Cover

In einem Dorf im Apennin, in dem man nur bleibt, wenn man dort geboren wird, leben Ada Maria und ihr Bruder Pietrino zusammen mit ihrem Vater Aniceto. Das Oberhaupt der Familie interessiert sich vor allem für die Jagd und das Präparieren toter Tiere. Seine Gefühle schenkt er Teresina, einer einfachen, aber fein- fühligen Frau, die seit Jahren seine Geliebte ist. Ada Maria ignoriert die Frau zunächst, so gut sie kann. Seit dem Tod der Mutter führt sie den Haushalt und kümmert sich um den geliebten Bruder. Doch wenn sie allein ist, träumt sie von der modernen Welt, den großen Städten und hofft auf ein anderes Leben, das nicht von Entbehrung bestimmt ist. Sie will weg, aber wohin? Ada Maria kennt nur das Dorf und seine eigenbrötlerischen Bewohner. Als sie eines Tages im Wald auf Benedikt, einen Deutschen, trifft, scheint die ersehnte Veränderung Wirklichkeit zu werden. Im Gegensatz zu ihr kennt Benedikt die Welt, von der Ada Maria träumt. Erst viele Jahre später, als sie mit ihrer Tochter Magnifica das Dorf verlassen muss, sieht sie die Kargheit und die Abgeschiedenheit, in der ihr Leben stattgefunden hat, mit ganz anderen Augen.

Autorin

Credit: © Cristian Di Caccamo

Maria Rosaria Valentini geboren 1963 in Ciociaria, hat Germanistik in Rom studiert. Sie hat Romane, Erzählungen und Lyrik veröffentlicht. Seit vielen Jahren lebt sie in der Schweiz, heute in Lugano. ›Magnifica‹ ist ihr erster Roman auf Deutsch.

Monika Köpfer war Lektorin bei zwei Münchener Publikums- verlagen und ist heute freie Lektorin und Übersetzerin. Zu den von ihr übersetzten Autoren zählen u. a. Naomi J. Williams, Richard C. Morais, Milena Agus, Fabio Stassi, Theresa Révay, Mohsin Hamid, Richard Russo und J. L. Carr.

Maria Rosaria
Valentini

MAGNIFICA

Roman

Aus dem Italienischen
von Monika Köpfer

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Für Claudio und Nicolò und Federico, in Liebe
Für Bruno, weil er mein Vater war
Für David, weil ich weiß
Für Lorenzo, weil er mir beim Abschied sagte:
»Ciao, mein Augenstern«
Für meine Mutter, die Großartige

And still more, later flowers for the bees,
Until they think warm days will never cease.

JOHN KEATS, To Autumn

1

Magnifica heißt Magnifica, wie andere Kevin oder Giustino, Consuelo oder Jasmin heißen.

Nomen est omen.

Das Letzte, was Andrea ihr geschenkt hat, war ein goldener Füllfederhalter. Von der Art, wie man sie heute nicht mehr benutzt oder wie sie allenfalls ältere Herren in ihrer Brusttasche tragen, auf deren Jackenkragen sich gern Schuppen sammeln und die einen abgestandenen Geruch nach Brillantine aus Walnussschalen verströmen.

Ein zierlicher Füllhalter, der einem leicht entwischt – wohin auch immer –, wenn man die Finger nicht fest zusammenpresst, so als wollte man mit Mittelfinger, Zeigefinger und Daumen ein einigermaßen stabiles Stativ bilden, um dann die Wörter sicher ans Licht zu geleiten, sie aus einem zarten Tintendarm auf die weiße Oberfläche einer erwartungsvollen Seite zu ziehen.

Dieser Füllhalter ist zu einer Obsession geworden.

Magnifica hat Angst, ihn zu verlieren. Nachts wacht sie schlagartig auf, benommen von einem leichten, oberflächlichen Schlaf, und wandert dann wie ein verirrter Geist durchs Haus und sucht blindlings nach ihm. Einschlafen kann sie erst wieder, wenn sie ihn gefunden hat: vielleicht in der Küche zwischen den Seiten einer Zeitschrift, auf der unausgefüllten Zeile eines Kreuzworträtsels; oder im Bad zwischen all den Kajalstiften, mit denen sie dem länglichen und unberechenbaren Rand ihrer Augenlider nachschleicht; oder im Innenfach irgendeiner Handtasche. Oder womöglich im Gewächshaus: in diesem Labyrinth aus Kakteen, die etliche Umzüge überlebt und ihr ihre Hingabe mit wohlbemessener Großzügigkeit und, nicht selten, nächtlicher Blüte gedankt haben. Gegenüber diesen Blumen unterbricht ihr Geist für einen Augenblick seine ermüdende Suche, um über den Flug der Fledermäuse zu sinnieren, der so gar nicht anmutig zu sein scheint, es ihnen aber dennoch ermöglicht, die Pflanzen zu bestäuben.

Wie viele das wohl wissen?

Dann wird der Füllhalter erneut von schäumender Dringlichkeit an die Oberfläche ihres Bewusstseins gespült. Wo ist er? Verflucht, wo nur? Ohne diesen Füller fühlt sie sich nackt: Ihr scheint, als könnten die anderen die Dehnungsstreifen zählen, die plötzlich hinzugekommen sind, um ihre Hüften zu umschlingen, wie Efeuzweige sich in die mächtigen Stämme alter Bäume verbeißen, in verfallene Mauern, wacklige Zäune, über Vertiefungen und Erhebungen hinweg, nur darauf aus, in besitzergreifender Umarmung ihren Wirt zu ersticken. Ihre dunklen, eiförmigen Brustwarzen kommen Magnifica vor wie vertrocknete Datteln, an denen sich jeder x-Beliebige bedienen kann. Ihr scheint, als wären ihre weißen Gesäßbacken aufgetrieben wie zwei zu prall mit Ricotta gefüllte Tortellini, und sie will nicht, dass die Leute es merken. Sie will der Welt nicht die lange Narbe offenbaren, die vom Brustbein ausgehend über einige Wirbel leckt und das Profil eines Mauerseglerflügels nachzeichnet. Sie will nicht, dass man die Bewegungen ihrer Kaumuskeln – winzig, synkopisch – sieht. Sie will nicht, dass die vier Falten hervorgehoben werden – ja, genau eine, zwei, drei, vier –, die wie irrgewordene Atolle im Zeitstrudel weniger Stunden auf ihrer Stirn zum Vorschein gekommen sind. Sie will nicht, dass man dieses Getrippel kleiner bläulicher Leberflecke zwischen Hals und Schulter sieht, das sich einem bizarren Leberfleck verdankt. Sie will nicht den samtigen Punkt preisgeben, der sich praktischerweise hinter einem Ohrläppchen versteckt. Sie will nicht, dass man die ungewöhnliche violette Tätowierung unterhalb des Bauchnabels von der Form eines Schneeglöckchens sieht, das noch nicht bereit ist, seine Blütenblätter zu öffnen. Und sie will auch nicht, dass jemand von ihren rissigen Fersen weiß, ihren knochigen Fesseln.

