gesprenkelten Gras vor ihren Zelten zubrachten, wo sie sich in der Sonne räkelten. Dieser letzte Sommer voller banger Nächte über der Kontinentalküste, in denen er hinabspähte und nach dem verräterischen Kielwasser von Schnellbooten oder Küstenmotorschiffen Ausschau hielt, während sich Mullett an dem Tank zwischen ihnen zu schaffen machte, einem klobigen, mit Oktan gefüllten Toilettenspülkasten, und ringsherum Leuchtspurgeschosse durch die Luft sausten – und man unbedingt am Leben bleiben wollte.

Sich aneinanderreihende Tage voller Müßiggang und Nächte voller Angst – bis zu dieser letzten Stunde des letzten Sommers, dem Sturzflug auf einen unvermutet aufgetauchten Sperrbrecher und urplötzlich von allen Seiten Artilleriefeuer, das zwischen Tragflächen und Verspannungen hindurchschlug. Er erinnerte sich noch an die Explosion, die Flammen, den grauenhaften, unaufhaltsamen Fall, wie Äste den kollabierenden Flugzeugrumpf zerrissen, ein letztes Aufblitzen, Mulletts Schreie; und dann der Schmerz, scharf und grell wie das Feuer selbst, eine lodernde Brunst aus Angst und Demütigung und, hinterher, das Gefühl, dass etwas unwiederbringlich verloren war, dieses etwas und seine Beine. Und sein letzter Sommer ging über in eine neue Jahreszeit voller Qualen.

Er schnippte seine zweite halb gerauchte Zigarette durch das Fenster.

Da er gehört hatte, wie der Frühzug in den Bahnhof eingefahren war, überraschte es ihn nicht weiter, als er kurz darauf den einzigen Passagier, der ausgestiegen war, beobachtete, wie er auf den Platz einbog, flüchtig innehielt und sich umblickte. Wie ein Maß-und-Gewicht-Inspektor, kam Ruskin in den Sinn, eine respektable Erscheinung. Ein klein wenig erstaunt war Ruskin aber dann schon, als er erkannte, dass es sich um jemanden handelte, den er seit mehr als zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte und den wiederzusehen er auch nicht erwartet hatte.

Das ist das eigentlich Komische, dachte er, nichts überrascht mich mehr. Es ist, als säße ich in einem Tunnel, und vor mir liefen unentwegt und ungebeten Menschen hin und her. Croser, dieser entsetzliche Metzger von gegenüber, Bellenger, der Pfarrer und die Pfarrersmieze. Das alles ist verrückt, bedeutungslos.

Er lehnte sich nach vorn. »Peplow!«, rief er sanft. »Peplow!«

Der Mann drehte sich um, unsicher, wohin er blicken sollte, und hob, als er Ruskin entdeckte, die Hand, ungläubig, um nicht zu sagen: fassungslos.

»Komm hoch.« Ruskin deutete nach unten auf den Hauseingang. »Komm hoch, Peplow.«

Er schob sich im Rollstuhl vom Fenster weg.

Begeistert hat er nicht gerade gewirkt, dachte er. Ganz bestimmt nicht entzückt, aber weit mehr als bloß erschrocken. Was macht der denn in Minden?

Er atmete schwer, und seine dicken Backen zitterten. Von der Treppe waren zögerliche Schritte zu hören.

»Hier!«, rief er. »Hier bin ich, die Tür direkt gegenüber dem Treppenabsatz.«

»Ruskin! Was machst du denn hier?«

»Ich wohne hier – oder besser gesagt: das, was von mir übrig ist. Es muss schließlich irgendwo wohnen. Selbst in diesem überreglementierten Land schließen sie unsereinen nicht weg, nur weil manche Leute bei unserem Anblick einen Schock kriegen oder Anfälle von Gewissensbissen. Nun hab dich nicht so, schau mich ruhig von oben bis unten an: Ich bin es ja gewohnt.«

»Ich habe dir geschrieben.«

»Und ich habe nicht geantwortet. Ich habe niemandem geantwortet. Wie verdammt rücksichtsvoll ich doch war. Ich habe euch alle aus der Verantwortung entlassen. Euch die Erlaubnis erteilt, mich zu vergessen. Und das habt ihr auch. Und erzähl mir jetzt bloß nicht, in der Abstellkammer der Peplows wäre noch Platz für mich gewesen. ›Ruskin R. L. H., mit dem Tapferkeitskreuz behängter RAF-Pilot, nach Absturz unters Messer gekommen, wie es so schön heißt, und seitdem nur noch ein halber Mensch. Sehr traurig. Akte geschlossen. Streicht seinen Namen von der Liste.‹«

»Ich habe an die Familie deines Navigators geschrieben, das weiß ich noch genau.«

»Nun, er konnte wohl selbst nicht mehr antworten, der arme Kerl, oder? Mullett, die alte Heulsuse. Tja, sein Problem war, dass er zu intelligent war; und das hat ihn letztendlich umgebracht. Seine Schwierigkeiten begannen, als er die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium bestanden hatte und sie ihm dort Trigonometrie beibrachten. Er hätte mal lieber bei den Steckrüben bleiben sollen; ich hab’s ihm ja gesagt. Aber er meinte, seine junge Lady sieht ihn gern in Uniform. Das waren seine Worte: ›meine junge Lady‹. An seiner Wand hing ein Bilderrahmen, vollgestopft mit ungefähr fünfzig Schnappschüssen von ihr, und darauf hat er immer gestarrt; um sich inspirieren zu lassen vermutlich, bei der Auswahl der richtigen Farbe des Treppenläufers für die kleine Doppelhaushälfte, die er nie besessen hat. Unzählige Fotos! Du hättest ihn schreien hören sollen, als es ihn erwischte!«

