cover

 

Alina Bach ist glücklich verliebt. Plötzlich aber ist ihr Partner Jannik nur noch müde, kaum ansprechbar und zieht sich zurück, von ihr und der Welt: Eine Depression hat das Ruder in der Beziehung übernommen. Wie das Paar die folgenden Jahre gemeinsam durchsteht, erzählt Bach überaus persönlich, kenntnisreich, tabufrei und einfühlsam. Dabei nimmt sie vor allem die Situation der Angehörigen in den Blick und zeigt, basierend auf eigenem Erleben, welche Schwierigkeiten zu meistern sind und wie die Zeit der Depression eine aushaltbare, ja sogar bereichernde Erfahrung werden kann – ganz besonders in Sachen Liebe.

»In ihrem Buch beschreibt Alina Bach ihren gemeinsamen Weg durch neun Jahre Depression – im ersten Buch für Angehörige, aus der Sicht einer Angehörigen.« jetzt.de (SZ)

 

Als Alina Bach Jannik Küster trifft, beginnt eine Liebe voller Lebensfreude, Empathie und Respekt. Dann aber gibt es ein böses Erwachen: Mehr und mehr ist Jannik in sich gekehrt, unendlich müde, unfähig, am Leben teilzunehmen, und bald scheint er ganz desinteressiert an Zweisamkeit. Etwas Zerstörerisches hat ihn fest im Griff. Bis das Paar begreift, dass eine Depression in der Beziehung das Ruder übernommen hat, vergeht schmerzhaft viel Zeit.

Neun Jahre lang begleitet Bach ihren Partner durch Erschöpfung und Verzweiflung und nennt es »unsere Reise durch Janniks schwerste Zeit«. Kenntnisreich, aufrichtig, überaus persönlich und unsentimental erzählt sie ihre Geschichte und möchte damit vor allem Angehörigen von Depressionserkrankten zur Seite stehen. Auf der Basis ihrer eigenen Erfahrung stellt sie deren Situation in den Mittelpunkt ihres Berichts. Bach erzählt von Sorgen, Ängsten und der Last des All­tags, aber auch davon, wie viel Hoffnung es gibt und wie die Zeit der De­pres­sion eine aushaltbare, ja sogar bereichernde Erfahrung werden kann – ganz besonders in Sachen Liebe.

Alina Bach ist das Pseudonym einer deutschen Journalistin und Kinderbuchautorin. Mit ihrem Mann und diversen Vierbeinern lebt sie am Rande der Allgäuer Hochalpen.

ALINA BACH

DIE LIEBE IN
DUNKLEN ZEITEN

Partnerschaft und Depression – Erfahrungen
einer Angehörigen

image

 

eBook 2020

www.dumont-buchverlag.de

 

Für Sigrid

 

Hoffnung ist nicht die Überzeugung,
dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit,
dass etwas Sinn hat, egal, wie es ausgeht.

Václav Havel

Inhalt

»Holy Shit«

I
Von Verlieben bis Verstehen

Geisterkarussell

Kriechströme

Starker Tobak

Die Dame am See

In einem Boot

Ringelreigen

Barrierefreiheit jetzt!

Krank und doch nicht krank

II
Von Zumutung bis Zuversicht

Monsterparade

Heldin gesucht

Expecto patronum!

Heute nur Shavasana

Baumgeister auf Felsvorsprüngen

Schutzschirme außer Kraft!

Auch ein freier Tod ist ein Tod

Mother’s Little Helpers

III
Von Widerhaken bis Wait-A-While

Und wer bin ich jetzt?

Figuren des Nicht-Tuns

Yabulam

Anhang

Glossar

Literaturen

»Holy Shit«

Öffnet man auf der Homepage der Stiftung Deutsche Depressionshilfe den Link »Rat für Angehörige«1,so findet man eine knappe, recht streng formulierte und leicht zu verstehende Liste an Dingen, die Angehörige unbedingt tun respektive auf keinen Fall tun sollten, wenn sie mit einem depressiven Partner zusammenleben.

All diesen Ratschlägen sind zwei Dinge gemein: Sie handeln von dem, was der Partner braucht, und sie verlieren kaum ein Wort darüber, wie die oder der Angehörige es meistern soll, den Anforderungen, die hier versammelt sind, auch nur annähernd gerecht zu werden.

