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Peter Michalzik zeichnet in >1900< ein bilderreiches, vielstimmiges Panorama vom Beginn des vergangenen Jahrhunderts. Eindrücklich und höchst anschaulich bringt er uns das aufregende Denken und Leben bekannter Persönlichkeiten nahe.

Ob die faszinierenden Richthofen-Schwestern oder der halluzinierende Friedrich Nietzsche, ob der einsiedlerische Hermann Hesse oder der schlaflose Max Weber – sie alle dachten das Leben neu und kreierten eine Gegenkultur, die bis heute wirksam ist. Reformpädagogik und Körperkult, Psychologie und freie Liebe, Pazifismus, Wellness und Vegetarismus – all dies entdeckten zivilisationskritische Künstler, Intellektuelle und Visionäre vor über hundert Jahren.

So ist es die inspirierende Geschichte vom Glanz, Niedergang und Fortleben einer großen Glückssuche auf einem Berg im Süden, die der Autor uns hier erzählt.

Autor

Credit: © Manfred Kötter

Jahrgang 1963, studierte Germanistik, Philosophie und Theaterwissenschaften in München und war Theaterkritiker und Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Rundschau. Er veröffentlichte Biografien über Gustaf Gründgens, Siegfried Unseld und Heinrich von Kleist. Bei DuMont erschien zuletzt ›Die sind ja nackt‹ (2009), ein Buch über zeitgenössisches Theater. Peter Michalzik ist Dozent am Mozarteum Salzburg und an der Schauspielschule in Frankfurt am Main.

Peter Michalzik

1900

Vegetarier, Künstler und Visionäre suchen nach dem neuen Paradies

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Bernadette Langers in Liebe gewidmet

Vorwort

 

Der Monte Verità existiert schon lange nicht mehr. Der kleine Berg schaut auch heute noch auf Ascona herab, trotzdem gibt es den Monte Verità und auch das zu ihm gehörende Ascona nur mehr in der Fantasie und der Erinnerung. Der vergangene Monte Verità und das Ascona von damals sind gemeinsamer Kristallisationspunkt europäischer Geschichte geworden, sie sind der Ort eines Traums, den dieser Kontinent lange von sich selbst geträumt hat und immer noch träumt. Ascona und der Monte Verità sind zentrale Bezugspunkte für jene andere Seite der Moderne, einer nicht technischen, nicht naturwissenschaftlichen, nicht merkantilen oder ökonomischen Bewegung, die für das gute Leben steht.

Wenn man sich ins Gedächtnis ruft, wer und vor allem was sich hier versammelt hatte – der Glaube an die Natur, an die Heilkraft von Luft und Licht, an die Gesundheit und das Sanatorium, an die verwirklichte Utopie, an den Eigensinn in seinem allereigentlichsten Begriff, als der Besinnung auf sich selbst, dazu der Anarchismus, das schöne Leben, der Vegetarismus und der Veganismus, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, das Mutterrecht, ungezählte Arten von Esoterik, die Theosophie, verschiedenste Psychotechniken bis hin zu einer wilden Form der Psychoanalyse, die freie Liebe, die Nacktkultur, der Erotismus, die natürliche, erotikfreie Nacktheit, überhaupt die Natürlichkeit, Nietzscheanismus und Tolstoianismus spielten eine Rolle, Nächstenliebe, der Expressionismus, der Dadaismus, die Sehnsucht nach dem Süden, die Kommune, die Liebe zum Bunten, zu den Farben, die Abstraktion, die Einfachheit, der Tanz, der Ausdruckstanz, die Puppe, der Primitivismus und der Katholizismus, das Prophetentum, die Einsiedelei und das Aussteigertum, Naturholzmöbel, Reformkleidung, Drogen und Weinseligkeit –, dann zeigt sich: Hier versammelte sich wie an keinem anderen Ort das, was bis heute für das gute Leben und seine Möglichkeit steht.

Das ist der Grund, warum nicht stimmt, was oft gesagt wird. Ascona und der Monte Verità seien gescheitert, heißt es, sie seien früh und schnell gescheitert, man sagt es gern mit einer Mischung aus Schadenfreude und Mitleid. Aber es ist nicht wahr. Als Traum, als Erinnerungsort sind der Monte Verità und Ascona außerordentlich erfolgreich, hier wurde eine eigene Idee des Paradieses geschaffen. Hier wurden so präzise wie nirgendwo die widersprüchlichen Strömungen der Moderne, dieses in sich schillernde Gebilde, gelebt, ausgehalten und in Verbindung gebracht. Der Monte Verità und Ascona sind wie ein Kaleidoskop. Das ist ihre Stärke. Deswegen hat dieser Ort, den es nicht mehr gibt, noch heute diese Ausstrahlung.

Gibt es etwas, das diese enorme Vielfalt verbindet? Lässt sich das, was hier geschah, auf einen Nenner bringen? Es ist der Individualismus, der sich am Monte Verità und in Ascona geformt hat. Es ist der Glaube an das eigene Leben, an seine Entfaltungsmöglichkeit, an das Glücksversprechen, das in ihm liegt. Es ist diese Vorstellung, an die wir heute mehr als an alles andere glauben. Es ist das Versprechen der grenzenlosen Weiterentwicklung des Selbst.

Dieser Individualismus beginnt mit jener Wanderung, die ein paar Leute von München aus in den Süden machten, um dort das neue Land, das sie sich gemeinsam vorstellten, das neue Paradies zu finden. Es sollte das Land sein, in dem jeder glücklich werden kann, weil keiner auf Kosten des anderen lebt. Diese Bewegung begann im Jahr 1900, wie um ein Zeichen zu setzen. Es ist das Jahr der Wanderung über die bekannten Berge, die in Europa den Norden vom Süden trennen. Hat der heutige Individualismus ein Anfangsdatum, dann ist es das Jahr 1900.

TEIL 1

 

Eine neue Zeit kündigt sich an

bis 1900

Hauptmann und Guttzeit

 

Die Luft ist hell und klar über dem Zürichsee nördlich der Alpen. Kräftig scheint die Pfingstsonne, im grellen Licht kneifen zahlreiche Sonntagsspaziergänger ihre Augen zusammen. Der Kirchgang ist vorüber und die Zürcher promenieren zufrieden an der Limmat und dem Seeufer entlang. Da bildet sich am Kai ein Auflauf, eine Menge Neugieriger schart sich um eine unwirkliche Erscheinung. Manche trauen ihren Augen nicht.

Der Mann trägt eine grob gewebte Kutte, die bloßen Füße stecken in Sandalen, die rotblonden, welligen Haare reichen über die Schultern. Sein voller Bart ist ebenfalls rötlich. Am auffälligsten aber ist die Schnur, die er sich wie ein Stirnband um den Kopf gebunden hat. Er sieht wirklich so aus, als sei er der Wiedererstandene! Soll das ein Apostel sein, fragen sich die Spaziergänger. Oder gar Christus selbst?

Die Zürcher lachen den Mann nicht aus, sondern schauen ihn an und versammeln sich immer zahlreicher um ihn. Da beginnt er tatsächlich zu predigen und ein Schauder geht durch die Menge.