Peplow lächelte schief. »Mullett«, sagte er sanft. »Ich hatte ihn ganz vergessen. Er war, wenn ich mich richtig erinnere, Beamter. Bei der Bahn. Und sein Vater war Farmarbeiter.«

»Nun, jetzt ist Mullett ein Held. Steht jedenfalls auf einem Grabstein auf irgendeinem Soldatenfriedhof; ganz offiziell. Und hat er nicht auch noch den Wohlfahrtsstaat geschont? Das ist allemal besser, als noch vierzig Jahre lang hinter einem Nebenstreckenschalter zu darben, oder? Wie auch immer, jedenfalls ist er aus dem Weg geräumt und hängt nicht mehr irgendwo herum und macht die Leute nervös, so wie ich. Mullett, der Glückliche!«

Während sich Peplow verlegen mit der flachen Hand den Oberschenkel rieb, ließ er den Blick durch den Raum huschen und nahm alles ganz genau in Augenschein, nur um diesen aufgeblähten Torso, dieses zuckende Gesicht nicht ansehen zu müssen, und überlegte fieberhaft, wie er das Thema wechseln konnte.

Aber seine Sorge war unbegründet, denn Ruskin kam ihm zuvor. »Was für ein großartiges Wiedersehen, hm?«, fragte er. »Peplow … anwesend. Ruskin … halb anwesend. Mullett … abwesend (keine Entschuldigung eingegangen). Bellenger … anwesend, muss uns aber bald wegen einer anderen Verpflichtung verlassen.«

Peplow sah ihn ungläubig, erschrocken an. »Bellenger! Der alte Knabe? Das kann nicht sein.«

»Doch es kann und es ist so.«

Ruskin schwenkte seinen Rollstuhl herum.

»Schau aus dem Fenster. Siehst du diese lächerliche Statue auf dem Platz? Und das Gebäude dahinter? Dieses imposante große Haus, Queen-Anne-Stil, stimmt’s? Chez Bellenger!«

»Unglaublich.«

»Ah, mein Junge, das Leben ist voller unglaublicher Dinge. Mich hat es auch zufällig hierher verschlagen; mir ging es im Grunde nur darum, weit weg von meiner jammernden Mutter zu kommen und von meinem Vater, der jedes Mal, wenn er in meine Richtung sah, zusammenzuckte. Und nicht mehr mit ansehen zu müssen, wie sie sich, wenn Besuch da war, förmlich in ihrem Bemühen überschlugen, die Leute abzulenken, die mich verständlicherweise ausgiebig begaffen wollten. Vor allem Kinder; die finden mich nun mal faszinierend. Und die Frau, die jetzt meine Vermieterin ist, hat eine Anzeige in The Church Gazette geschaltet. (›Gemütliches Heim für jungen Herrn. Gern auch Invaliden‹, so, glaube ich, hat sie es formuliert. Nun, ich war hervorragend für diese Position qualifiziert.) Und so bin ich hierhergekommen. Durch Zufall. Und, bingo, genau dort, wo du jetzt sitzt, hat Bellenger gesessen, als er mir einen ersten Besuch abstattete. ›Willkommen in Great Minden!‹ Er hat mir sogar einen Blumenstrauß mitgebracht. ›Ich bin sozusagen die Dame vom örtlichen Willkommenskomitee‹, meinte er.«

Er brach in schrilles Gelächter aus.

»Bellenger!«

»Bellenger.«

»Und dich hat es rein zufällig hierher verschlagen? Ausgerechnet ihr beide hier, das ist wirklich komisch.«

»Warum?«

»Nun …«

Peplow richtete sich abrupt auf. Herbert Ruskin beobachtete ihn. Einen Moment lang sah Peplow in dem nun aufgedunsenen Gesicht die Züge des jungen, seinem Einsatz entgegenfiebernden Piloten aufscheinen.

»Warum?«

»Nun, es ist doch wirklich ein großer Zufall, oder nicht?«

[Darauf wolltest du nicht hinaus. Du wusstest es und hast es nicht vergessen, stimmt’s, Peplow, du verdammtes Pokergesicht? Kein Wunder, dass sie dich zum Adjutanten gemacht haben: Du siehst alles, erinnerst dich an alles, sagst nichts. Gut, also hast du es nicht vergessen. Aber wie viel von dem, was in diesen vierzehn Tagen passiert ist, weißt du genau? Und wie viel weiß Bellenger? Nun, er wird jetzt nichts mehr sagen und du auch nicht, es sei denn, du hast dich verändert.]

Peplow war aufgestanden, ans Fenster getreten und blickte aufgewühlt über die Statue hinweg zu dem steinernen Haus. In den letzten Jahren hatte er kaum mehr an die Fliegerstaffel gedacht, auch nicht als Tom noch lebte, und seit dessen Tod war alles noch tiefer in sein Unterbewusstsein gerückt. Obwohl er dagegen ankämpfte, steigerte sich seine Unruhe noch.