Ohne diesen Füllhalter scheint ihr in der Tat jeder durch Wände und Kleidung hindurchdringen und ihren Körper lesen zu können.

Andrea hatte bei der Pförtnerin ein Päckchen für sie dagelassen, hübsch verpackt. Wie es für ihn typisch war. Eine längliche Holzschachtel, eingeschlagen in ein weißes Leinentuch und mit einem grünen Satinband von der Farbe Immergrün verschnürt.

Magnifica wusste nicht, was sie tun sollte.

Einerseits hätte sie am liebsten auf der Stelle diese sanft schimmernde Schleife gelöst, andererseits fürchtete sie sich vor dem Geheimnis, das sie barg.

Sie beschloss, es auf morgen zu verschieben.

Morgen, dachte sie, würde sie es öffnen, es enthüllen.

Aber vor einem Morgen gibt es unzählige Morgendämmerungen.

Und manchmal ist die Angst Meisterin im Aufschieben, darin, sich Gründe oder Vorwände auszudenken, um sich zu verstecken und zu bestrafen.

Als sie sich dazu durchrang, den Inhalt des Päckchens zu enthüllen, war es schon nicht mehr Sommer. Der Oktober hauchte seine letzten Stunden in den reglosen Buchten eines Sonntags aus, zugebracht im flackernden Schein des Fernsehers, den man nur eingeschaltet hat, um eine Stimme zu hören, jedoch keinesfalls in der Absicht zu lauschen.

Und da kam er zum Vorschein, der Füllfederhalter.

Dazu ein Zettel, auf dem stand: »Ich gebe ihn in Deine treuen Hände. Ich bin mir sicher, dass Du ihn zu nutzen weißt. In dieser Tinte ist alles enthalten. Deine Geschichte, meine. Jene, die kommen wird, derer, die bereits existieren, und jener, die nie existiert haben.«

Und da war auch ein Umschlag mit einer ganzen Reihe weiterer Zettel; eine Abfolge genau umrissener Anweisungen, mit schneller, sicherer Hand auf Schnipsel schneeweißen dünnen Papiers geworfen.

Es mutete wie eine Art Spiel an, aber es war kein Spiel.

Magnifica las, nach und nach, als nähme sie eine widerspenstige Treppe in Angriff, auf der sie auf jeder Stufe innehalten musste, um Atem zu schöpfen.

Sie las, las noch einmal. War völlig durcheinander wie diese Hornissen, die in überstürztem Flug nicht zwischen einem begrenzten Stück Glas und der unbegrenzten Weite des Himmels unterscheiden und immer wieder gegen ein Hindernis stoßen, das gar nicht vorhanden zu sein scheint.

Andrea vertraute ihr, in Abwesenheit, Fragen, Sprüche, Gebete und Flüche in kunterbunter Reihenfolge an.

In den Momenten, wenn sie sie las, begriff sie, was einer leeren Dose widerfuhr, wenn sie zwischen die Walzen einer Presse geriet, um recycelt zu werden.

Zunächst spielte sie mit dem Gedanken, die Papierschnitzel mit Nadel und Faden zusammenzuheften und einen Fächer daraus zu machen: der, wenn geschlossen, schwieg, wenn geöffnet jedoch überaus gesprächig war. Aber dann hatte sie doch nicht den Mut dazu und vielleicht auch nicht die Geduld, denn es wäre eine mühevolle, delikate und ordnende Arbeit gewesen. Sie hatte kein Geschick für Handarbeiten. Sie fand keinen Gefallen am Ausschneiden von Papierschnipseln oder an Patchwork, sie konnte weder der Collage noch Découpage etwas abgewinnen, und dem Nähen auch nicht. Stattdessen nahm sie ein leeres Einweckglas zur Hand. Öffnete es und gab sämtliche Zettel hinein, die darin kreuz und quer durcheinanderflogen. So würde sie sie aufbewahren, wie man Artischocken in Öl konservierte oder Schlangen in Spiritus, oder wie es jenen Föten in Formalin widerfuhr – ohne Rücksicht auf ihre Würde im Regal einer Dorfapotheke zur Schau gestellt –, die auf den ersten Blick wie riesige Quitten aussahen und bei denen man erst bei näherem Hinsehen begriff, dass es sich tatsächlich um einen Fötus handelte, sodass einen fast der Schlag traf.

Ja, und seither bedeutet dieser Füllfederhalter alles für sie. Er hütet die Spuren einer langen Pilgerschaft. Und wirft seine Tinte auf die Zacken der Zeit, die Monde von gestern, die Seifenblasen des nicht Wiederholbaren, und ermöglicht Magnifica so, die Gegenwart zu durchmessen.

Wartend, hoffend.

2

Wenn unversehens ein Ehemann weggeht, zerbröckelt meistens ein ganzes Leben. Die Wörter werden zu einem Strick, die Hoffnungen zu Hippen, und nicht selten verblasst die Vernunft, weil man auf Rache oder Erpressung sinnt.

Wenn unversehens ein Liebhaber weggeht, schließt sich häufig und bereitwillig eine Klammer. Und vielleicht kann man sich dann die Mühe sparen, sich zu fragen: Was wäre wenn? Oder: Warum?

Wenn hingegen ein Sohn weggeht, gibt es keinen Ankerplatz für die Gedanken mehr.

Andrea verschwand eines Morgens Ende Juli: an einem dieser Tage, an denen sich jeder nach dem Meer sehnt, irgendwohin, wo ein frisches Lüftchen weht.

Auch die Pförtnerin – die Letzte, die ihn gesehen hatte – beklagte sich über die große Hitze.

Sie sagte: »Du lieber Himmel, was ist es heiß in dieser Loge! Die Glücklichen, die jetzt schon in den Ferien sind, stimmt’s?«

Andrea antwortete: »Das können Sie laut sagen! Andererseits, wie langweilig, den ganzen Tag die Wellen anzuschauen!«

Und er lächelte, so wie jemand lächelt, der auf dem Weg ins Büro ist. Er steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen, machte ein paar Schritte auf die Eingangstür zu. Dann bemerkte er, dass er etwas vergessen hatte. Er öffnete seine Aktentasche, nahm ein Päckchen heraus, kehrte zu der Frau zurück und bat sie, es seiner Mutter zu geben, damit er nicht noch einmal die Treppe hinaufmüsse. Oh, das hätte er natürlich getan, aber er sei sowieso schon ein bisschen spät dran, und …

Kein Problem, meinte die Pförtnerin. Wenn Magnifica, so wie es ihre Gewohnheit sei, gegen zehn Uhr herunterkomme, um die Post zu holen, würde sie ihr das Schächtelchen geben.