Er predigt gegen den Luxus und für das einfache Leben. »Zurück zur Natur«, ruft er. »Fort mit der Kadaverfresserei!« Er beschimpft die Zuhörer: »Ihr seid Fresser und Weinsäufer. Auf euren Tafeln prangen kannibalisch Tierkadaver. Lasst ab vom ruchlosen Mord der Kreaturen! Früchte des Feldes seien eure Nahrung!« Ja, Früchte, Körner und Gemüse solle man essen, verkündet der Mann mit heiligem Eifer. Und: »Euer Trunk sei klares Quellwasser!« Bloß keinen Tee, keinen Kaffee, keinen Alkohol. Es sei ganz einfach. Man müsse es nur den Tieren gleichtun. Das bringe das Heil, das sei der Anfang der geistigen Wiedergeburt. Das bedeute Verbundenheit mit der Natur und mit Gott.

Als ein junger, gut gekleideter Zürcher zu dem Prediger geht, um ihn etwas zu fragen, herrscht der ihn grob an: »Geh hin, verkaufe deine Güter und gib dein Geld den Armen!« Er packt ihn an seinem weißen Kragen, deutet auf Krawatte und Uhrkette, um allen deutlich zu machen, wie sehr dieser junge Mann doch im falschen Leben verfangen ist.

 

Im flachen Land südlich der Berge, in Turin, schickt sich Friedrich Nietzsche an – Nietzsche, der seine Tage so gern in Sils-Maria in den Bergen verbracht hat –, verrückt zu werden.

In welcher Verfassung sich Nietzsche, der in diesen Tagen noch unbekannte Gigant des Geistes, zu dieser Zeit eigentlich befindet, wie es ihm »geht«, können wir nur vermuten. Mit dem ersten Oktober des Jahres möchte er eine neue Zeitrechnung beginnen lassen. Mit der Umwertung aller Werte, der Zerstörung jeglicher Moral, der Erkenntnis, dass die bisherige christlich-platonisch geprägte Moral nicht nur im Inneren faul, sondern menschenverachtend ist, meint er wirklich ein neues Zeitalter einzuleiten.

Nietzsche gibt sich seit Jahren einer Einsamkeitsmanie hin, unter der er entsetzlich leidet. Er wälzt, keine schöne Vorstellung, Gedanken wie Felsblöcke. In den Monaten vor dem Wahnsinn bezeichnet er sich aber als »heiter«, mit einem Lieblingswort nennt er die Zeit »halkyonisch«, womit er meint, dass es schöne Tage sind, die er in Turin in Gelassenheit verbringt. Beginnender Wahn und Wohlgefühl schließen sich nicht aus. Stetig stellt er, erst in Sils Maria, dann in Turin, ein Werk nach dem anderen fertig: »Der Fall Wagner«, »Götzen-Dämmerung«, »Der Anti-Christ«, »Ecce homo«, die »Dionysos-Dithyramben«, »Nietzsche contra Wagner«. Der Philosoph ist im Rausch.

Gleichzeitig ist er sich in diesem Jahr 1888 über sich, seine Einsamkeit, seine Rolle, seine Möglichkeiten, sein Leben, ziemlich klar. Er bringt es auf die einfache Formel: Zehn Jahre Meisterwerke, zehn Jahre Krankheit. Und: »Ich bin jetzt allein, absurd allein.«

Unabhängig davon, wie Nietzsche selbst sich gefühlt hat: Für alle anderen ist sein ausbrechender Wahn anderthalb Jahre später die Hölle. Nietzsche macht Angst, der Nietzsche, der wahnsinnig wird, macht besonders viel Angst. Franz Overbeck, der Freund, der nach Turin fährt, um nach dem kranken Nietzsche zu sehen und ihn nach Basel zu holen, der ihn in seiner Stube vorfindet, äußert sich in seinem Bericht nur dezent über das, was er sieht – als habe er Angst, etwas Grauenvolles zu berühren.

Overbeck nennt den Moment des Wiedersehens »fürchterlich«, der Freund sei »entsetzlich verfallen«. Nach einer Umarmung unter Tränen, der verwirrte Nietzsche erkennt Overbeck immerhin, liegt der Kranke »stöhnend und zuckend« auf dem Sofa. Nietzsche deliriert, nach der beruhigenden Gabe von Bromwasser, von einem großen Empfang am Abend. Etwas ausführlicher beschreibt Overbeck Nietzsches Raserei am Klavier, sein ekstatisches Spiel, unterbrochen durch Ausrufe über sich als Nachfolger des toten Christus. Overbeck findet das einerseits sublim und wunderbar hellsichtig, andererseits unsäglich schauerlich. Nietzsche gibt als seinen Beruf an, der Possenreißer der neuen Ewigkeiten zu sein. Er tanzt und springt auf skurrile Weise. Overbeck spricht über sein Erlebnis in Turin, wie wenn es sich um ein peinliches und peinigendes Thema handeln würde. Besser, man sagt nichts darüber …

Der Zahnarzt Leopold Bettmann, der hilft, Nietzsche von Turin nach Basel zu verfrachten, teilt nichts über die Reise und seinen Schutzbefohlenen mit. Bettmann überredet Nietzsche zu der Reise, indem er ihm von Feierlichkeiten, die für ihn bereitet sein würden, erzählt. Am Bahnhof warte eine festlich gestimmte Menge auf ihn. Das überzeugt den Philosophen, da fährt er mit.

Am offensten spricht die Familie Fino, Nietzsches Zimmerwirte in Turin, einfache und brave Leute, die am Ende die letzten Personen waren, die Kontakt zu dem vereinsamten Denker hatten. Sein Zimmer habe wüst ausgesehen. Er führe laute Selbstgespräche, sei erregt und verwirrt. Die Frau des Hauses späht wegen Nietzsches lautem Singen durch das Schlüsselloch und sieht den splitternackten Philosophen, wie er tanzt. Außerdem spielt er, für alle zu hören, extrem laut und orgiastisch und auch noch zur Unzeit Klavier.

Das war’s. Später allerdings wird bekannt, dass Overbeck damals nicht alles aufschrieb, was er erlebt hat. »Seine Hand sträubte sich, die krassen Einzelheiten zu Papier zu bringen.« Im Gespräch habe er mehr über Nietzsches Befinden angedeutet, aber niemand hat für die Nachwelt überliefert, worin diese Andeutungen bestanden.

 

Turin, das Nietzsche erst im Frühjahr 1888 für sich entdeckt hat, anderthalb Jahre, bevor er verrückt wird, ist für ihn ein Glück, mehr: Turin ist ein Traum. Er geht in die Stadt des Wetters wegen, mild, aber mit kühlen Nächten, er denkt auch über die oberitalienischen Seen als Frühjahrsdomizil nach, aber dort ist es ihm zu drückend, zu wolkig, zu herabstimmend. Dagegen die Turiner Luft: trocken, anregend, lustig, wie er sagt. In Turin geht es ihm gut.

Dazu kommt: »Wenn man hier heimisch ist, fühlt man sich als König von Italien.« Schon lange träumt er von seiner eigentlichen Adresse, Palazzo del Quirinale, dem Königssitz in Rom auf dem gleichnamigen Hügel. Nun aber hat er seinen Ort gefunden, denn von hier, aus Turin, stammt das italienische Königshaus. Hier gehört er hin. Die Stadt hat Noblesse. »Abends auf der Po-Brücke: herrlich! Jenseits von Gut und Böse!«

Nebenbei ist das Leben in Turin für ihn auch sensationell preisgünstig. Nietzsche lässt sich sogar einen neuen Anzug schneidern. Es geht ihm wirklich gut.