»War er nicht Rechtsanwalt?«

»Ja, ich glaube schon; er hatte eine Art Büro im Erdgeschoss, aber die einzigen Klienten, die zu ihm kamen, waren zu arm, um sich an jemand anders zu wenden; er hat ihnen keine Rechnungen gestellt. Seine Frau starb noch vor dem Krieg, und er blieb mit zwei Mädchen zurück, aus denen die schrecklichsten Xanthippen wurden, die du dir vorstellen kannst. Wie auch immer, jedenfalls muss er die Mindener ganz schön vor den Kopf gestoßen haben, als er nicht nur mit einem Orden, sondern obendrein mit einem Säugling heimkehrte.«

Er sah Peplow merkwürdig fragend an. »Das Baby hat sie wirklich umgehauen.«

»Also hat er es behalten. Gut so.«

»Und, hast du eine Familie, Peplow?«

»Ich hatte einen Jungen.«

»Hatte?«

»Wurde direkt vor unserer Haustür umgebracht – auf dem Gehsteig. Von einem Lastwagen totgefahren.«

»Herrje!«

»Er war zehn.« Peplow wandte sich ab. »Aber dass Ted Bellenger hier wohnt, wer hätte das gedacht.«

»Er liegt im Sterben, sagt meine Vermieterin. Es heißt, dass er den heutigen Tag nicht überleben wird. Du bist gerade noch rechtzeitig gekommen, um ihm die letzte Ehre zu erweisen, Peplow.«

»Er liegt im Sterben! Und ich dachte immer, er besitzt die Formel für die ewige Jugend, würde für immer vierzig bleiben. Damals hieß es, er isst Bienenpollen, oder was immer man zu sich nimmt, um sich seine Männlichkeit zu bewahren. Weißt du noch, wie die Frauen ihn bei unseren ENSA-Konzertabenden anschmachteten und ihn hinterher im Offizierskasino umschwärmten? Ein paar von ihnen so jung, dass sie seine Töchter hätten sein können. Diese eine zum Beispiel, die …«

Es wurde an die Tür geklopft, und die Vermieterin schlurfte mit einem Tablett mit Toast und Tee ins Zimmer.

»Wenn das keine Telepathie ist, was?«, fragte Ruskin. »Darf ich Ihnen Mr Peplow vorstellen? Er ist Privatdetektiv und hier, um in irgendeiner Scheidungsangelegenheit herumzurühren. Er weiß, man muss in diesen Kleinstädten nur ein bisschen an der Oberfläche herumkratzen und schon wird man fündig. Er ist extra früh hergekommen, um die Ehebrecher in flagranti zu erwischen. Ist Croser allein, oder hat er jemanden in seinem Bett?«

»Also wirklich, Mr Ruskin!«, sagte sie kichernd.

»Nichts für ungut!«, rief er ihr hinterher. »Erzählen Sie es mir später, wenn Mr Peplow gegangen ist. Er wird übrigens zum Mittagessen wiederkommen.«

»Aber ist das nicht ungelegen, wo doch heute Jahrmarkt ist?«

»Ach, das weißt du also?«

Ruskin legte den Kopf schief und sah ihn an, aber Peplow antwortete nicht.

»Du hast doch in einer Bank oder so was Ähnlichem gearbeitet, stimmt’s? Bist du hier, um dir einen Überblick zu verschaffen, bevor du das Haus eines armen Teufels zwangsvollstrecken lässt?«

»So ungefähr … könnte man es sagen.«

»Und wie lange gedenkst du zu bleiben? Einen oder zwei Tage?«

»Ich habe vor, mit dem Nachtzug zurückzufahren.«

Ruskin lachte. »Du bist mir vielleicht ein dröger Zeitgenosse, Peplow. Hast dich seit vierundvierzig nicht verändert, stimmt’s? Zugeknöpft wie eh und je.«

»Verändert? Wir verändern uns doch alle, nicht wahr? Ob wir wollen oder nicht. Es passieren Dinge im Leben, die uns verändern. Nicht auf einen Schlag, aber mit der Zeit.«

Ein wütender Unterton hatte sich in seine Stimme geschlichen.

»Das Schicksal kann einem einen Streich spielen. Nimm zum Beispiel Mullett, Morrion, Brightwell, auch Bellenger. Glaubst du, sie haben sich gewünscht, dass ihr Leben so verläuft? Oder du. Hast du dir deins so vorgestellt? Hast du gewollt, dass es diesen Verlauf nimmt? Oder all die anderen? Oder ich? Wir haben uns doch alle verändert, verflucht noch mal.«

Ruskin umklammerte die Räder seines Rollstuhls, und seine Fingerknöchel traten weiß hervor. Überrascht von Peplows Ausbruch, betrachtete er schweigend sein Gesicht, seine leidgeprüften Augen.

»Ich habe mir weiß Gott nichts weiter als ein ruhiges, bescheidenes Leben gewünscht, vielleicht irgendwann Filialleiter in einem Provinznest wie Minden zu sein, wo ich mich ruhig hätte zurücklehnen und meinen Sohn aufwachsen sehen können. Das war doch nicht zu viel verlangt, oder?«

Peplow brach unvermittelt ab. Er rang um Fassung.

»Tut mir leid«, sagte er und wandte sich zum Gehen. »Vergiss, was ich gesagt hab. Mal sehen, ob Ted Bellenger Besuch empfängt.«

»Ich glaube nicht, dass er dich erkennt; gestern war er jedenfalls die meiste Zeit nicht bei Bewusstsein. Aber schau ruhig bei ihm vorbei, und sag mir, wie es ihm geht. Schließlich war es deine Aufgabe als Adjutant, uns auf dem Laufenden zu halten, nicht wahr? Um eins gibt es Mittagessen. Bis dann also.«

[Verändert! Du hast dich verändert, o ja. Wer setzt dir so zu? Dein Junge; sein Verlust schmerzt dich ungemein, stimmt’s? Aber was ist mit deiner Frau? Die hast du mit keinem Wort erwähnt. Nur eine Minute lang hast du die Maske fallen lassen und sie ziemlich schnell wieder aufgesetzt, zu schnell, als dass ich hätte herausfinden können, was uns die Ehre deines Besuchs verschafft, du verdammter Heimlichtuer!]