Andrea verabschiedete sich erneut von ihr, lockerte seinen Krawattenknoten und stimmte ihr zu, ja, die Bademeister dieser Welt hatten in der Tat ein schönes Leben!

Und die Pförtnerin lachte, so wie eine Pförtnerin eben lacht, die die Treppe von acht Stockwerken wischen muss.

Wenn man sie nebeneinander sah, hätte man Magnifica und Andrea nicht für Mutter und Sohn gehalten, eher für Schwester und Bruder. Das Alter ist hin und wieder nichts weiter als eine Konvention.

Andrea hatte immerzu müde Augen, sein Blick war schläfrig, wie bei einer beginnenden Ptosis, und er war blass im Gesicht, mit vollen Wangen und schütterem schwarzem Haar. Seine Mutter reichte ihm gerade einmal bis zu den Schultern; alles an ihr war zart – von ihrem Gesäß abgesehen –, sogar die Nasenspitze, die Ohrläppchen, die Zehen. Nun, sie aß recht wenig, ernährte sich hauptsächlich von sprunghaften Gedanken und abwegigen Ideen. Auf den ersten Blick sahen sich die beiden nicht ähnlich; doch anhand einiger Eigenheiten erkannte man indes, dass sie eng verwandt sein mussten.

Zum Beispiel hatten beide die Angewohnheit, mit den Händen in der Luft zu fuchteln, wenn sie nach einem bestimmten Wort suchten, das nur ihnen gehörte und niemandem sonst.

Auch hatten beide auf der rechten Wange ein Grübchen mit einem merkwürdigen linsenförmigen Fleck darin, der durch das Spiel winziger Fältchen beim Sprechen verschwand. Und ein samtenes Muttermal hinter einem Ohr.

Ihr Kinn hatte die Form einer Kirsche, aber natürlich ohne Stiel.

Magnifica und Andrea verstanden sich, ohne einander allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken.

Hin und wieder verschwand er. Er ging morgens aus dem Haus, blieb ein paar Tage weg, und man hörte eine Weile nichts von ihm. Sie bemühte sich, ihre Fragen für sich zu behalten. An seiner Stelle hätte sie das Gleiche getan, hätte sich hin und wieder kleine Fluchten gegönnt, damit die Gegenwart in Bewegung blieb, weil sich das Leben andernfalls davonmachte und sich sein Geschmack im Handumdrehen verflüchtigte. Wenn sich Andrea also ein bisschen umsah und die Welt erkundete, war es Magnifica recht, war sie doch überzeugt, dass ihm dieses Umherschweifen guttue.

Als er an besagtem Abend im Juli nicht nach Hause kam, wunderte sie sich daher nicht; auch das Päckchen, das er der Pförtnerin anvertraut hatte, überraschte sie nicht weiter. So war ihr Sohn nun einmal. Eine Mischung aus nagenden Zweifeln und unvorhersehbaren Befindlichkeiten. Ein Füllhorn voller Wünsche und durchschaubarer Einfälle.

3

Am Fest des heiligen Antonius reihten sich die Marktstände dicht an dicht in den Straßen. Die Leute warfen im Vorübergehen einen Blick darauf und entschieden schnell, ob sie etwas kaufen oder weitergehen sollten, denn die Kälte lud nicht zum Verweilen ein. Die Händler traten von einem Fuß auf den anderen, tranken und priesen lauthals ihre Ware an, um gegen die Kälte anzukämpfen. Viele Frauen saßen auf Holzbänken mit Tonstövchen im Schoß, die unersättlich nach Glut verlangten, und die Frauen liefen immer wieder zur Bäckerin hinüber, um neue zu holen. Unterdessen stürzten die Musikanten in der Pause zwischen zwei Stücken schnell in die Osteria und versammelten sich um den Holzofen, auf dem Orangenscheiben verteilt lagen, deren bitteres, verbranntes Aroma die Lebensgeister wieder weckte.

Aber man musste schon froh sein, wenn es nicht schneite.

Der Januar war nun einmal der Januar.

Es waren – zu jener Zeit – nicht viele Menschen unterwegs im Dorf, denn etliche waren fortgegangen, um sich wer weiß wo Arbeit zu suchen, und die Zurückgebliebenen zogen es zu dieser Jahreszeit vor, sich in ihre vier Wände oder Werkstatt zu verkriechen, jedenfalls irgendwo drinnen. Am Festtag des Schutzpatrons belebten sich jedoch die gewundenen und für gewöhnlich stillen und verwaisten Gassen des Dorfs mit ungewohnter Betriebsamkeit, denn die Menschen wollten – neugierig – etwas von den seltenen knusprigen Krümeln eines ansonsten lethargischen, stumpfen Lebens abbekommen.

Am Antoniustag waren alle fromm, auch jene, die sonst nie in die Kirche gingen, und die, die in einem Wutanfall oder wenn sie betrunken waren, sämtliche Heiligen der Reihe nach verfluchten, ließen den Namen des heiligen Antonius stets aus. Weil man seiner Hilfe bedurfte. Und zwar in ganz praktischem Sinn.

Der Pfarrer zog von Stall zu Stall, um die Tiere zu segnen, während vier junge Männer die Statue des Einsiedlers auf den Schultern trugen. Indessen küssten die alten Frauen die weißen Gipsfüße, ehe sie sich der Prozession anschlossen, um zusammen mit den anderen eine lange Schleppe aus Gesängen und Gebeten zu bilden, die sich schwankend vorwärtsbewegte.

So schob sich die Prozession von Platz zu Platz, bis man schließlich in der Kirche ankam, die bald vor Gelöbnissen, Gebeten und Versprechen widerhallte. Und nach der Messe strömten alle zu einer Stelle, wo sich die Straße verbreiterte und ein Feuer brannte, das jeder mit einem Scheit vom eigenen Holzstoß zu Hause nährte.

Über den Flammen, dem obersten Rauchband, schwebten etliche Hoffnungen, die sich schwer in Worte kleiden ließen, und die Blicke folgten ihnen in inbrünstiger Leidenschaft, bis sie ihnen entschwanden.

Ada Maria – komme, was wolle – versäumte diesen Moment nie. An Gründen, um Gnade zu flehen, mangelte es ihr nicht: für sich, für die Gänse, die Truthähne und Tauben im Hinterhof, für das Schwein und für diese Risse, die quasi über Nacht in der Mauer neben ihrem Bett aufgetaucht waren und nachts leise knirschten, aber vor allem für die Tochter, die dürr wie ein Hühnerbein und blass wie Kälberlab war. Viel zu oft heimgesucht von einem dreisten Fieber, das sie regelmäßig wie die Brandung überrollte und ihr nie lange Ruhe gönnte.