 

Weit weg von Turin, Zürich und dem Gotthard spielt sich im Geheimen, ganz im Inneren eines Menschen, ein großes Drama ab. Der Mann ist einer der großen Künstler seiner Zeit, der Epiker der Neuzeit. Er ist ein enormer Schriftsteller mit einer Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, die manchem Zeitgenossen fast den Atem raubt. Er entfaltet gewaltige Panoramen und verfügt über einen endlos scheinenden Erzählatem. Dieser gefeierte Dichter nun hat sich mit Frau und Kindern auf das Land zurückgezogen. Er lebt mit seiner Familie abgeschieden auf dem Familiengut in Jasnaja Poljana gut 200 Kilometer südlich von Moskau. Der Mann verachtet die Gesellschaft, die er doch so genau zu beschreiben versteht, er will nichts mehr von ihr wissen, die Menschen von Moskau und Sankt Petersburg erscheinen ihm genusssüchtig, selbstgefällig und verdorben. Er will nicht mehr in dem großen Getriebe seiner Zeit mitmachen, er will auch keine Romane mehr schreiben, er will die Kunst und die Stadt und das komplizierte soziale Leben mit seinen Eitelkeiten, Etiketten und Regeln vollständig hinter sich lassen. Er will zu einem starken, eindeutigen Gefühl finden. Er verzehrt sich danach, ein eigenes Leben zu führen, ein Leben in Wahrheit, Klarheit und Einfachheit.

Das Leben des gefeierten russischen Schriftstellers wurzelt im Fleisch. Als junger Mann hatte er ein ausgesprochen ausschweifendes Leben geführt, er spielte und trank, er lebte so exzessiv, dass es sogar in der russischen Adelsschicht auffiel, der er entstammte – eine Schicht, die kein Muster an Zurückhaltung und Mäßigung war. Zahllose Affären hatten ihn beschäftigt. Vor allem fühlte er sich zu den einfachen Frauen und Mädchen aus den Bauerndörfern hingezogen. Als er seiner Frau Sofja Andrejewna sein Tagebuch aus jener Zeit zu lesen gibt (er führte also schon während der Jahre der Ausschweifung penibel Buch), ist sie schockiert. Sie hat ja keine Ahnung gehabt, was ihr Mann für ein Mensch ist. Sie hätte sich sein animalisches, gieriges Wesen nicht einmal vorstellen können.

Der Schock sitzt tief in Sofja Andrejewna, aber die energische Frau gewöhnt sich an ihren Mann. Es gibt Zeiten, in denen sie mit seinem Wesen durchaus einverstanden war. 48 Jahre verbringt das Paar so miteinander und erlebt gemeinsam Eheglück und Ehehölle.

Es gärt im mächtigen, kraftvollen Körper des Grafen Tolstoi, ein Leben lang streitet ein großer Widerspruch hinter den gewaltigen Augenbrauen und dem überwältigenden Bart: Gemeinschaft oder Rückzug, Lust oder Enthaltsamkeit. Tolstoi wird hin und her gerissen von der Sucht nach Leben und der Abscheu davor. Er ist, bis auf seinen empfindlichen Magen, ein robuster Mensch. Bis ins hohe Alter verrichtet er, sehr zum Verdruss seiner Frau, schwere körperliche Arbeit, noch in seinem letzten Lebensjahr reitet er ausgiebig und regelmäßig aus.

Geheiratet hatte er 1862 und etwa seitdem arbeitete er, der Adlige, daran, zu diesem einfachen Bauer zu werden. Noch am Tag der Hochzeit waren die Eheleute auf das Landgut Jasnaja Poljana gefahren. Tolstoi glaubt, den großen Kampf um sich selbst nur so gewinnen zu können. Er liebt die Landbevölkerung, will ihr Bildung bringen, baut in Jasnaja Poljana Schulen für die Bauern, eine von ihm verfasste ABC-Fibel für den Unterricht erscheint. Vor allem will Tolstoi selbst ein genügsamer Mensch werden. Er holt sich sein Wasser vom Brunnen oder macht selbst Feuer. Er versucht zeitweilig sogar, und hier wird es für den Aristokraten ernst, auf die Jagd und das Rauchen zu verzichten.

Diese heroischen Bemühungen haben von Anfang an eine lächerliche und tragische Seite. Tolstoi entlässt zwischenzeitlich seine Verwalter und will sich selbst um das Gut kümmern. Das geht gründlich schief, er hat keine Ahnung, was zu tun ist. Er kann nicht mähen oder pflügen, die Butter stampfen oder das Vieh versorgen. Qualvoll verhungern die Schweine im Stall.

Trotzdem glaubt Tolstoi an das Landleben weiterhin mit religiöser Inbrunst. Einfache Arbeit für alle und jeden erscheint ihm als probates Mittel gegen die Probleme seiner Zeit.

Was fasziniert ihn so an der kargen und harten bäuerlichen Lebensweise? »Je länger Lewin mähte«, hat er an einer berühmten Stelle von »Anna Karenina« geschrieben, »um so häufiger wurden die Momente der Selbstvergessenheit, in welcher die Hände schon nicht mehr die Sense schwangen, sondern diese selbst die Hand bewegte, als sei sie ein Ding mit Bewusstsein, ein lebensvoller Körper, und wie durch Zauberei ohne sein eigenes Zuthun wurde die Arbeit durch sich selbst recht und sorgsam. Dies waren für ihn die schönsten Augenblicke.«

Tolstoi kann das Landleben beschreiben, als wäre er ein Teil davon. Er lässt Lewins Hund Laska denken, fühlen und entscheiden, ohne dass es nur einen Moment aufgesetzt oder ausgedacht wirkt. Der Hund befindet sich mit Lewin in einer stummen Zwiesprache, die der Mensch nur halb, der Hund aber ganz versteht.

Die Welt wird eins. In der russischen Landschaft, der Natur, beim Volk und den Bauern spürt Tolstoi, was seine Romane so überwältigend macht. Er spürt die Flut und Fülle des echten, des wahren Lebens. Hier ist die Welt und hier ist er mit sich im Einklang.

Und so lebt Tolstoi in einem Zwiespalt: Er liebt es, die Bauersfrauen zu küssen – und er verachtet sich dafür. Seine Sinnlichkeit bringt ihn in Konflikt mit sich selbst.

 

Bis 1882, als der Bahnbetrieb durch den Gotthardtunnel aufgenommen wurde, waren es Schlitten, mit denen Reisende über den Pass gebracht wurden. Nun, sechs Jahre später, 1888, als Nietzsche sich in Turin einrichtet, als ein unbekannter Prediger am Pfingstsonntag am Zürichsee auftaucht, sind es bereits 32 Züge, die jeden Tag durch den Berg fahren. Auch der Prediger ist so von Italien in den Norden, nach Zürich, gekommen.

 

Nietzsche erfreut sich am Krachen der Grissini, er genießt das Kalbfleisch, das ihm in Turin wunderbar leicht erscheint. Vor allem aber hat es ihm die Gemüsesuppe angetan, die er sich mit seinem trotz zahlreicher Italienaufenthalte etwas dürftigen Italienisch zu jedem Mittagessen bestellt.