Ruskin hörte, wie sich Croser im Zimmer über ihm in seinem Bett herumwälzte. Dieses Geräusch riss ihn aus seinen Grübeleien. Er nahm einen linierten Papierbogen und einen Kugelschreiber zur Hand.

»Lieber Herr Pfarrer«, schrieb er in seiner nach links geneigten Handschrift. »Gestern Nacht hat Ihre Frau wieder das sechste Gebot gebrochen, zusammen mit dem Schullehrer. Croser heißt er. Warum lassen Sie sich nicht von dieser Hure scheiden?, fragen sich hier in Minden alle.

Hochachtungsvoll, ein Gemeindemitglied, das Ihnen lediglich helfen will.«

IN SEINER KÜCHE im hinteren Teil des Hauses nahm der Metzger grollend sein Frühstück ein.

»Steht heute was Besonderes an, Liebster?«, fragte seine Frau besorgt.

»Was Besonderes? Nee, nix bis auf dieses verdammte Gesindel aus dem Norden, das den ganzen Tag versuchen wird, Fleisch zu ergaunern! Nichts bis auf dieses verdammte Jahrmarktsorgelgedudel, das mir den lieben langen Tag in den Ohren gellen wird! Nichts bis auf den üblichen Zank bei der Pfarrgemeinderatssitzung heut Abend! Ist das besonders genug?«

Seine Frau hob den Deckel von der Bratpfanne und schob ihm schnell zwei weitere gebratene Speckscheiben und ein Spiegelei auf den Teller.

»Nun, ich hab mich nur gefragt, was …«, sagte sie zögernd.

»Was hast du dich gefragt?«

»Ich habe mich gefragt, was ich dem Pfarrer sagen soll, wenn er wegen dem Friedhof kommt und du nicht da bist. Du hast doch gemeint, du würdest ihm Bescheid geben. Die Leute sagen, dass ihn das alles sehr aufregt.«

Ihr Mann knallte mit einem lauten Scheppern Messer und Gabel auf seinen Teller. Einen Moment lang war unklar, was ihn am Sprechen hinderte – sein voller Mund oder seine überschäumende Wut.

»Na ja, du bist nun mal Kirchenvorsteher«, fuhr sie fort. »Du bist ein wichtiger Mann hier.« Als intelligente Frau konnte sie sich einen ironischen Unterton nicht verkneifen, ein kleiner Seitenhieb für die seit Jahren erlittenen Demütigungen.

»Nein!«, schrie er schließlich. »Nein, nein und noch mal nein! Ich habe mich entschieden, und die Antwort lautet Nein. Geld, Geld, Geld, immerzu ist er hinter unserem Geld her. Geld ist sein Gott. Ständig will er uns zur Kasse bitten. Wenn es nach ihm ginge, würde er uns unser ganzes mühsam erspartes Geld wegnehmen. Also sage ich dir klipp und klar: Wenn er den Friedhof herausgeputzt haben will, soll er es selbst machen.«

Er wiederholte diese Worte und betonte dabei jede Silbe mit feierlichem Ernst.

»Soll er’s doch selbst machen. Er soll seinen Arsch in Bewegung setzen. Und wenn er jetzt zur Tür hereinkäme, würde ich ihm das ins Gesicht sagen und auch, dass er mir gefälligst die 4 Pfund, 16 Shilling und 40 Cent zurückzahlen soll, die diese Schlampe von seiner Frau mir schuldet. Wen wundert es da, dass er vor leeren Kirchenbänken predigt?«

Seine Frau legte eine vor Bratenfett triefende Scheibe Brot auf seinen Teller und blieb hinter seinem Stuhl stehen, um einen neuerlichen Vorstoß zu unternehmen.

»Nun, ich wiederhole ja nur, was die Leute sagen«, begann sie salbungsvoll. »Dass er wirklich sehr aufgebracht ist wegen dem Friedhof. Sagen die Leute. Ich für meinen Teil finde: Was spielt es für eine Rolle, wo man liegt oder wie es dort aussieht, wenn man unter der Erde ist? Zum Beispiel du und deine Familie, Liebster. Denk an die armen Seelen, die dort begraben sind, dein Vater und deine Mutter und dein Großvater und sein Vater – was kümmert sie es, ob über ihnen Brennnesseln oder irgendein anderes Gestrüpp wächst? Es ist schließlich kein öffentlicher Park, oder? Die Leute gehen ja nicht dorthin, um sich hinzusetzen und dort zu verweilen. Letzten Sonntag zum Beispiel, als ich auf den Friedhof gegangen bin, um ein paar Blumen aufs Grab deiner Mutter zu legen, waren nur ein paar Hunde dort, die sich gejagt oder was weiß ich für Sachen gemacht haben.«

»Was mein alter Vater wohl sagen würde, könnte er es sehen!«, rief der Metzger aus. »Was würde er wohl sagen? Ich weiß, was er sagen würde. Er würd sagen, dass es eine Schande ist, ja, eine Schande, das würd er sagen. Dass es eine immerwährende Beleidigung für die ist, die von uns gegangen sind.«

»Ja, das würde er bestimmt sagen, wie wahr«, erwiderte seine Frau in klagendem Tonfall; sie spielte mit ihm wie auf einem Instrument, von dem sie allerdings nicht wusste, welche Melodie herauskommen würde.