»Ach, das ist nichts Tragisches«, sagte der Arzt, der ihre beharrliche Sorge leid war. »Nur die üblichen Kinderkrankheiten, das verliert sich, wenn sie groß werden.«

Aber Ada Maria war nicht zu beschwichtigen. Wie lange würde sie sich denn noch gedulden müssen? Und was, wenn sich der Doktor doch irrte? Sie hatte nur eine Tochter. Nur diese.

Lange kniete sie so da, die Arme ausgebreitet und die Handflächen gen Himmel, sich darbietend, und sprach zum Heiligen, ohne vieler Worte zu bedürfen.

Indes wanden sich die Flammen. Fast alle Funken, die sich vom Feuer lösten, formten sich zu nervös aufsteigenden Ketten; einige wenige zogen hingegen die umgekehrte Flugbahn vor und stürzten sich auf die Erde. Ada Maria verharrte reglos, bemühte sich, ihnen nicht auszuweichen, auch nicht, wenn die Funken ihr in die Haare flogen.

Ihre Freundin Rosetta, die ihr dieses einzige, kränkliche Töchterchen über das Taufbecken gehalten hatte, stieß sie an. Sie wollte sie ein wenig von den Flammen wegschieben. Sie beugte sich zu ihr hinüber und murmelte ihr ins Ohr: »Du bist wirklich verrückt. Wenn dir die Flammen die Haare versengen, wer schaut dich dann noch an?«

Stimmt, dachte sie, die Haare waren ihr noch geblieben.

Sie hatten als Einzige Widerstand geleistet – wie, war ihr ein Rätsel –, gebändigt in einem langen Zopf, der, geduldig von Haarnadeln gehalten, im Nacken zu einem Knoten geschlungen war.

Davon abgesehen war sie nur noch ein dürrer Zweig.

Oder vielleicht eher eine heruntergebrannte Kerze. Einer dieser schmalen weißen Stumpen mit verstümmeltem Docht.

4

Was passiert, wenn ein Krieg zu Ende geht?

Wer kann das genau sagen?

Man muss es erleben, um es sagen zu können.

Wenn Magnifica manchmal erschöpft ist, todmüde, am Ende ihrer Kräfte, schließt sie die Augen und stellt sich die Hoffnung vor, die in einem weit zurückliegenden Monat sprießt, irgendwo zwischen Mai und Juni.

Die eine oder andere Akazie hat standgehalten, aber über allem liegt der Geruch nach Bauschutt, Sand, Erdlawinen und Schrott. Die Trümmer beherbergen die letzten Reste von Angst. Inmitten des Nichts ist die Hoffnung körperlos; niemand kann sie berühren, niemand kann an einer ihrer Brüste saugen und sich die Erstmilch einverleiben, die die Zukunft nährt. Und doch spürt man die Hoffnung. Sie schreitet barfuß voran. Kleidet Abwesenheiten. Wispert Gelöbnisse. Atmet neben jenen, die nach Leben hungern. Friede den Toten. Da bleibt einem nichts anderes übrig, als einen Beginn zu erfinden.

Die Hoffnung ist eine Erfindung und auf unserer Seite.

Das Ende des Kriegs ist eine träge Schlange von langsam abziehenden Panzern, und man spürt noch, wie die Straßen zittern. Die Menschen lachen und weinen zugleich. Einige Stimmen verblassen, andere wiederum tauchen aus unterirdischem Schweigen auf. Und wer die Kraft wegzugehen hat, geht, und wer die Kraft zu bleiben hat, bleibt.

Die Hoffnung ist das, was kommen wird. Danach.

Wie oft hat Magnifica nicht schon nachgebohrt!

Unermüdlich versucht sie, mehr zu erfahren. Jedes Mal möchte sie ein bisschen mehr wissen – ist gierig danach; sie will sich alles, was damals war, erzählen lassen, und wenn möglich auch das von der Zeit davor.

Ada Maria – ihre Mutter – spricht von sich aus nicht darüber. Das kann man ihr auch kaum verdenken. Wozu von den Bombardierungen erzählen, dem Hunger, der Flucht, den Gräben, Wällen und Dämmen, Tagen und Nächten, die sich überschlagen, sodass man kaum mehr die Jahreszeiten unterscheiden kann?

Wenn man im Krieg ist, oder an dessen Ausläufern, lohnt es sich, jeden Gedanken zu ergreifen, die Vernunft zu konfiszieren und sich als Geisel des Wahnsinns auszugeben. Wenn man diese Absurdität überwinden möchte, lohnt es sich, jede Frage nach dem Wann, Wie, Warum im Keim zu ersticken. Ein Kriegsende ist nie für alle Zeiten, aber die Hoffnung führt immer und überall woanders hin.

Vor allem das – aber freilich auch anderes – wiederholt Ada Maria unermüdlich, wenn die Tochter ihr wieder einmal Löcher in den Bauch fragt, wobei sich Ada Maria zunächst immer ein bisschen sträubt. Sie lässt sich bitten, scheint das Schweigen vorzuziehen. Sie weicht aus, täuscht. Doch irgendwann gibt sie nach, öffnet sich. Ihr Gesicht erhellt sich, dann sprudelt es nur so aus ihr heraus und sie wird nach und nach stets ein bisschen präziser mit ihren Beschreibungen. Sodass einem ganz bang wird. Sie ist alt, aber ihre Erinnerung – ihr Blick zurück – ist noch immer klar. Und wenn sie erzählt, tut sie im Grunde nichts anderes, als sich selbst von einer dichten schartigen Melancholie zu kurieren.

Magnifica sammelt die Sätze der Mutter, bindet sie sich um wie einen Schal, trinkt sie wie Wasser, lauscht ihnen als ihre Schuldnerin und versucht, während sie sich in die Vergangenheit stürzt, sich nicht heillos darin zu verfangen, sich nicht allzu sehr zu grämen. Es fällt ihr schwer, die Tränen zurückzuhalten, vor allem weil es das Leben mit Großmutter Eufrasia nicht gut gemeint hat. Ihre Geschichte ist für sie eine schmerzende Wurzel.

Eufrasia war bei Kriegsende achtundzwanzig Jahre alt.

Aniceto, ihr Mann, kam ihr wie eine Kröte vor.

Nachts weinte Eufrasia fast immer. Ein dumpfes, schweres Weinen. Hin und wieder auch kleine, erstickte Schluchzer.

»Warum weinst du?«, fragte er sie.