Er liebt es zu dinieren, an der Tafel sozusagen Hof zu halten, auch wenn er grundsätzlich alleine speist. Er findet Gefallen an den Kellnern, die ihm stets vornehm bekleidet erscheinen in ihren langen weißen Schürzen. Sie tragen sie etwas tiefer um die Hüfte gebunden, als es Nietzsche schicklich scheint. Das gefällt ihm besonders gut.

 

Ein Zuhörer in der Menge am Zürichsee ist der junge Gerhart Hauptmann. Er ist von dem Prediger tief beeindruckt. Hauptmann lebt zu dieser Zeit in Zürich bei seinem Bruder Carl, er will Bildhauer werden und geht mit leidenschaftlichem Interesse in die berühmte Klinik am Burghölzli. Dort führt der ebenso berühmte Doktor Auguste Forel wie in einem Theater mit seinen Patienten die verschiedenen Spielarten des Wahnsinns vor. Hauptmann ist hin- und hergerissen zwischen Faszination und Abscheu.

In dem Zürcher Kreis Gleichgesinnter (»wir wollten entweder Wissenschaftler oder Dichter werden«, wird Hauptmann später sagen), die sich in der Wohnung des Bruders treffen, diskutiert Gerhart Hauptmann die großen Fragen. Alle sind sie hier voller Optimismus. Nächtelang sitzen sie beieinander und reden. Einige von ihnen sind schon zu beachtlichen Trinkern herangereift, auch der junge Hauptmann. Aber nun, unter Forels Einfluss, werden die meisten zu offensiven Antialkoholikern. Gerhart Hauptmann führt dabei gerne das Wort.

Ihm lässt die Begegnung vom Zürichsee keine Ruhe. Er schreibt an den Prediger einen Brief, in dem er ihn in die Wohnung seines Bruders einlädt. »Eine Anzahl von jungen Leuten, die Sie achten, möchte mit Ihnen einen Abend verbringen.« Der Prediger kommt, man versteht sich, man diskutiert, und die hoffnungsfrohen jungen Leute schauen sich den Gast genau an. Er lässt sich nicht mit »Herr« anreden, duzt jeden, und wittert in Höflichkeitsfloskeln sofort das Unfreundliche, Abweisende, Peinliche. Er will Herrschaft, die er Vergewaltigung nennt, in jeder Form abschaffen: politisch, militärisch, volkswirtschaftlich, häuslich und diätetisch.

In Italien, bei der einfachen Landbevölkerung, die er auf seiner Wanderschaft kennengelernt hat, hat der Mann seine Diät entwickelt. Als er hört, dass sein Gast längere Zeit durch Italien gezogen ist, bringt Hauptmann ihn sogar dazu, italienische Lieder zu singen.

So erlebt Gerhart Hauptmann am Pfingstsonntag 1888 in Zürich und an den Tagen danach einen Wiedergänger Christi oder wenigstens den eines Jüngers. Er heißt Johannes Guttzeit und ist ein frühes Exemplar jener merkwürdigen Gattung, die man bald überall in Europa finden kann und dann Wander-Apostel nennen wird.

 

Es wird viel geglaubt damals. Überall tauchen umherziehende, predigende Menschen auf. Neue Propheten erscheinen. Es gibt eine große Sehnsucht nach Bekenntnis, Transzendenz, Erlösung und Mythos. Fast scheint es egal, zu was man sich dabei bekennt und woran man glaubt. Man glaubt an die Menschheit und an ihren Fortschritt, an das heraufziehende Zeitalter der Brüderlichkeit, an das Wahre und Schöne, das all den Aberglauben ersetzen wird, der die vergangenen Jahrhunderte verdunkelt hat, an den Frieden, der für alle kommen wird. Pazifismus, Anarchismus, Kommunismus. Die Religionen anderer Erdteile, vor allem Konfuzianismus, Taoismus, Hinduismus, Buddhismus, werden in Europa attraktiv. Neue Orden, mehr oder minder geheim, oft in der Nachfolge der Freimaurer und Rosenkreuzer, entstehen. Die Theosophie ist eine Religion, die keine Religion mehr sein will. Es wird für die Wissenschaft gestritten und sie wird verworfen und verdammt. Es wird an die Wissenschaft geglaubt wie an einen Glauben. Nur mit dem Glauben an Gott, da scheint es schwierig geworden zu sein.

Man glaubt mit einer Leidenschaft in jener Zeit, die immer wieder mal über die Welt kommt. Aber man weiß doch nicht so recht, wie man glauben soll. Alles scheint sich aufzulösen, die Gewissheiten verschwinden. Man möchte glauben und weiß doch nicht, wie man es anpacken soll. Man möchte an eine Zukunft glauben, so hell wie das Licht über einem See an Pfingsten, aber etwas Düsteres, Gallebitteres, Modriges scheint über der Zeit zu liegen.

 

Vor drei Jahren war Johannes Guttzeit, der Apostel vom Zürichsee, aus Deutschland, besser: vor dem Maler Karl Diefenbach, davongelaufen und war durch den Süden gezogen. Hier war er zum Prediger geworden. Bei Diefenbach hatte er die Kutte angelegt und sie dann nicht mehr ausgezogen. In Italien hatte er Gastfreundschaft, Freundlichkeit und vegetarisches Essen kennengelernt. Vor allem aber war es die naive Gläubigkeit der einfachen Bevölkerung, die ihn inspiriert hatte. Jetzt war Guttzeit aus dem Süden mit dem Zug durch den neuen Tunnel unter dem Gotthardpass zurück nach Zürich gekommen.

Noch wird sein Prophetentum von seiner Euphorie, dem Zauber des Beginnens und der Menge getragen, noch kann er von Luft, Liebe und milden Gaben leben. Aber bald hat er das Problem all seiner vielen Nachfolger: Man mag ein noch so bescheidenes Leben führen, auch dieses muss bestritten werden. Wovon, um Gottes willen, wovon soll ich leben?

 

Wenn Nietzsche in Turin vor die Tür geht, spielt er mit Genuss Theater. Er spielt den polnischen Edelmann oder den deutschen Offizier. Dann aber bricht er eines Tages auf der Straße zusammen, und sein Zimmerwirt Daniele Fino bringt ihn, rührend um seinen Gast besorgt, nach Hause. Angeblich soll Nietzsche auch, man weiß bis heute nicht, ob die berühmte Anekdote stimmt, ein Pferd, das von seinem Besitzer übel geschlagen wurde, unter Tränen umarmt haben. So beginnt in der bekannten Darstellung Nietzsches Wahn.

Auch die Angst vor dem Wahn ist groß in jenen Jahren. Ist nicht jeder Glaube auch ein Wahn, kann nicht jeder Wahn auch den Glauben für sich beanspruchen? Nietzsches Wahn ist ein großes Drama, das sich lange andeutet, das in den letzten Monaten des Jahres 1888 beginnt, das Anfang des neuen Jahres 1889 mit dem offenen Ausbruch von Nietzsches Irrsinn kulminiert – und das dann nicht enden will. Das sich, erst in Basel, dann in Jena, endlich in Weimar, mit fast endloser Umnachtung fortsetzt.