»Nun gut, ich sag dir, was ich denke. Er soll erst mal sein eigenes Haus in Ordnung bringen, bevor er uns drangsaliert. Er soll seinem Prachtweib die Leviten lesen, dann kann er uns predigen, wir sollen das oder jenes tun. Und bevor er das nicht getan hat, wird der Pfarrgemeinderat mit uns Kirchenvorstehern keinen Penny für den Friedhof genehmigen. Du wirst schon sehen, keinen Penny bewilligt er ihm.«

Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Seine Stimme hatte sich erhoben, aber sein Appetit war dahin.

»Da hast du recht, Liebster, ja, da hast du recht«, sagte seine Frau. »Aber vergiss nicht, was der Doktor dir gesagt hat. Dass du dich nicht aufregen darfst. Wegen deiner Arterien, du weißt schon. Und dass du nicht zu fett essen sollst!«

Die Erinnerung daran, was der Doktor ihm gesagt hatte, kehrte jäh zurück und mit ihm das desolate Bild des Friedhofs, das sich düster vor sein geistiges Auge schob.

Beklommen wandte er sich der Lektüre der Kricket-Ergebnisse zu.

Aber seine Frau fand, dass sie ihn immer noch nicht genügend getriezt hatte.

»Und dieser Ruskin …«, sagte sie. »Ich habe die Vorhänge nur ein paar Zentimeter zurückgezogen, mehr bestimmt nicht, als du dich vorhin angekleidet hast. Und da hing er bereits am Fenster und sah fasziniert zu, wie du dir deine Hose hochzogst, dieser Mann, der sich an den Freuden anderer ergötzt, weil er selbst keine hat. Man sollte ihn wegsperren, in eine Klinik.«

Ihr Mann schob den Stuhl zurück und stapfte wütend nach vorn in den Laden. Sie goss sich eine Tasse Tee ein und begann in aller Ruhe zu frühstücken.

ALS EDWARD BELLENGER im geräumigsten Schlafzimmer seines Hauses an der Sheep Street erwachte, von einem stechenden Schmerz aus seinem Dämmerzustand geweckt, wusste er, dass es früher Morgen war.

Das wird mein letzter Tag sein, dachte er. Ich kann kaum mehr etwas sehen, obwohl es helllichter Morgen ist. Ich kann meine Blase nicht mehr kontrollieren. Ich kann mich nicht einmal mehr im Bett umdrehen. Bin wieder hilflos wie ein Säugling. Noch vor zwei Wochen hätte ich das nicht für möglich gehalten. Dieser junge Arzt hat mich noch aufmuntern wollen, obwohl er wusste, dass es zu Ende geht mit mir.

Das ist mein letzter Tag. Ich bin fast blind. Meine Augen sehen bestimmt aus wie die meines Vaters kurz vor seinem Tod: verblichen wie die eines alten Collies. Wo sie jetzt wohl ist; ja, wo wohl …?

[»Er möchte schon wieder seine Flasche. Hier ist sie, Dad. Ich lege sie für dich an. Siehst du … nicht der Rede wert. Siehst du, er hat wieder nichts gemacht. Und dieser Geruch! Wir müssen schon wieder die Laken wechseln. Ist es bei jedem so, der stirbt? Flöß ihm ein bisschen Brandy ein. Nur einen Teelöffel voll. Siehst du, das mag er. Schau, wie er sich die Lippen ableckt. Merkwürdig, nicht wahr?

Hörst du das? Das ist bestimmt Nicholas, der aus der Kirche zurückkommt; schick ihn gleich wieder weg, Milch holen. Sag ihm, er darf nicht hochkommen.

Jetzt will er schon wieder die Flasche. Ich leg sie ihm an. Obwohl ich weiß, dass nichts kommt. Dieser abscheuliche Geruch! Wenn es so weit ist mit einem, ist es wirklich am besten, es geht zu Ende.«]

Wie gefühllos sie sind, dachte Edward Bellenger, und doch sind sie meine Töchter. Wem die beiden nur nachschlagen? Ihre Mutter war nicht so. Wo ist eigentlich Nick? Warum kommt er nicht zu mir? Weiß Ruskin, wie es um mich bestellt ist? Hat es ihm jemand gesagt? Ob sie sich noch erinnert? Wo ist sie jetzt? Und würde sie kommen, wenn sie es wüsste?

Er kämpfte gegen eine neue Schmerzwelle an, und um ihn herum wurde es abermals schwarz.

[»Siehst du, er ist wieder ohnmächtig geworden. Lass uns hinuntergehen. Siehst du, ich hatte recht; es war nicht der Mühe wert, ihm von dem Mann zu erzählen, der ihn besuchen wollte. Peplow, heißt er, das hat er doch gesagt, nicht wahr? Hast du dieses furchtbare Zucken unter seinem Auge bemerkt? Müssen die Nerven sein.«]

DIE GEDRUNGENE KIRCHE STAND auf der Hügelkuppe. Als er sich umdrehte, konnte Peplow Minden sehen: die Dächer, Straßen, den steinernen Reiter auf dem zentralen Platz, die Straße, die zum Bahnhof führte, den Fluss und die zerfallene Mühle, die monotone Ebene. Er fragte sich beiläufig, wann wohl die ersten Jahrmarktwagen einträfen. Er dachte an den schaurigen Anblick, den Herbert Ruskin in seinem Rollstuhl abgab, und daran, dass für Ted Bellenger offenbar sein letzter Tag angebrochen war, dieser Tag, der für ihn selbst bislang alles andere als nach Plan verlaufen war.