Es verwundert auch, dass in diesen wie in vielen vergleichbaren Texten über weite Strecken und immer wieder von »dem Patienten« gesprochen wird und nicht von dem Menschen, den du liebst, der dich liebt und der dummerweise mit einer Depression klarkommen muss, weswegen du mit seiner Depression auch klarkommen musst – sofern du ihn nicht verlassen möchtest.

Angehörige von Depressionserkrankten, insbesondere Partnerinnen und Partner, die meist am allernächsten ›dran‹ sind, bekommen sehr viele Ratschläge. Stetig und von geradezu überall her prasseln Tipps auf sie ein: Jede Boulevardzeitung, die Nachbarin, der Hausarzt, die seriöse Wochenzeitung, der Psychiater, die Friseurin, der Wanderkumpel, die Mutter, der Schwager und der Gemüsehändler haben Vorstellungen, Ideen oder einfach nur Kommentare zu dem, was Depression alles ist und wie sich Angehörige von depressiven Menschen verhalten sollten.

Das große Problem aber ist, dass Angehörige erschreckend wenig kompetenten und hilfreichen Rat bekommen. Ein solcher Rat bezöge sich in der Hauptsache auf sie, die Angehörigen. Auf ihre Situation unter den Bedingungen der Depression des Partners. Auf ihren Alltag und auf ihre Probleme während dieser Zeit.

Es gibt kaum ernst zu nehmende Beratungs- oder Anlaufstellen, die dafür geschult wären, geschweige denn von öffentlicher Hand bezahlt würden, sich nachhaltig und tiefgreifend um die Belange der Angehörigen zu kümmern. Das ist nicht nur extrem frustrierend für diese, es ist auch überaus erstaunlich, wenn man bedenkt, dass es Statistiken2 gibt, die aufzeigen, wie signifikant die Rückfallquote bei Depressionen zurückgeht, wenn nicht nur die Betroffenen, sondern auch die Angehörigen, insbesondere die Partnerinnen und Partner von depressiven Menschen, fachkundig begleitet werden: einzeln und / oder mit dem Geliebten zusammen.

In zahlreichen Ratgebern für Angehörige werden stattdessen – und angesichts der massiven und gravierenden Symptome von Depressionen ist das im ersten Moment sogar verständlich – Verhaltensweisen von diesen gefordert, die sie implizit nötigen, sich für die Dauer der Depression in ein Verhältnis zum geliebten depressiven Partner zu begeben, das dem zwischen Pflegepersonal und Patient sehr nahe kommt. Das jedoch ist der Tod für jede Liebesbeziehung.

Die allermeisten Angehörigen wünschen sich genau das Gegenteil: dass nämlich die Liebesbeziehung bestehen bleiben, weiter wachsen und von der Last der Depression befreit werden möge. Alle Ratschläge, deren Befolgung, einmal konsequent zu Ende gedacht, direkt oder indirekt zum Erlöschen der Liebe führen würde, sind in der Praxis also nur bis zur nächsten Ecke und nur sehr theoretisch hilfreich. Wenn es um das harte Brot geht, dass es bedeutet, im Verlaufe einer unter Umständen Jahre andauernden Depression einander Tag für Tag Liebespartner zu bleiben, taugen sie nur ausgesprochen bedingt und können sogar kontraproduktiv sein.

Wie schaffen wir es, unter diesen Umständen weiter Liebespartner zu bleiben? Das ist eine der zentralen Fragen, die Angehörige von Depressionserkrankten – und die Betroffenen selbst – umtreiben.

Seit Jahren bin ich im Netz, in Buchhandlungen und in unterschiedlichsten Beratungsstellen auf der Suche nach professionellen oder auch einfach nur hilfreichen Ratschlägen dazu, wie ich die oben genannte Liste von Hinweisen befolgen könnte, ohne mich dabei gefühlt in eine Heilige, eine Semi-Krankenschwester oder eine Mutterfigur zu verwandeln. Meine Absicht war es immer, den Mann, den ich liebe, weiterhin als begehrenswerten, liebenswerten und erwachsenen, eigenständigen, wenn auch derzeit mit schweren Einschränkungen belasteten Partner wahrzunehmen und zu adressieren. Höre ich nämlich auf, das zu tun, mag ich ihn vielleicht noch oder finde ihn weiterhin nett, aber ich werde mich früher oder später garantiert aus der Liebesbeziehung mit ihm lösen und ihn im günstigsten Fall noch als Freund ansehen.