Wellen der Gänsehaut laufen bei dieser Vorstellung durch das immer größer werdende Publikum. Nietzsches Wahn erzeugt in diesen Jahren Schauder wie kaum etwas anderes. So sorgt der Wahnsinn dafür, dass man sich zuerst gruselt vor dem unbekannten Philosophen, der dann zum Propheten und schließlich zum Heros eines ganzen Zeitalters wird. Nietzsches zarathustrische Philosophie wird zum Glauben der neuen Zeit.

 

»Lieber Freund, vergeben Sie mir diesen vielleicht zu heiteren Brief: aber nachdem ich, Tag für Tag, Werthe umgewerthet habe und sehr ernst zu sein Grund hatte, giebt es eine gewisse Fatalität und Unvermeidlichkeit zur Heiterkeit«, schreibt Nietzsche im Mai 1888 aus Turin an Heinrich Köselitz, damals besser bekannt als Peter Gast. Es ist ein gutes halbes Jahr vor dem offenen Ausbruch des Wahns. Fatalität der Heiterkeit, das ist ein Zustand, den es bis dahin nicht gegeben hat, nicht bei Nietzsche und nicht anderswo. Heiterkeit nicht als einfaches Lachen, nicht als heiteres Darüberstehen, nicht als freundliche Distanz, nicht einmal als letzte Möglichkeit – sondern als zwingende Konsequenz.

»Ich rechne die Heiterkeit zu den Beweisen meiner Philosophie«, wird er an der Schwelle zum Wahn schreiben.

 

In Italien hatte Guttzeit bei den Bauern, die ihm auf seiner Wanderschaft Essen und Trinken gaben, die vegetarische Ernährung kennengelernt. Er hatte erfahren, wie gut ihm Gemüse tat, er hatte – wie Nietzsche – die italienische Gemüsesuppe schätzen gelernt. Jetzt glaubte er regelrecht an sie, an ihre reinigende und heilende Kraft. Hier, in Italien, entdeckte er auch das, was er die »naturgemäße Menschenerziehung« nannte, das einfache und naturverbundene Leben, bei dem sich »unverfälschte Menschen« bilden.

 

Tolstoi, Nietzsche, Hauptmann, Guttzeit, sie alle berühren eine Idee, eine Idee, die größer ist als sie. Nietzsches Wahn, Tolstois Askese und Guttzeits Essensregeln wollen die Welt verändern. Sie stellen eine Frage: Wie soll ich leben? Wie soll ich leben, damit die Welt ein guter Ort wird. Diese Frage steckt im Werk dieser vier, in ihrem Leben, in ihren Krisen, in ihrem Tun. Wie soll man leben? Oder vielleicht einfacher: Wie geht ein gutes Leben?

 

Ende der Siebzigerjahre hat sich Tolstois Krise gefährlich verschärft. Bis dahin haben er und seine Frau Sofja Andrejewna Tolstaja ein alles in allem glückliches gemeinsames Leben verbracht. Er hat sich und seinem Drang zur – vor allem weiblichen – Landbevölkerung Disziplin auferlegt. Tolstoi empfand diese Zeit, vor allem der immer zahlreicheren Kinder wegen, als Glück. Sofja war ihm zur Seite gestanden, hatte seine Werke abgeschrieben, ihn bewundert, sie hatten sich sogar über schriftstellerische Fragen ausgetauscht, und sie hatten Kinder bekommen, die sie beide sehr liebten. Aber dann war ihm alles schal, leer und bedeutungslos erschienen: Künstlertum, Schaffenskraft, Familie, Philosophie, Glaube. Tolstoi hat es in »Meine Beichte« geschildert, dem Buch, mit welchem aus dem vielleicht größten Epiker der Neuzeit der Verfasser von moralischen Traktaten, Weltanschauungsaufsätzen und Erbauungsschriften wird.

Der entscheidende Punkt ist, dass sich Tolstoi von der orthodoxen Kirche lossagt und ein fundamentales, der Bergpredigt nahes Christentum propagiert. Gott, sagt er, steckt in jedem. Tolstoi ist nicht nur gegen Dogmen, er ist auch gegen Sakramente, nennt sie Hokuspokus, und ist für ein kirchenloses Christentum.

Als er, der Ausbildung der Kinder wegen, Anfang der Achtzigerjahre einige Zeit in Moskau verbringt, bestätigt und radikalisiert das seine Auffassung. Das Reich Gottes muss von dieser Welt sein, es kann nicht um die Gerechtigkeit des Jüngsten Gerichts gehen. Als Hauptfeind irdischer Gerechtigkeit identifiziert er das Geld: Geld ist kein neutrales, harmloses Tauschmittel, sondern dient der Beherrschung der Besitzlosen.

1882 wird »Meine Beichte« in der Zeitschrift »Russkaja mysl« veröffentlicht. Das Heft wird von der zaristischen Zensurbehörde sofort eingezogen. Tolstoi befindet sich nun in Opposition zum Staat, das wird für den Rest seines Lebens so bleiben. 1886 wird die »Beichte« in Deutschland verlegt. Seitdem nimmt Tolstois Popularität hier stetig zu, um die Jahrhundertwende hat sie enorme Ausmaße angenommen.

Auch in der Krise sucht Tolstoi Erlösung bei den Bauern, im mühseligen Leben der ehemaligen Leibeigenen, einem gleichförmigen Leben voller Arbeit und Entbehrung. Das Leben eines Bauern, so sagt er, sei seine Kirche. Tolstoi glaubt fest an die Ethik harter Arbeit, er glaubt an das einfache Leben wie an eine Religion. »Das einfache arbeitende Volk, das um mich her lebte, war das russische Volk, und ich wandte mich an dieses und an den Sinn, den es dem Leben gibt«, schreibt er. »Wie oft neide ich den Bauern ihre Unwissenheit und ihre Unbildung.«

Er ist der erste große Antimodernist der Moderne. Gemeinschaftlichkeit, Brüderlichkeit, Vorstaatlichkeit: Tolstoi fantasiert sozusagen einen neuen Naturzustand herbei. Er glaubt, dass es möglich sein muss, an den Nullpunkt der Gesellschaft zurückzukehren.

So wird in den Achtzigerjahren aus ihm der Mann mit dem langen weißen Bart des Propheten und dem von einer Schnur zusammengehaltenen russischen Bauerngewand. Er wird der Mann mit den Bastschuhen. Man nennt ihn jetzt den »Graf im Bauernkittel«. Und als solcher wird er, nicht nur in Russland, zur Ikone seiner Zeit.

Und genau dieser Mann wird dann für seine Frau zur Hölle.