Als er sich aus seinen Gedanken riss und sich von dem Städtchen abwandte, verfing sich sein Hosenbein in der Astschlinge eines Brombeerstrauchs und er bückte sich, um es zu befreien. Dabei fiel ihm der verwahrloste Zustand des Friedhofs auf, eine Wildnis aus selbst ausgesäten Holunderbüschen, schiefen Grabsteinen, zerbrochenen Marmeladengläsern, hohem, verfilztem Gras und Brennnesseln. Dann hörte er gedämpfte Stimmen und wandte sich zu der offenen Kirchentür um.

Auf den ersten Blick schien die Kirche verwaist. Eine Arkade aus dicken Säulen erhob sich über dem mit Steinplatten bedeckten Fußboden, ein verkümmerter Chorbogen mit einem Gemälde, dessen Farben beinahe verblichen waren – es zeigte das Gleichnis vom reichen Mann, der von inzwischen verblichenen zinnoberroten Flammen verzehrt wurde und verzweifelt die Arme nach einem kaum mehr erkennbaren Lazarus ausstreckte, im Hintergrund ein Himmel aus blassblauer, abblätternder Farbe. Peplow ging geräuschlos hinein und erblickte ganz vorn zwei ältere Damen; er kniete sich hinter sie. Ein kleiner Junge, ein Ministrant, kniete im Sanktuarium; der Priester war dem Ostfenster zugewandt.

Peplow lauschte angestrengt seinem Gemurmel: »›Dies ist mein Blut des neuen Bundes, mein Blut … das für viele vergossen wird … zur Vergebung der Sünden … tut dies zu meinem Gedächtnis …‹«

[Ruskin … Wie hatte bloß das aus ihm werden können? Was hatte dazu geführt? Die Amputation? Oder das, was danach kam? Diese lächerliche schrille Stimme, dieser feiste Rumpf! Man hatte jemandem das Leben gerettet, der nicht mehr Ruskin war.]

Der Priester hob den Kelch und trank.

Peplow tat es den beiden Frauen gleich, ging zur Altarbank und kniete nieder. Eine Hostie wurde in seine Hände, dann der Kelch an seine Lippen gelegt. Unwillkürlich schauderte er, und ihm sträubten sich die Nackenhaare – war das hier eine Absolution?

Das beharrliche Gemurmel setzte sich fort: »Trinkt dies in Erinnerung daran, dass Christi Blut für euch vergossen wurde, und seid dankbar.«

Während er mit gesenktem Kopf dort kniete, den Geschmack des Weins noch im Mund, erschien es ihm mit einem Mal vollkommen natürlich, dass morgen zu genau dieser Zeit jemand anderes an seinem Platz knien und er selbst tot sein würde.

Kurz darauf schritten sie über den Steinboden zum Ausgang der Kirche. Die Frauen, wesentlich älter, als er gedacht hatte, humpelten in Richtung Straße davon, und der Priester, ein schmächtiger, noch recht junger Mann von unauffälligem Aussehen, die Hände unter die Ärmel geschoben, ging in Richtung eines waldartigen Dickichts.

DIE FRAU SEINES AMTSVORGÄNGERS war Pantheistin gewesen, überzeugt davon, dass Bäume ohne jede Beschränkung zu wachsen hätten, bis sie auf natürliche Weise starben, sodass sich das zur Pfarrei gehörende Stück Land, kaum mehr als ein Hektar, in eine Art vorzeitliche, dunkle Wildnis voll flatternder Flügel verwandelt hatte. Das Pfarrhaus stand auf einer Lichtung, erreichbar über eine grasbewachsene Einfahrt, und seine gelben Ziegelsteine ließen es kalt und gewöhnlich erscheinen. Auf der Nordseite waren die Fensterläden in der Regel geschlossen, und die Fenster auf der Südseite waren halb von wuchernden Kletterpflanzen verhüllt. In der Zeit nach ihrem Einzug hatten sie es ziemlich romantisch gefunden, und er hatte Georgina, seine frisch angetraute Frau, neckend »Dornröschen« genannt. Aber inzwischen stellte der Zustand des Pfarrhauses lediglich einen weiteren der zahlreichen Missstände dar, die zu beheben ihm das Geld fehlte.

Nach dem Gang durch die warme Morgensonne überlief ihn ein Schauder, als er jetzt über den Steinboden des Flurs die geschlossenen Zimmertüren passierte. In dem riesigen, nur halb möblierten Wohnzimmer hing noch immer der schale Geruch von Zigaretten und Alkohol. Auf dem staubbedeckten Tisch ein Dosenöffner, eine leere Konservendose, eine Gabel und ein Teller mit übrig gebliebenen fetttriefenden Sardinenschwänzen. Er setzte sich für ein paar Minuten auf einen der beiden steifen Armlehnstühle und ließ die Stille des riesigen Hauses auf sich wirken – achtundzwanzig Zimmer, zweiundzwanzig davon abgedunkelt und leer, verschlossen, düster und unbewohnt, keine Läufer in den kalten Fluren und auf den Treppen, vier ineinander übergehende Keller, feucht, voller Spinnweben, in gespenstische Stille getaucht.