Gerate ich im Zusammenleben mit meinem depressiven Partner in die Rolle der ›Heiligen‹, die sich selbst und ihre Bedürfnisse ganz zurück- und in den Dienst des scheinbar zu Rettenden stellt, so landet er genau dort: in der Rolle eines zu Rettenden. Not very sexy …

Gerate ich, übrigens ganz ungeachtet der Tatsache, dass mir die Fachkompetenz dazu ja vollkommen abgeht, in die Rolle der ›Pflegerin‹, so bekommt er die Rolle des Kranken, der von meiner Pflege abhängig ist. Not sexy at all …

Gerate ich gar in die Rolle der ›Mutter‹, die immer für ihn da ist, ihre Bedürfnisse grundsätzlich hinter seine zurückstellt, seine Wäsche macht, für ihn kocht, ihn daran erinnert, sich möglichst gesund zu ernähren und doch bitte, besonders jetzt, da er mit Depressionen zu tun hat, drogenfrei zu leben, gerät er in die Rolle des unmündigen Sohnes. Absolutely not sexy at all …

Da Jannik nun aber zum Allerbesten gehört, was mir im Leben jemals begegnet ist, bin ich nicht gewillt, mich in eine dieser Rollen zu begeben. Zum einen gefährden sie den Fortbestand unserer Liebe und zum anderen mutiere ich in ihnen zu etwas, das ich noch nie sein wollte – und das sagt er im Übrigen von sich genauso.

Das Buch zu dieser Frage, das Buch darüber, wie Angehörige die Jahre der Depression ihres Partners nicht nur japsend überleben, sondern aktiv, zuversichtlich und wenigstens im Grundsatz freudvoll mitgestalten können und wie nicht nur der geschwächte Partner, sondern auch die Liebe in der Partnerschaft unter dieser Belastung von beiden gepflegt werden kann, suche ich, wie gesagt, seit Jahren. Auf dieser Suche ist mir genau ein Buch begegnet, das ich im Prinzip hilfreich gefunden habe.3 Es enthält gute, nachvollziehbare Erklärungen, und der Autor legt großen Wert darauf, sich in die Situation der Angehörigen einzufühlen. Dennoch steht auch hier, unter dem Strich, eigentlich der depressive Partner im Fokus.

Daher schreibe ich nun das Buch, das ich in all den Jahren gern zur Begleitung gehabt hätte. Ich werde dabei nichts beschönigen. Am Erleben und auch am Miterleben einer Depression ist nicht viel Schönes. Aber ich werde so viel Licht wie irgend möglich auf all das werfen, was schön und lohnend daran sein kann, einen geliebten Menschen auf seiner Reise durch die und aus der Depression hinaus zu begleiten.

Es mag überraschen, aber es gibt – für das Paar gemeinsam und beide Partner einzeln – tatsächlich sehr viel Wichtiges und sogar Wunderbares nicht nur zu lernen, sondern auch zu erleben auf dieser Reise. So viel, dass ich persönlich die Erfahrung inzwischen nicht mehr missen möchte. Ich wäre heute nicht dort, wo ich bin, wenn Jannik mir nicht die Chance gegeben hätte, ihn während dieser schwierigen Jahre zu begleiten. Dafür bin ich ihm von Herzen dankbar: um unserer Beziehung willen, aber auch, weil ich zufrieden und glücklich bin sowohl mit dem Ort im Leben, an dem ich heute stehe, als auch damit, wie und als wer ich dort stehe.

Obwohl ich mich beim Verfassen dieses Buches natürlich auf die Lektüre zahlreicher Publikationen zum Thema stütze, versammle ich in ihm vor allem meine eigenen Erlebnisse und Erfahrungen. Damit liefere ich einen persönlichen Bericht zu den Fragen danach, welchen Schwierigkeiten sich Angehörige von Depressionserkrankten gegenübersehen, was bei unserer Suche nach Lösungen hinderlich, ja problematisch und was unterstützend und förderlich war.