Sofja Andrejewna lebt seit Anfang der Achtziger mit den Kindern in Moskau, er bleibt in Jasnaja Poljana. Sie ist Stadt, er ist Land. Sie geht in der neuen Moskauer Existenz auf, er will nichts davon wissen. Er wirft ihr vor, kein Empfinden dafür zu haben, wie sehr ihn der Luxus der Stadt beeinträchtigt. Sie wirft ihm vor, dass er ihr eine Rolle als Landplage zuweist. Er verlangt von ihr, die bereits die Verwaltung der finanziellen Angelegenheiten übernommen hat, dass sie den Besitz, das Familiengut, an die Bauern übergibt. Sie schreibt ihm: »Du hast stets sorgsam die Frage der Verpflichtungen gegenüber der eigenen Familie ausgelassen.«

Noch schlimmer aber wird für sie seine neue Auffassung der Liebe. Auch hier ist Tolstoi radikal. Er wendet sich von jeglicher Form persönlicher Liebe ab, alle Liebe soll in umfassender Nächsten- und Bauernliebe aufgehen. Sie lebt in dem klaren Gefühl, ihm doch alle Liebe, die sie hat, zu geben, er versteht unter Liebe nun etwas ganz anderes und fühlt sich von ihr und ihren familiären Forderungen bedrängt. In ihrer immer noch existierenden Zuneigung erleben die Tolstois nun eine jahrzehntelange Ehehölle, ein unausgesetztes Kräftemessen, sich Belauern, sich aus dem Weg gehen, aneinander Ziehen und Zerren, eine Mischung aus Neid und Resignation, Gnadenlosigkeit und Großmut. Sie spüren beide, dass sie aneinander ihr Inneres kaputt reiben, dass sich miteinander ihre Gefühle zerrütten, aber sie wollen und können nicht voneinander lassen. Sie fliehen voreinander und bleiben doch aufeinander bezogen, sie versuchen sich das Wasser abzugraben, und sie lieben sich trotzdem.

Darüber schreiben sie sich Briefe, immer mit dem Anspruch rigoroser Ehrlichkeit. Sie lesen sogar gegenseitig ihre Tagebücher, sie kommunizieren endlos und intim und können einander doch nicht verstehen. »Heute aber steht in seinem Tagebuch«, schreibt sie, »ich hätte zum ersten Mal zugegeben, im Unrecht zu sein, und das sei eine Freude!!! O Gott! Steh mir bei, dies zu ertragen! Wieder muss er sich vor den künftigen Generationen als Märtyrer hinstellen, und mich als Schuldige!«

 

Der junge Gerhart Hauptmann ist immer noch mit Johannes Guttzeit beschäftigt. Er ist jetzt vom Schreiben überzeugt und gibt die Bildhauerei auf. Im Grunde, denkt Hauptmann jetzt, ist dieser Guttzeit doch eine lächerliche Figur, ein armseliger Ortloser, ein Verlorener. Einmal fragt er sich, warum er von diesem Kerl nicht loskommt. Er will aber nicht länger mit dieser Frage seine Zeit vertun.

Viele Jahrzehnte später, als er »Das Abenteuer meiner Jugend« schreibt, spricht er noch von dem starken Eindruck, den Guttzeit auf ihn gemacht habe. Es sei eine wahrhaft heilige Szene gewesen, wie er sie niemals zuvor und danach erlebt habe. Überhaupt, es sei eine Zeit großer Gläubigkeit gewesen, damals, sagt Hauptmann. Mit der Episode vom Zürichsee wird Hauptmann dann auch seine Jugend, so wie er sie in zwei Bänden beschreibt, enden lassen.

Zwei Jahre, nachdem er Guttzeit gesehen hat, ist Hauptmann wieder in Zürich, er ist sich seiner Rolle als Schriftsteller viel sicherer und schreibt jetzt eine Novelle, inspiriert von der Begegnung am Zürichsee und dem anschließenden Zusammentreffen. Es kommt Hauptmann dabei so vor, als erfasse er Guttzeit in dieser Novelle wie ein Visionär, von innen her, wie wenn er ihn ganz genau kennen würde, wie wenn er sich vollständig in ihn hineinversetzen könne.

Gleichzeitig beschreibt er Guttzeit als religiösen Spinner. Dieser moderne Apostel ist nicht nur ein Egozentriker, er ist von Größenwahn gepackt, vergleicht sich mit Christus und meint tatsächlich, die Welt retten zu können.

So lässt Hauptmann Guttzeit hinter sich, gibt sein erstes Projekt auf, einen autobiografischen Roman, in dem eine Christusfigur die zentrale Rolle spielt, und wird zum Schriftsteller. Dieser Schriftsteller wird sich dann sein Leben lang mit Christusfiguren beschäftigen.

Nietzsche

 

Für Nietzsche, der seit vielen Jahren mit seiner Verdauung zu kämpfen hat, ist Nahrungsaufnahme eine entscheidende, eine fast philosophische Frage. Seitenlang lässt er sich in seinen Briefen über Ernährungsfragen und Lebensmittel aus. Der deutsche Geist kommt, schwerer Ernährung wegen, aus betrübten Eingeweiden, sagt er. Überhaupt Deutschland: »Wasser, Quark und Mist weit und breit.«

Nietzsches Leben ist der jahrelange Versuch, durch Ernährung eine Verbesserung seines erbärmlichen Zustands herbeizuführen. Mit seinem Freund Overbeck in Basel tauscht er sich darüber aus: »Ich mache eine kleine Kur mit Karlsbader Salz frühmorgens (– wovor hat man sich da diätetisch in Acht zu nehmen? Ich denke, vor Saurem, vor Butter, Obst usw.?)« Nietzsche wird Spezialist in Ernährungsfragen und wirkt dabei doch immer hilflos wie ein Kind.

Am meisten korrespondiert er mit der Mutter über das Thema. In seinem letzten gesunden Jahr, 1888, wird Schinken in den Briefen an sie eines der bestimmenden Themen. Nietzsche hat ein gespaltenes Verhältnis zu Fleisch. Er macht sich Gedanken über die Gefahren des Vegetarismus, er merkt aber auch, dass Fleisch ihm nicht guttut. Er liebt Schinken als eine typische Kompromissbildung. Lachsschinken, stellt er fest, ist ihm am zuträglichsten. Die »dicke, runde Lachsschinken-Wurst« will er haben, schreibt er der Mutter nach Naumburg. Nietzsche sucht überall nach Schinken, er erlebt dabei herbe Enttäuschungen: Das Thüringer Milchschinkli etwa erweist sich als vollkommen unzuträglich. »Der Mann hat keinen Begriff davon, was ein Schinken zum Gebrauche von Kranken ist: ich, der ich in der Schule des alten Wiel gewesen bin, habe hierüber ziemliche Erfahrung.« Wiel war ein thüringischer Wurstfabrikant.

Am Ende kommt Nietzsche immer wieder auf die heimischen Produkte, die ihm die Mutter schickt. »Abends habe ich sogleich den Schinken angeschnitten, denn ich war vollständig fertig geworden mit den kleinen. Es schien mir, daß er noch delikater schmeckt, was vielleicht mit der Größe zusammenhängt. Ende gut, alles gut – dachte ich dabei.«

Nietzsche bemüht sich um gleichmäßige Lebens- und Ernährungsweise, im Sommer 1888 in Sils treibt er es besonders weit: »Um 5 Uhr nehme ich eine Tasse Cacao (im Bett); um 1/2 7 ungefähr trinke ich meinen Thee. Um 12 esse ich, allein, eine halbe Stunde vor dem diner des Hotels: regelmäßig ein Beefsteak und eine Omelette. Abends um 7 nehme ich nur auf meinem Zimmer ein Stückchen Schinken, 2 rohe Eidotter und 2 weiße Wecken. Für meine Mittagsmahlzeit zahle ich einen sehr ermäßigten Preis, nämlich im Verhältnis dazu, was sonst die Fremden hier oben zahlen. Die Zubereitung ist gut, das Fleisch ausgezeichnet.« Aber es hilft alles nichts, es geht ihm einfach nicht gut.