Er nahm seine Brille ab und reinigte die Gläser, dann stand er mühsam auf und ging nach oben. Vorbei an dem Zimmer, in dem sie eine kleine Privatkapelle eingerichtet hatten, und an dem Büro, dessen schmales, zweckmäßiges Bücherregal zur Hälfte mit Papierstapeln gefüllt war, an dem überdimensionalen Bad mit seinem Geflecht von Rohren, dann an seinem eigenen Zimmer … bis zum Ende eines langen Korridors zu dem seiner Frau. Er klopfte sachte an und trat ein.

Auch hier kalter Zigarettenrauch und der schale Geruch von Verwahrlosung.

Seine Frau lag bäuchlings auf dem zerwühlten Bett, ihr schwarzes Haar wie ein Fächer auf dem Kissen ausgebreitet.

»Georgie!«

Das Laken war ihr von den nackten Schultern und den Rücken hinabgerutscht. Eine Hand hing über der Bettkante und schwebte über einem Aschenbecher voller Kippen und abgebrannter Streichhölzer. Der Läufer war übersät von Illustrierten und Zeitschriften für Körperertüchtigung.

»Georgie!«

Träge zog sie sich das Laken über den Rücken.

»Geh weg, lass mich in Ruhe«, murmelte sie.

Er blieb unentschlossen stehen, dann drehte er sich zur Tür um. Dabei verfingen sich seine Füße in etwas, und er bückte sich, hob ihren Morgenmantel hoch und ließ den schweren cremefarbigen Satin zwischen den Fingern hindurchgleiten. Dann trat er wieder auf den Flur hinaus und schloss leise die Tür.

Zehn Minuten später saß er allein am Tisch, eine Kanne Tee und einen Teller mit Toastscheiben vor sich, und sann darüber nach, was dieser Tag wohl für ihn bereithalten würde. Die Untreue seiner Frau war inzwischen so offensichtlich, dass eine Trennung nahezu unvermeidlich war; seine Kirchengemeinde war auf eine Handvoll zusammengeschrumpft; er lag im Streit mit den beiden Kirchenvorstehern und dem Pfarrgemeinderat und hatte überall in den örtlichen Geschäften Schulden. Das Leben erschien ihm völlig unwägbar und feindselig, und weit und breit niemand, der ihn unterstützte.

Wie hatte es nur so weit kommen können? War es bereits zu spät, um das ganze Kuddelmuddel zu entwirren, mit Georgie einen Neuanfang zu wagen und seine Beziehung zur Kirchengemeinde wieder auf eine vernünftige Basis zu stellen? Unvermittelt schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch.

So sollte der vor ihm liegende Tag verlaufen. So – er würde seinen Kirchenvorstehern die Stirn bieten und darauf bestehen, dass der überwucherte Friedhof wieder hergerichtet wurde. So – er würde von der Diözese fordern, dass man ihm ein kleineres, moderneres Haus zur Verfügung stellte. So – er würde den Liebhaber seiner Frau zur Rede stellen und ihm klipp und klar sagen, dass diese Affäre ein Ende haben musste. So – er würde Georgie bitten, mit ihm nochmals von vorn anzufangen.

Ein Neufanfang!

Das ist es, dachte er zunehmend aufgeregt. Jetzt – heute – an diesem Kirchweihtag – ein Neuanfang!

»ICH HABE DICH IN DER KIRCHE gesehen«, sagte Peplow zu dem Jungen, der ihn auf der abschüssigen Straße eingeholt hatte. »Stehst du immer so früh auf?«

»O nein, aber heute ist Kirchweih: Deswegen hatten wir auch mitten unter der Woche eine Messe mit Kommunion. Werktags findet normalerweise keine statt.«

»Du bist wohl ein eifriger Kirchgänger, was?«, fragte Peplow.

»Na ja, ich glaube schon. In gewissem Sinn. Aber ich stehe nicht gern früh auf, wobei, wenn man mal aufgestanden ist, ist es ganz in Ordnung, stimmt’s?«

Er sah Peplow grinsend an, um dann rasch seine großen, dunklen Augen wieder abzuwenden.

»Mein Vater meint, es ist leicht, die Sachen zu machen, die man gern macht, aber seine Pflicht zu erfüllen gehört zu den Dingen, die man nicht gern tut. Er sagt, es gibt schon zu viele Drückeberger, da braucht es nicht noch mehr. Er sagt, wir müssen uns wenigstens Mühe geben, das ist die Hauptsache. Das, meint er, formt den Charakter, mehr noch als Kricket.«

»Mhm-mmm.« Peplow hatte Spaß an dieser Unterhaltung. »Nun, Väter wissen, wie es auf der Welt zugeht. Jedenfalls war das bei meinem so. Einmal hat er mir eine dieser kleinen Spruchtafeln gekauft, als wir in Beverly waren, die hat ihn bestimmt eine Half-Crown gekostet. Darauf stand:

Ein Hund, der sich regt, jagt mehr als ein Löwe, der sich legt.

Er meinte, ich soll die Tafel über mein Bett hängen, und das tat ich auch. Wenn ich den Spruch beherzigte, würde aus mir ein erfolgreicher Mensch werden, sagte er, aber das war nicht der Fall.«

Er lachte leise in sich hinein.

»Haben Sie Kinder, und geben Sie ihnen auch solche Ratschläge?«

Als Peplow nicht sogleich antwortete, sah der Junge ihn neugierig an.