Hauptsächlich möchte ich damit andere Angehörige ermutigen. Denn es ist viel Mut erforderlich, wenn zwei Menschen gemeinsam durch eine Depression navigieren. Außerdem sind, wie bei fast allen großen Herausforderungen im Leben, Durchhaltevermögen und Hingabe gefragt. Die Reise wird aber langfristig nur dann erfolgreich verlaufen, wenn es dem Paar gelingt, immer wieder und vor allen Dingen die Liebe als Kompass zu nutzen. ›Erfolgreich‹ meint hier zum einen ganz grundsätzlich den Fortbestand der Beziehung als Liebesbeziehung und zum anderen eine den Umständen entsprechend möglichst hohe Beziehungszufriedenheit beider Partner als Liebespartner während der Dauer der Depression.

Deswegen beginnt dieses Buch ohne Umschweife mit dem einen Bereich, zu dem Angehörige nahezu gar keinen – und wenn, dann meist keinen hilfreichen – Rat erhalten. Es ist der eine Bereich, der deutlicher als die meisten anderen den Unterschied zwischen einer Liebesbeziehung und allen anderen Formen naher oder inniger Verbindung markiert.

I
VON VERLIEBEN BIS
VERSTEHEN

Geisterkarussell

Als Jannik und ich ein Paar wurden, nahm mein Leben eine immens positive Wendung. Bis dahin war es ein gutes Leben gewesen. Jetzt begann es zu leuchten. Die Verbindung mit Jannik tauchte alles an mir und um mich in eine warme, beglückende Helligkeit. Ich fühlte mich angenommen, wertgeschätzt, unterstützt und geborgen wie nie zuvor, steigerte meinen beruflichen Erfolg spielerisch und beinahe nebenbei und sah so freudvoll in die Zukunft wie sonst nur sehr selten. Vom ersten Moment an begegnete mir Jannik mit einem selbstverständlichen, eindeutigen und vollkommen gelassenen Ja: zu mir und einem Leben mit mir. Kein Abwarten, kein Abwägen, keine Absicherung, einfach nur dieses große, überzeugte Ja. Auch das war in der Tat eine wunderbare Erfahrung. Außerdem war er von derart ungebrochener Freundlichkeit, fand immer eine Lösung, kam noch in den verzwicktesten emotionalen wie sachlichen Problemlagen auf einen guten Ausweg, blieb stets zuversichtlich und strahlte eine unerschütterliche Ruhe und Stärke aus. Es war einfach unfassbar beglückend. Und dann war da auch noch die Sache mit dem Sex …

Ich liebe Sex. Das mag ein banaler Satz sein, aber mir ist diese einfache Wahrheit erst in den letzten, in den schweren Jahren bewusst geworden. Seit der Adoleszenz haben Erotik und lustvoll gelebte Sexualität für mich immer eine wichtige Rolle gespielt und sind mir nie als nebensächlich oder unwichtig erschienen. In der Begegnung mit Jannik änderte sich das kein bisschen. Im Gegenteil, mit Jannik begann ich Sex intensiver zu genießen als je zuvor – und zwar nicht etwa, weil ich bis dahin ignorante Liebhaber gehabt hätte. Es war Janniks absolut betörende Freude an Langsamkeit und Ruhe, die diese ganz neue Qualität mit sich brachte. Sein spielerisches, geradezu vergnügtes Interesse daran, ganz genau herauszufinden, was mich jubeln ließ und welche bislang unbekannten Freuden mir noch zu bescheren wären. Seine Leidenschaft und Heftigkeit, seine Freude am Wechsel der Rollen, wenn es um das Gestalten der Ekstase ging, all das schien tief verwurzelt in unendlich verfügbarer Zeit. Es war so erstaunlich wie fabelhaft.

Hätte ich damals wenigstens einige wesentliche Merkmale der depressiven Struktur gekannt, so wären mir allerdings vielleicht – vielleicht … – neben all dem beglückenden Erleben auch ein paar nachdenkliche Fragen in den Sinn gekommen: Woher kam dieses beinahe übermenschliche Einfühlungsvermögen? Was für ein Zeitempfinden war das überhaupt, das Jannik da hatte? Und woher rührte diese unerschütterliche Fels-in-der-Brandung-Ausstrahlung, die ihn umgab? War es, realistisch betrachtet, überhaupt möglich, dass die Bedürfnisse, die Wünsche und Fantasien zweier Menschen jenseits der ersten Wochen auf Wolke sieben so ungebrochen übereinstimmten und sich derart mühelos ineinanderschmiegten, wie das bei uns der Fall zu sein schien?