»Ach, wegen dem Krieg«, antwortete sie und zog die Nase hoch. Aber das war gelogen, und er wusste das auch.

Was sie in Wirklichkeit zum Weinen brachte, waren die Füße des Kröterichs, dieser weiche, milchige Bauch, der sich an ihren drückte wie eine Saugglocke, waren diese hervorspringenden, kupferfarbenen Augen, war der Mund, der alles Mögliche verschlingen konnte: von winzigen Insekten bis zu aufgeschwemmten Ratten. War diese blinde, obsessive Art, im Moment des Eindringens ihre Achseln zu umklammern. Und zum Schluss dann dieses heftige Quaken, das dafür sorgte, dass sie nicht mehr mit dem Weinen aufhören konnte.

Für Eufrasia waren diese Nächte der Sitz einer namenlosen geheimen, gezackten Pein.

Tagsüber hielt sich Aniceto abseits, versteckte sich, so wie es den Kröten eigen ist. Der Krieg hatte ihn verändert, aufgebläht, ausgeweidet und seinem Willen jede Energie zum Arbeiten geraubt. Auf dem Feld, zum Beispiel. Oder beim Reparieren der beschädigten Häuser oder beim Freiräumen der Straßen, Aufgaben, mit denen sich, jetzt nach Kriegsende, alle anderen zu schaffen machten. Nur er nicht.

Wenn er den Versuch unternahm, das Haus zu verlassen, schleppte er sich lediglich dumpf und schlapp von einer Ecke des Dorfs zur anderen.

Nachts hingegen, da wachte er auf.

Er wollte ein Kind, einen Jungen; Ada Maria reichte ihm nicht.

Eufrasia verweigerte sich dem Samen des Kröterichs und wurde einfach nicht schwanger. Und Aniceto verlor allmählich die Geduld. Er wurde fuchsteufelswild. Weil er es schon so lange versuchte, seit sie evakuiert worden waren. Er hatte nicht am Krieg teilgenommen, sondern war wegen einer Nierenentzündung ausgemustert worden. Und so war er bei den Alten und den Frauen und den Kindern geblieben. Vielleicht wäre es besser für ihn gewesen, er wäre an die Front gezogen, vielleicht wäre er dann nicht so aufdringlich und unerbittlich geworden.

»Was, zum Teufel, ist bloß los mit dir? In unserem Dorf gibt es mehr schwangere Frauen als Brot, und du, was ist mit dir?«

Immer wieder gab sie mit leiser, belegter Stimme dem Krieg die Schuld. Sie, die so früh schon Mutter geworden war. Das war damals nichts Besonderes, als man, ohne groß zu überlegen, heiratete, wenn die Eltern einverstanden waren. So war es passiert, sie war in null Komma nichts schwanger geworden, und noch dazu aus Liebe. Damals war Aniceto noch voller Zärtlichkeit, die sich jedoch leider nicht als dauerhaft erwiesen, sondern sich viel zu schnell verflüchtigt hatte. Wie ein heller Blitz. Auf den ein tiefes, langanhaltendes Donnergrollen folgte. Und damit hatte es sich dann.

Ada Maria hörte sie jede Nacht diskutieren. Wenn ihr Vater im Dunkeln die Stimme erhob, zog sie sich das Kissen über den Kopf und reihte ein Stoßgebet ans andere, von denen sie jedes mit einem ora pro nobis beendete. Sie rief die heilige Elisabeth an und den Erzengel Gabriel, flehte sie an, die Mutter schwanger und den Vater stumm werden zu lassen, so wie es Zacharias widerfahren war. Mittlerweile waren die Nächte auch für sie und die dünnen, zerbrechlichen Wände dieses Hauses zu einer Tortur geworden, das mehr schlecht als recht wieder errichtet worden war.

Vielleicht waren ihre Gebete erhört worden.

Oder das Schicksal hatte seine Hände im Spiel.

Oder es lag an der beharrlichen Wut der Kröte.

Oder aber an Eufrasias Tapferkeit.

Wer weiß.

Am 3. März 1946 gebar Ada Marias Mutter viel zu früh ein schmächtiges Wesen: dünn wie ein Grashalm. Sie riskierte dabei ihr Leben, ja. Aber sie schaffte es. Durch die Gnade des heiligen Antonius sagten – voller Inbrunst – die Leute im Chor. Pietrino nannten sie dieses Wesen, das für immer zwei Mütter haben sollte: Eufrasia, inzwischen ausgelaugt und kraftlos, und Ada Maria, die mit ihren zehn Jahren aufgeblüht war, wie es sonst nur die Zweige des Kirschbaums im Frühling fertigbringen – am Abend gibt es sie noch nicht, und am nächsten Morgen sind sie da, samtig und robust.

Weil er die Geburt dieses Jungen als sein Verdienst ansah, blies sich Aniceto vor Genugtuung und Stolz auf und gab sich versöhnlich. Derweil fürchtete sich Eufrasia noch immer vor den Angriffen des Kröterichs, deren Häufigkeit indes abnahm. Und wenn sie stattfanden, waren sie weniger laut und von kürzerer Dauer.

Eufrasia stillte lange. Nicht zuletzt deshalb, weil man Frauen, die stillen, eigentlich nicht anrührt.

Sie hörte erst auf, als ihre Brüste schon keine Brüste mehr waren, sondern nur noch zwei Ausbuchtungen ähnlich zweier leerer Schweinsblasen unmittelbar nach dem Schlachten. Die, bevor sie aufgeblasen werden, schlaff und leblos sind.

Pietrino konnte da schon laufen. Flink wie ein Wiesel.

Die Hoffnung war für Ada Maria ein offenes Tor.

In stillen Stunden malte sie sich die Liebe aus. Das, was es nie geben wird und dennoch gläserne Träume erweckt und einen verwirrt, nährt und auf Entdeckung gehen lässt.

5

Das Dorf glich einer Fischgräte; hager und bleich.

Doch die Gemüsegärten erwachten allmählich wieder zum Leben. Und der Chicorée verströmte, jetzt, im April, einen glücksverheißenden Geruch.

Ganz langsam erwachte auch Aniceto aus seiner Lethargie.

Eufrasias Verdienst oder das der Geliebten?

Schwer zu sagen.

Er arbeitete wenig, ging aber häufig auf die Jagd. Besser als nichts.

Frühmorgens, wenn die Kinder noch schliefen, machte er sich auf den Weg: Pietrino, die Händchen zu kleinen Fäusten geballt, die hin und wieder zuckten, als vollführten darin unzählige Eidechsen Sprünge und Kapriolen; Ada Maria mit geschlossenen Augen und geblähten Nasenflügeln, um den Duft der Veilchen einzufangen.