Welche Form der Diät ist für ihn die richtige? Nietzsche beschäftigt diese Frage unausgesetzt, sie wirkt wie eine Passion. Er isst, beobachtet, denkt und macht für sich immer wieder neue Ernährungsregeln daraus.

Er entsagt schon länger Wein, Bier und Spirituosen. Wein erheitere Christen, ihm schade er aber auch in kleinen Dosen. Essensregeln nennt er seine Moral. Man muss die Verdauung anregen: nur nicht zu kleine Portionen essen. Bloß keine Zwischenmahlzeiten! Kaffee, stellt er fest, verdüstert. Tee nur morgens, jedoch niemals zu schwach. »Alle Vorurtheile kommen aus den Eingeweiden«, sagt Nietzsche.

Und: Keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist!

In »Jenseits von Gut und Böse« hatte er geschrieben, dass die religiöse Neurose mit drei Askesen verbunden ist: Einsamkeit, Fasten, sexuelle Enthaltsamkeit.

In seinen Notizen wird sich später folgender Satz finden: »Ich glaube, dass die Vegetarianer mit ihrer Vorschrift weniger und einfacher zu essen mehr genützt haben als alle neueren Moralsysteme zusammengenommen.«

Im Sommer 1888 geht Julius Kaftan mit Nietzsche in Sils spazieren. Sie sprechen über die Krankheit Nietzsches. Sie reden davon, was er in dieser Krankheit erlebt hat, was er ihr verdankt. Kaftan kommt es so vor, als würde ein Frommer sagen, in welcher Weise er die Nichtigkeit der Welt erkannt und seine Seele in Gott zu bergen gelernt habe. Nietzsche bleibt bei einer kleinen Brücke, die über einen Bach führt, stehen und spricht mit leiser Stimme über die große Wandlung. Noch deutlicher in Erinnerung ist Kaftan ein anderer Moment dieser Spaziergänge, die sie drei Wochen lang in den Schweizer Bergen unternehmen: »Immer wieder habe ich an eine Abendstunde denken müssen, in der wir zwischen Sils-Maria und Sils-Barseglia auf und ab gingen. Da setzte mir Nietzsche irgendein Küchenrezept mit großem Eifer auseinander, es handelte sich um eine Speise, die ihm bekam, d.h. bei der er es mit seinem kranken Magen aushalten konnte. Plötzlich fand ich das Ding komisch, blieb stehen, lachte und sagte: Das wäre etwas für die Fliegenden Blätter, daß wir Professoren hier laufen und uns über Küchenrezepte unterhalten. Aber da wurde er ernstlich böse und hielt mir eine Vorlesung, welch ein Frevel es sei, des Leibes Pflege zu vernachlässigen.«

 

Frühmorgens steigt der Apostel, so wie Hauptmann ihn jetzt in seiner Erzählung sieht, den Berg hinauf, freut sich an Blumen und Birken, den summenden Bienen und krabbelnden Käfern. Er fühlt sich wohl, doch dass er allein ist, nirgends ein Mensch zu sehen, das kränkt ihn. Zu gern wüsste er seine elastische, schöne Gestalt, den federnden Gang in den gebundenen Sandalen und die mit einer Kordel zusammengehaltene Kutte in den Augen von jemand anderem aufgehoben, bemerkt und bewundert. Er ist stolz auf sein Stirnband, das eben doch (was soll man machen) an einen Heiligenschein erinnert.

Aber es ist frühmorgens, er bleibt mit sich allein, und während er weiter aufsteigt, überfallen ihn angesichts der Natur mystische Rührungen bis hin zum Schluchzen. Er schreibt das seiner sich stärkenden Naturverbundenheit zu. Die Stadt im Tal erscheint ihm als ekelerregender Schorf. Als er sich dann auf dem Berg in der Natur niederlässt, erfüllen ihn Behagen, emporschwellende Liebe und vegetarische Erlösungsfantasien.

»Friede! Darin lag alles, was er brachte, darin lag alles verschlossen – alles – alles. Blutgeruch lag über der Welt.«

Der Hauptmannsche Prophet ruft ein imaginäres Volk auf, seine seidenen Betten und Polster zusammenzutragen, die kostbaren Möbel und Kleider, und eine Fackel hineinzuwerfen und ihm dann nachzufolgen. In ein Land, verspricht er ihnen, will er sie führen, wo die Schlangen ohne Gift und die Bienen ohne Stachel sind. Dem jungen Prediger ist, immer noch oben auf seinem Berg über Zürich, jetzt zumute, als müsse er zu Bäumen und Vögeln predigen. Die Macht der Wahrheit ist in mir, die Macht ist lebendig in mir, denkt er, bevor er wieder vom Berg zum See hinabsteigt.

So beginnt Hauptmanns Erzählung »Der Apostel«, so erzählt er jetzt von der anderen, neuen Welt, von Johannes Guttzeit.

Der echte Guttzeit fühlt sich durch diese Novelle ausgenutzt und missbraucht. Er habe ihn »heuchlerisch und gelbsüchtig« dargestellt, schreibt er Hauptmann nicht ganz zu Unrecht in einem erregten, wütenden Brief. Es ist einer jener unübersehbar vielen Fälle, wo sich das Vorbild in der Figur, die der Dichter schafft, zwar erkennt – aber partout nicht wiederfinden mag. Eigennützig und respektlos sei er, Hauptmann, mit ihm umgegangen.

Aber auch Gerhart Hauptmann fühlt sich von Guttzeit missverstanden. Er sei nicht fotografisch vorgegangen, will sagen, er habe Guttzeit nicht nach der Natur abgebildet, sagt er. Das ist bemerkenswert für den Dichter des Naturalismus.

 

So richtig beschäftigt die Frage des Naturalismus Hauptmann gar nicht. Es ist eine andere Frage, die ihn wirklich umtreibt. Wie viel Nietzsche steckt in seinem Prediger, fragt er sich. Ist dieser Apostel ein Übermensch? Nein, ist er nicht! Aber hat sein Apostel auch nur annähernd die Kraft des Propheten, so wie ihn Nietzsche erdacht hat? Hauptmann hat sich in Zürich mit Nietzsche beschäftigt und den »Zarathustra« gelesen. Dieser Guttzeit hat doch gar nichts begriffen. Zarathustra, das ist das wahre Vorbild seines Wanderpredigers, denkt Hauptmann. Aber das soll um Gottes willen bloß niemand erfahren.

Wer ist gesund und wer ist krank: der Apostel, dieser Übermensch, Zarathustra, Nietzsche, Hauptmann selbst? Was ist mit ihnen? Das ist es, was Hauptmann nicht loslässt.

Wie bleibt man gesund? Wie wird man gesund? Die Frage wird zu einer allgemeinen Obsession. Unterschiedlichste Gesundheitstechniken und neue Heilmethoden entstehen und werden erfunden. Wer ist überhaupt krank und wer ist gesund? Was immer selbstverständlich erschien, wird zu einer neuen und offenen Frage. In einer verkehrten, kranken Welt können die Kranken auf einmal die Gesunden sein. Es entsteht ein neues Feld der Lebenskunst.