»Ja, ich habe einen Jungen. Und ja, ich gebe ihm Ratschläge. Deswegen habe ich diese Spruchtafel aufgehoben, damit er sie sich auch über sein Bett hängt. Gehst du hier in Minden zur Schule?«

»Ja, aber ich hätte eigentlich im September auf die alte Schule von meinem Vater wechseln sollen. Aber jetzt weiß ich nicht mehr, ob ich das dann noch kann.«

»Oh.«

»Er ist sehr krank … mein Vater. Seit Mittwoch kann er nicht mehr sprechen. Das ist ein schlechtes Zeichen, oder?«

Er sah Peplow besorgt an.

»Nun, vielleicht hat er nur Probleme mit dem Hals.«

»Er ist schon sehr alt.«

»Älter als ich?«

»O ja, viel älter. Er war im letzten Krieg Navigator und im Krieg davor Pilot. Also muss er ziemlich alt sein, nicht wahr?«

»Ja, das stimmt wohl.«

»Er sagt, das war das einzige Mal, dass er gelogen hat, als er wieder in den Krieg zog und nicht sein wahres Alter genannt hat. Er meint, wenn man nicht aus Angst vor einer Strafe lügt und niemandem außer sich selbst damit schadet, ist es nicht so schlimm, aber man muss es sich vorher gut überlegen und abwägen.«

»Und deine Mutter?«

Der Junge wandte rasch den Blick ab. »Mein Vater hat gesagt, sie ist weggegangen, bevor ich sie kennenlernen konnte.«

Mit einem Mal beschlich Peplow ein unbehagliches Gefühl, und sie gingen schweigend zwischen den Hecken weiter, die jetzt, im Mai, üppig grün waren. Ein sachter Wind trug den Duft der Blumen heran: Geißblatt, Hundspetersilie.

»Sind Sie nach Minden gezogen?«

»Ich? O nein. Ich bin nur für einen Tag hier.«

»Wegen der Kirchweih?«

»Der Kirchweih? Nun, in gewisser Weise schon. Wie lange dauert sie eigentlich?«

»Nur heute. Morgen räumen sie alles wieder zusammen und ziehen weiter. Die Kirchweih findet jedes Jahr am gleichen Tag statt – es sei denn, das Datum fällt auf einen Sonntag, dann ist sie am Samstag. Es hat irgendwas mit der Statue zu tun. Haben Sie sie gesehen? Den Mann auf dem Pferd?«

»Ja, und ich habe mich gefragt, was es wohl damit auf sich hat. Wen stellt die Figur dar?«

»Sir Theodore Firbank. Er hat die Dragoner in der Schlacht bei Minden angeführt und fiel, als seine Truppen sie praktisch schon gewonnen hatten.«

»Oh, tatsächlich? Dann war er also ein richtiger Ritter?«

»Nein, mein Vater sagt, die Schlacht war nicht im Mittelalter, wie alle glauben. Die Schlacht bei Minden hat auch nicht hier stattgefunden, sondern in Deutschland, im Siebenjährigen Krieg. Sir Theodore hat hier gewohnt, im Gutshaus, wenn er nicht bei seinem Regiment war, allerdings hieß der Ort damals noch gar nicht Minden. Er hieß Little Oatley. Aber als Sir Ephraim Firbank, Sir Theodores Vater, hörte, dass sein Sohn gefallen war, verging er fast vor Kummer und ließ, sobald er sich wieder einigermaßen gefangen hatte, den Namen in Great Minden ändern und diese Statue errichten.«

»Oh, das ist in der Tat verwirrend!«, sagte Peplow und fügte schnell hinzu: »Aber deine Erklärung war exzellent, wie aus dem Geschichtsbuch.«

Sie waren auf dem Platz angekommen.

»Kurz darauf ist er gestorben.«

»Wer?«

»Sir Ephraim.«

»Oh!«

»Gut, ich muss dann dort lang«, sagte der Junge.

»Ich hoffe, deinem Vater geht es bald besser und dass wir uns wiedersehen, damit du mir noch mehr über Minden erzählen kannst. Und dass sich alles wieder zum Guten wendet … die Dinge nehmen oft ein gutes Ende, auch wenn es zunächst nicht so aussieht.«

»Auf Wiedersehen, und ich hoffe, dass Sie das Kirchweihfest genießen!«

Peplow ging ein paar Schritte, nur um abermals innezuhalten. Er zögerte kurz und rief dem Jungen dann nach: »Du hast mir deinen Namen gar nicht verraten.« Er blieb abwartend stehen, während er sich insgeheim fast fürchtete, den Namen zu hören, von dem er sich sicher war, dass er ihn bereits kannte. Es war, als würden sich all die Jahre auf diesen Moment verdichten.

»Ich heiße Nicholas. Nicholas Bellenger.«

DAS KLOPFEN hörte nicht auf.

»Es ist höchste Eisenbahn. Wirklich, Mr Croser. Sie werden zu spät zum Unterricht kommen. Ich werde nicht noch einmal klopfen. Das war ganz bestimmt das letzte Mal. Wirklich! So stehen Sie doch endlich auf, Mr Croser.«

Croser, der das verdrossene Gejammer seiner Vermieterin durch den Nebel des Halbschlafs wahrnahm, stöhnte gereizt.

»Ich stehe ja gleich auf. Ist schon gut. Ich bin wach«, rief er mit erstickter Stimme. »Ich komme ja gleich.«