Eufrasia lag, in ein langes weißes Nachthemd gehüllt, wie ohnmächtig da, so als wäre sie unschlüssig, ob sie lieber leben oder sterben wollte.

Im Halbschatten der kleinen Nachttischlampe betrachtete Aniceto sie mit dem gleichen Erbarmen, mit dem er zusah, wie die Rebhühner unter seinen Schüssen noch lebend und bebend auf die Erde stürzten, ehe er zu ihnen rannte und ihnen, weil sie ihn so dauerten, mit einer schnellen und sicheren Bewegung den Hals umdrehte, um ihre letzten Zuckungen zu verkürzen. Von diesen Bildern bestürmt, schlich er auf Zehenspitzen aus dem Zimmer, weil ihm nicht danach war, sich von dem, was von seiner Frau übrig war, zu verabschieden. Haut und Knochen.

Indes stellte sich Eufrasia auf ihrer Seite des Bettes schlafend, bis die Tür knarrend ins Schloss fiel und die schweren Schritte ihres Mannes aussperrte. Dann öffnete sie die Augen und spähte in das Halbdunkel, während sie mit einem Kreuzzeichen die zarten Blütenblätter ihrer endlosen Gebete versiegelte und sämtlichen Heiligen, natürlich zuallererst dem heiligen Antonius dem Großen, für dieses Alleinsein dankte, das ihr eine Ahnung von Freiheit schenkte. Dann streckte sie die Beine aus und nahm das gesamte Bett in Besitz: Sie legte sich der Länge nach quer übers Bett, verrückte die Kissen, spielte mit ihren Haaren und schlief, endlich, ein.

Im selben Moment trat Aniceto über die letzte Stufe der Treppe, über die man vom Erdgeschoss mit der Küche ins Obergeschoss mit den Schlafzimmern gelangte. Langsam, um möglichst keine Geräusche zu machen, war er die Treppe hinabgestiegen. Die typischen Hüpfbewegungen der Kröte kamen ihm dabei zugute.

Aus dem Hahn über dem Spülstein tropfte kaltes Wasser, und er musste nur die gewölbten Hände darunterhalten, um ein paar Dutzend davon einzufangen und sich Gesicht und Kopf damit zu erfrischen.

Der Patronengurt, den er sich um die Hüften geschlungen hatte, roch nach altem Leder.

Das Haus wirkte jetzt, da es so still war, anders als sonst, vielleicht größer, vielleicht auch wohlhabender, die Pendelschläge der Uhr klangen weniger tückisch; unter der Asche zuckten die letzten orangefarbenen Glutreste.

Neben der Tür lehnte wie ein aufrechter Wächter das Gewehr. Aniceto hatte sich in es genauso verliebt wie in Teresina, seine Geliebte.

Eines Morgens bei strahlendem Sonnenschein war es geschehen.

Drei Männer hatten in einer Ecke des Dorfplatzes, wo sie eine Wasserquelle vermuteten, mit Pickeln die harte Erde bearbeitet. Mit dem Rücken zum Bergkamm und im Mund zwei trockene Kichererbsen, auf denen er herumkaute, blieb Aniceto stehen und sah ihnen zu. Seine Gedanken irrten zwischen den Bildern einer verstümmelten und vagen Erinnerung umher. Als er plötzlich einen Schrei hörte, trat er zu den drei Männern. In der sandigen Erde kamen vier Flinten zum Vorschein, die irgendjemand dort versteckt hatte.

Es war ein einfaches Rechenexempel – für jeden eine.

Die Waffen waren schlicht, aber funktionstüchtig.

Von der Jagd verstand Aniceto etwas, da er als kleiner Junge oft mit seinem Großvater in den Wald gegangen war: um anhand von Moschusgeruch, heruntergefallenen Blättern und auseinandergebogenen Ginsterbüschen Wild aufzuspüren.

Dieses unverhofft ergatterte Gewehr weckte in ihm die Lust, wieder im Wald herumzuwandern und Beutetiere und Gedanken zu erspähen.

Es war eine einläufige Flinte mit abgerundetem Kolben, glatt und fest wie die Hinterbacke einer Stute, und einer wie Silber glänzenden Basküle mit von geschickten Händen eingraviertem Muster aus geschwungenen Linien und Spiralen und Ringen, die ineinander verschlungen waren wie in die Irre führende Wege. Und mit einem direkt auslösenden Abzug.

Als Aniceto um halb fünf Uhr morgens das Haus verließ, erstickte das Dorf fast in einem wabernden Nebel, der sich träge mit dem sich aus den Schornsteinen kringelnden Rauch vermählte. Die Nacht verdichtete Fenster und Türen, Straßen und Ställe.

Er wusste, dass er hier im Dorf war, natürlich wusste er das, stellte sich jedoch vor, woanders zu sein – in einer watteartigen Zirruswolke vielleicht.

Mit offenem Mund und geblähten Nasenflügeln zog er die Luft tief ein, als wollte er die ganze Welt in seine Lungen saugen. Er keuchte, weil eine leichte, wohltuende Angst durch seine Beine rieselte und sie überraschend flink, ja fast behände werden ließ.

Die Dunkelheit barg allerlei Gerüche.

Teresina wartete auf ihn. Sie stand am Fenster und wartete darauf, zwischen den Lamellen der Fensterläden Aniceto zu erspähen, wenn er sich näherte. Jetzt sah sie seine in Streifen geschnittene Gestalt, die im Vorübergehen an der Kapelle der Rosenmadonna einen angedeuteten Kniefall machte und sich bekreuzigte. Dann zählte sie bis auf fünfunddreißig: die Zeit, die er benötigte, um die Treppe hinaufzusteigen und mit falscher Diskretion mit den Knöcheln seiner Rechten gegen den Fensterladen der Haustür zu pochen. Indes entzündete Teresina eine Kerze, um das Zimmer zu erhellen. Als Aniceto hereinkam, staunte er wie immer zuallererst über das Deckengewölbe dieses kleinen Hauses und das unerwartet grelle Grün, in dem es gestrichen war.

Teresinas Bett duftete nach Milch und Zucker.

Die Sprungfedern ausgeleiert und schwankend, die Bettdecken triumphierend vor lauter Spitzen, die Laken von verschwenderischem Weiß.

Der Patronengurt fiel mit einem dumpfen Geräusch auf den rauen Zementfußboden. Aniceto nahm Teresinas von langen, lockigen schwarzen Haaren eingerahmtes Gesicht in beide Hände. Er betrachtete sie, mal von der einen, mal von der anderen Seite, als wollte er den Wert einer seltenen Goldmünze abschätzen.

Sie ließ ihn gewähren. Und bog sich mal nach rechts, mal nach links, voll stillschweigender Zustimmung, sich nachgiebig biegend und ihn ausgiebig willkommen heißend.