 

Sofja durchlebt sechzehn Schwangerschaften und bringt dreizehn Kinder zur Welt, sie stillt sie, dem Willen ihres Gatten folgend, alle selbst, obwohl sie dabei enorme Schmerzen durchzustehen hat. Tolstoi ist ein Despot der Nächstenliebe, ein Tyrann der Natürlichkeit. Mit der Inbrunst eines Glaubensgründers arbeitet er daran, seine Umgebung zu überzeugen – und die nächste Umgebung ist und bleibt Sofja Andrejewna. Als er all seinen Besitz verschenken will, selbst die Rechte an seinen Büchern, ist ihre Grenze erreicht. Sie kämpft um den Besitz, das Auskommen für die Familie, wenn es passt, mit klugen Argumenten, wenn es besser passt, mit äußerster Hartnäckigkeit, wenn es sein muss wie eine Löwin, und wenn es gar nicht mehr anders geht, mit dem Mut der Verzweiflung.

Die Gebote der Nächstenliebe und der Gewaltlosigkeit sowie sein schwacher Magen machen Tolstoi zum Vegetarier. Er weitet seine Maxime der Gewaltlosigkeit, sehr zum Leidwesen seiner Frau, die Angst um seine Gesundheit hat, auf Tiere aus. »Musst Du Dich denn wirklich durch die vegetarische Lebensweise zugrunde richten«, mahnt sie ihn.

Als sich die Schwester des Grafen Tolstoi bei einem Besuch über fehlendes Fleisch beklagt, setzt er ihr einen Teller mit einem darauf festgebundenen, lebenden Huhn und einem Messer vor. Als sie fragt, was das soll, erklärt Tolstoi, dass niemand das Tier töten wolle, dass sie das ja aber nun selbst tun könne. Die Situation erheitert ihn sehr.

 

»Zehn Jahre Krankheit, mehr als zehn Jahre; und nicht so einfach Krankheit, für die es Ärzte und Arzneien gäbe.« Das ist das Problem, Krankheiten, deren Ursache niemand kennt, Leiden, die sich nicht kurieren lassen, Zustände, die sich krank anfühlen. Weiß eigentlich irgendjemand, ruft Nietzsche, was mich krank macht?

Nietzsches eigene Erklärung ist seine Vereinsamung, gegen die es kein Heilmittel gebe. Immer wieder denkt er, dass seine eigentliche Krankheit seine Einsamkeit, seine furchtbare Einsamkeit ist. Seine unauslöschbare, zwar zu bejahende, aber doch zu ertragende Einsamkeit. Nietzsche lebt ohne Liebe. Das bedeutet nicht nur, allein zu leben, sondern auch, in seiner Arbeit ungehört zu verhallen.

Tatsächlich erfindet Nietzsche sich seine Nichtbeachtung auch ein Stück weit. Tatsächlich ist er immer wieder beachtet, gar bewundert worden. Nun nährt Georg Bandes Nietzsche-Vorlesung in Kopenhagen die Erwartung auf weitere Anerkennung.

Noch aus Sils Maria schreibt Nietzsche an den Freund Overbeck in Basel: »Lieber Freund, ich schreibe noch ein paar Worte, doch ganz für uns, ganz unter uns. Die Schwierigkeit, in der ich lebe, ist außerordentlich; doch liegt sie nicht dort, wo Du und andere Freunde sie suchen. Ich weiß kaum, sie begreiflich zu machen. Aber seit der Zeit, wo ich meinen Zarathustra auf dem Gewissen habe, bin ich wie ein Thier, das auf eine unbeschreibliche Weise fortwährend verwundet wird. Diese Wunde besteht darin, keine Antwort, keinen Hauch von Antwort gehört zu haben … Dies Buch steht so abseits, ich möchte sagen, jenseits aller Bücher, daß es eine vollkommene Qual ist, es geschaffen zu haben – es stellt seinen Schöpfer ebenso abseits, ebenso jenseits. Ich wehre mich gegen eine Art Schlinge, die mich erwürgen will – das ist die Vereinsamung – ich verstehe es andererseits aus aller Tiefe, warum mir niemand ein Wort sagen kann, das mich noch erreicht … Die Moral ist: man kann daran zugrunde gehen, etwas Unsterbliches gemacht zu haben: man büßt es hintendrein in jedem Augenblick ab. Es verdirbt den Charakter, es verdirbt den Geschmack, es verdirbt die Gesundheit.«

 

Turin erweist sich nach dem Frühjahr auch im Herbst 1888 für Nietzsche als Glück und Traum. Der Sommer in Sils Maria war schwierig gewesen, die Reise nach Turin ist eine Qual. »Erschöpft kam ich in Turin an: aber seltsam! wie im Ruck war Alles in Ordnung!« Turin sei unvergleichlich viel besser als das Engadin. Auch die Nahrung entspreche vollkommen seinen Bedürfnissen. »Ein wahrer Glücksfund für mich, dieses Turin!« Er ist berauscht vom Herbst, noch nie habe er einen solchen Herbst gesehen, Tag für Tag zeige er hier seine goldene Schönheit immer wieder von Neuem: »Claude Lorrain in Permanenz.«

»Die Ernährung ist über alle Maßen gut und zuträglich … Die Zartheit des Kalbfleisches ist einfach für mich etwas Neues, ingleichen das von mir hochgeschätzte delikate Lammfleisch. Und welche Zubereitung! welche solide, saubere, sogar raffinierte Küche! Ich habe bis jetzt nicht gewußt, was guter Appetit ist: aufrichtig, ich esse 4 mal so viel wie in Nizza, zahle weniger und habe noch nie eine Magenbeschwerde gehabt.« Von der Minestrone, die er bei seinem Frühjahrsaufenthalt täglich gegessen hatte, ist nicht mehr die Rede.

 

Ist er schon verrückt? Nietzsche, aus der Sommerresidenz Sils Maria zurück in Turin, wird überwältigt von seinen Gefühlen. Er macht in der Öffentlichkeit minutenlang Grimassen des Entzückens, wie er selbst feststellt, das heißt: Er grinst. Genauso kann er nicht anders, als Grimassen des Weinens zu ziehen. Nach einem Konzert verzieht sein Gesicht sich lange, um über »extremen Genuss« hinwegzukommen, »eingerechnet für 10 Minuten die Grimasse der Tränen«.

Für Nietzsche ist das aber nicht unbedingt etwas Neues. Schon 1881 hatte er sich notiert: »Die Intensitäten meines Gefühls machen mich schaudern und lachen, – schon ein paar mal konnte ich das Zimmer nicht verlassen, aus dem lächerlichen Grunde, dass meine Augen entzündet waren – wodurch? Ich hatte jedesmal den Tag vorher auf meinen Wanderungen zuviel geweint, und zwar nicht sentimentale Tränen, sondern Tränen des Jauchzens, wobei ich sang und Unsinn redete, erhellt von einem neuen Blick, den ich allen Menschen voraushabe.«

Nietzsche an Overbeck, Mitte November: »Beim besten Willen, alter Freund Overbeck, gelingt es mir nicht, Dir etwas schlimmes von mir zu erzählen. Es geht fort und fort in einem tempo fortissimo der Arbeit und der guten Laune. Auch behandelt man mich hier comme il faut, als irgend etwas extrem Distinguiertes, es gibt eine Art, mir die Thüre aufzumachen, die ich noch nirgends wo erlebt habe.«