Damals alterten die Menschen schnell, vor allem die Frauen. Das lag weniger an den Lebensjahren, auf die man zurückblickte, als vielmehr an der Plackerei. Eufrasia zum Beispiel war bereits ausgelaugt und verbraucht.

Teresina war nicht viel jünger als Eufrasia. Aber sie hatte Augen, die sich nicht vor Kröten fürchteten, und einen üppigen Körper, der sich, ohne zu zögern, hingab, mehr als nur einem Mann. Sie besaß einen ruhigen, besonnenen Charakter. Und sie achtete auf sich.

Inzwischen brach die Morgendämmerung herein, breitete sich in violetten und blauen Bordüren aus.

Die beiden Liebenden stürzten indessen in einen Strudel aus Gerüchen; sie verließen die vorgezeichneten Wege und begaben sich in ein Gewirr verwunschener Pfade. Teresina öffnete und schloss sich wie eine im Wasser treibende Weichkoralle.

Aniceto legte eine unvermutete, drängende Eile an den Tag, passte sich aber sanft dem Rhythmus ihrer Bewegungen an. Und seine Augen waren voller Nachsicht gegenüber den Spuren des Alters dieser Frau.

Auf dem Nachtschränkchen stand eine bauchige Karaffe, fast bis zum Rand mit einem Gemisch aus Wasser, Zucker und Zitronensaft gefüllt: das beste Mittel, um gleich anschließend den Durst zu löschen.

Sie trank in kleinen, vorsichtigen Schlucken. Er kippte die Limonade herunter, die ihm zum Teil aus den Mundwinkeln troff und in die Halsfalten lief. In diesem Moment konnte auch Teresina den Kröterich erahnen, aber dieses Bild war schnell wieder verschwunden – schob sich nur kurz vor ihr geistiges Auge und war bereits gänzlich verblasst, als sich Aniceto, wieder angezogen, zum Gehen schickte. Aber zuerst noch ein letzter Kuss, dann wurde die Tür des Nebeneingangs fest von den mageren Händen der Hausherrin verschlossen, ehe sie wieder nach dem von Lochstickereien durchwirkten Nachthemd griff und noch ein wenig reglos in der Mitte des Zimmers verweilte, um seufzend ihren Träumen nachzulauschen. Ein Bad in beinahe eiskaltem Wasser vertrieb schließlich den letzten Rest von Trägheit, des Sich-treiben-Lassens. Jetzt kehrte sie in die Wirklichkeit zurück, in den Alltag, der gehegt werden wollte, indem man unermüdlich voranschritt, auch wenn man immer wieder stolperte. Wie alle anderen auch.

Aniceto ging, die Flinte im Arm, beschwingt seines Weges, beflügelt und zugleich verwirrt von dem neuen Atem, den die Geliebte ihm eingehaucht hatte.

Zu jagen erschien ihm genau das Richtige, um aus seiner Betäubung zu erwachen, und beim Schießen spürte er seinen Körper von neuem vibrieren, wie in diesem von Weiß und Spitzen blitzenden Bett.

Die Berge – wie immer atemberaubend in ihrer geordneten Schönheit – umfingen seine Gedanken, die, gleich welchem Weg er folgte, zu einem einzigen Ziel führten: geradewegs zu Teresinas Herz. Und schon erfasste ihn wieder eine nervöse Unruhe in Erwartung des nächsten Rendezvous mit dieser Frau, die ihn an Meerschaum erinnerte.

6

Alle Frauen gingen zum Waschen an den Fluss. Mit Aschenlauge ließ sich fast jeder Fleck ausbleichen.

Nicht selten fanden sich Eufrasia und Teresina Seite an Seite dort wieder.

Eine nicht gerade einfache Nachbarschaft.

Eufrasia teilte schneidende Blicke aus, spitze Bemerkungen, allenthalben Klagen. Sie: die Betrogene und Besiegte. Teresina ließ sie reden und beugte sich statt einer Erwiderung beim Auswringen der Laken weiter nach vorn als nötig, um ihre vollen, festen Brüste zur Schau zu stellen.

Aber Eufrasia spielte lediglich die von ihr erwartete Rolle, folgte einem von der Gewohnheit, den Gepflogenheiten geschriebenen Drehbuch. Man hielt das so damals, auf dem Land. In ihrem Herzen jedoch spürte sie eine große Dankbarkeit gegenüber dieser Rivalin, die sie vom Kröterich befreit hatte. Endlich.

Seit Aniceto zu Teresina ging, war er verändert. Die Distanz zwischen ihm und seiner Frau hatte sich noch vergrößert. Aber wenn er von der Jagd zurückkehrte, betrat er pfeifend das Haus und erzählte von den Laubzweigen, den roten Früchten des Weißdorns, der Haut einer sich häutenden Schlange, von den herzförmigen Hufen der Rehe, von den Stacheln eines Stachelschweins; von bestimmten wilden und bizarr anmutenden Orchideenarten, die man in abgelegenen Winkeln des Unterholzes aufstöbern konnte und die die Augen trunken machten. Sogar von Meisen und Falken sprach er. Dabei breitete er auf dem Tisch seine Beute aus: Bündel von wildem Spargel, verschiedene Federn und all die Vögel, die er geschossen hatte und die – wie er ihr versicherte – mit einer weißen Soße oder mit einer Füllung aus Ei und Brotkrume bestimmt vorzüglich schmecken würden.

Pietrino lauschte entzückt und mit einem Ausdruck ungläubigen Staunens in den Augen. Eufrasia dankte Aniceto mit belegter Stimme, für das Wildbret natürlich, aber auch für die den Kindern dargebotene gute Laune. Unterdessen streichelte Ada Maria ihrem Bruder liebevoll übers Haar und strich dabei nicht nur seine braunen Locken glatt, sondern auch die gezackten Bordüren dieser Kindheit.

Das gemeinsame Abendessen, bei dem die ganze Familie um den Tisch versammelt saß, war, seit es Teresina gab, nicht mehr so bedrückend, und Eufrasia segnete sie leise bei jedem Bissen, den sie hinunterschluckte.

Ada Maria, die es wusste und verstand, erträumte sich für sich selbst eine andere Geschichte.

Und spann Geduld und Hoffnung. Für alle ein bisschen.

Sie verbrachte viel Zeit mit dem Vater, heftete sich ihm an die Fersen, um insgeheim die Mutter vor seinen Seitensprüngen zu bewahren, seinen häufigen Abwesenheiten. Stundenlang verharrte sie wie ein Wachtposten an seiner Seite in seinem ans Haus gebauten Schuppen, wo er sich eine sonderbare Werkstatt errichtet hatte; er war nämlich von der fixen Idee besessen, alle möglichen Tiere zu präparieren: einen Teil der Vögel, die er jagte, aber auch tote Tiere, die er einsammelte – sofern sie noch warm waren –, in den Gräben, den Gemüsegärten, auf den Feldern.

Es war ihm gelungen, die dazu notwendigen Utensilien zu beschaffen: Zangen und Kneifzangen, Gaze, Alkohol.

In seinem Schuppen schien er ein völlig anderer Mensch zu sein; sein Verhalten war anders als sonst, hier wurde er zu einem Chirurgen mit unglaublichem Feingefühl, auch wenn er mit den Händen nur leblose Wesen ausweidete. Und wenn er sie wieder zusammensetzte, schien jede seiner Bewegungen von einer geheimnisvollen, unerklärlichen Zartheit geleitet zu sein.

Ada Maria hielt sich ein bisschen abseits, um ihren Vater zu beobachten, diese weichen Züge zu erhaschen, die sonst nur schwer an ihm auszumachen waren. Die optischen Eindrücke und die Gerüche, die sich ihr darboten, waren bisweilen abstoßend, aber das Mädchen hielt sie aus. Aniceto war nicht gleichgültig gegenüber der beharrlichen Gegenwart und dem Mut seiner Tochter, sodass er ihr eines Tages – als wollte er sie auszeichnen – beibrachte, wie man die Schmetterlinge präparierte, die es jetzt in den Feldern im Überfluss gab und sich ohne Widerspenstigkeit einfangen ließen. Obwohl sie durchaus abwehrende Gefühle empfand, ließ sie sich willig von ihm anleiten. Einerseits machte sie sich Vorwürfe wegen ihrer überraschenden Grausamkeit, mit der sie die Schmetterlinge ihres Tanzes beraubte – daher empfand sie Bedauern und wurde von Schuldgefühlen bestürmt. Andererseits genoss sie es, eine Sache mit dem Vater teilen zu können, es erschien ihr wie eine große Gnade. Die halben Tage, die sie zusammen mit ihrem Vater im Schuppen verbrachte, verliefen nicht besonders gesprächig, sondern waren von wenigen Worten und routinierten Handgriffen geprägt. Die getrockneten Schmetterlinge wirkten wie aus Papier; mit einer kleinen Spritze injizierte Ada Maria Tropfen warmen Wassers in ihre Körper. Dann versuchte sie mit äußerster Sorgfalt und Vorsicht, die Flügel zu weiten, deren Muster, Formen und Farben eine erstaunliche Vielfalt aufwiesen. Mithilfe einer Stecknadel breitete sie die Insekten unter einer Glasscherbe aus. So boten sie sich ihr in einem ausgedehnten Flug dar – oder vielleicht immerwährendem Flug –, gehalten von überaus schlichten Rahmen aus hellem Holz. Die Augen des Mädchens bestaunten diese Kästchen, der imaginäre Schlag der Schmetterlingsflügel korrespondierte mit dem ihrer Wimpern und dem Puls ihrer Hoffnungen. Derweil lernte sie die Namen der Schmetterlinge, indem sie sie immer wieder flüsternd aufsagte: Admirale, Schwalbenschwänze, Kleine Kohlweißlinge, Zipfelfalter, Faulbaumbläulinge, Tagpfauenaugen und Nachtfalter. Ada Maria bewunderte fasziniert ihre samtene Oberfläche und weinte leise, wenn sie sie unversehens berührte und sich ihre Schönheit auf ihre Fingerkuppe einprägte. Und so färbten sich diese trägen Tage in den Farben der Schmetterlinge, rot, violett, schwarz und gelb.

Unterdessen reihte Aniceto auf alten Tischen präparierte Spechte, Eulen, Füchse, Stockenten, Marder, Schleien, Karpfen, kleine Falken, namenlose schwarze Schlangen, Äskulapnattern und andere Nattern auf.

Die Leute kamen, um sich die Tiere anzusehen, die tot waren und dennoch auf ihren Beinen standen, ihre scharfen Zähne zeigten und sie mit ihren Augen ansahen. Dieser Mann redete sogar mit seinen Tieren, erfand Geschichten, die er wer weiß woher hatte, und wenn Ada Maria ihm dabei lauschte, musste sie lachen, fürchtete sich aber auch ein bisschen vor ihm.

Weil ihr Vater so gern mit dem Geist der verstorbenen Tiere plauderte, aber jeder Gelegenheit zu einem Gespräch mit seiner Frau aus dem Weg ging?

Es brachte nichts, Antworten darauf zu suchen.

Und so lernte Ada Maria auf schmerzliche Weise, dass Worte Gesichter der Begierde sein können und man richtige Zwiesprache nur mit jenen hält, die man auch liebt, und Eufrasia kam ganz gewiss zuletzt in der Rangfolge seiner Liebe. Nach einer langen Reihe ausgestopfter Tiere.

Litt Eufrasia unter dieser heimlichen Klassifizierung?

Das Mädchen verlieh ihrer Besorgnis nie Ausdruck, behielt die Frage aus Respekt vor ihrer Mutter für sich. Aber sie machte sich so ihre Gedanken über dieses Schweigen.

Pietrino indessen wuchs, sang und lachte. Er spielte Himmel und Hölle, hüpfte dabei auf einem Bein in schmale, lange Felder, die die Kinder mit einem Stock in die Erde gezeichnet hatten, um schnell den Himmel zu erreichen und dann wieder zurückzuhüpfen. Er verkündete, er wolle nicht in die Schule gehen; geduldig erklärte ihm seine Schwester, die Schule zu besuchen sei ein Segen. Und zwar für alle. Sie zeigte ihrem Bruder mit einem leuchtenden Stift – der, obgleich aus Plastik, etwas Kostbares für sie war –, wie man Vokale zwischen die Linien eines alten Schulhefts malte, und formte mit den Lippen die dazugehörigen Laute, die wie unsichtbare Seifenblasen herumschwirrten und auf Pietrinos Kopf hüpften. Doch er gab sich unmissverständlich desinteressiert, schmollend, unaufmerksam.

Damals rochen und schmeckten Sommer noch nach Sommer, nach winzigen zwischen den Gräsern der Wiesen versteckten Erdbeeren, nach Mohn, der vom Wogen des Getreides ganz benommen war, nach Kirschen, die darauf warteten, mit Zucker eingemacht zu werden, nach entzweigeschnittenen und unter einem Netz ausgebreiteten Tomaten, die in der Sonne trockneten, nach verrückten Schwalben, die im Zickzackkurs oder in schwindelerregendem Wirbeln das Blau durchlöcherten.

Damals waren Ada Marias Tage noch zarte, ihre Einsamkeit verwahrende Orte, an denen Versprechen und Wetten auf die Zukunft ins Kraut schossen.