Aber zu jenem Zeitpunkt war Depression etwas, von dem ich dachte, es sei ein von den Medien zum Hype gemachtes Thema, das sich hauptsächlich auf den Glanzseiten inhaltsleerer Illustrierter und im Leben unverschämt reicher Promis abspielte, die nicht damit klarkamen, keine Privatsphäre mehr zu haben. Außerdem war ich – zwar eher diffus, denn ich hatte eigentlich noch nie ernsthaft darüber nachgedacht – doch sehr überzeugt der Meinung, Depression sei im Grunde nichts weiter als eine Phase tieferer Traurigkeit oder Niedergeschlagenheit und vielleicht auch ein wenig des übermäßigen Selbstmitleids. Eine Phase, die bald vorüberginge, wenn man nur ein paar gute Gespräche mit lieben Freunden oder, in hartnäckigeren Fällen, einer Psychotherapeutin führte, sich ein bisschen Zeit zum Trauern über den Auslöser gäbe und, nicht zuletzt, etwas am Riemen risse, statt sich gehen zu lassen. Nichts lag mir ferner, als im Zusammenhang mit Jannik an irgendwelche Symptome der Volkskrankheit Nummer eins4 zu denken. Warum also kritische Fragen stellen, wenn doch alles einfach großartig und wunderbar war? Warum übervorsichtig werden, wenn das Leben es endlich einmal rundum und geradezu überschäumend gut mit mir meinte? Ich hatte einfach den ganz, ganz großen Fang gemacht, Punktum! Nicht nur war Jannik, bei all seiner deutlich sicht- und spürbaren Männlichkeit, unglaublich freundlich, zärtlich, charmant und aufmerksam, nicht nur war er klug und hübsch anzusehen, beruflich vielversprechend situiert und einige schmeichelhafte Jahre jünger als ich, nein, er war auch noch der absolute Bringer im Bett. Zur Hölle mit jeder einzelnen nachdenklichen Frage! Warum soll es nicht einfach mal umwerfende Männer geben?

Meine Freundinnen seufzten, wenn ich ihnen von meinem so märchenhaft veränderten Leben im Allgemeinen und meinem so deutlich verbesserten Sexleben im Speziellen erzählte, das ja immerhin auch vorher schon nicht von schlechten Eltern gewesen war. Ich dagegen strahlte immer weiter glücklich vor mich hin und war mir zum ersten Mal im Leben sicher, dass sich dieser Zustand zwar mit den Jahren vermutlich ein wenig einebnen, aber ganz bestimmt im Grundsatz erhalten würde. Und wenn ich davon sprach, drückte Jannik mich lächelnd an sich und stimmte mir aus ganzem Herzen zu. Wir schmiedeten Pläne für die Zukunft, genossen jede gemeinsame Minute, genossen die getrennten fast ebenso, denn sie waren angefüllt mit der Vorfreude auf die nächste Begegnung. Nichts, aber auch gar nichts deutete darauf hin, dass wir kurz vor einer tiefgreifenden Veränderung standen.

Sie begann an einem Freitag, der sorglos, innig und verliebt seinen Lauf genommen hatte, und geriet zu einem lauten, sehr hässlichen Weckruf.

Jannik hatte beruflich nach Helsinki gemusst. Ich war, wie inzwischen häufig, mitgefahren. Als freiberufliche Kinderbuchautorin und Journalistin kann ich mir meine Zeit eigenständig einteilen und an beinahe jedem Ort auf dem Globus arbeiten. Vormittags hatte ich am Manuskript meines neuen Buchs gearbeitet, mir nachmittags eine Ausstellung angesehen und schlenderte nun zu unserem Hotel, wo ich Jannik zum Abendessen treffen wollte. Wir hatten geplant, einen nicht unerheblichen Teil des bevorstehenden Wochenendes im Hotelzimmer zu verbringen – bevorzugt im Bett.

Ich duschte, zog mich um und begann, als Jannik um sieben noch nicht da war, den Roman weiterzulesen, den ich mitgenommen hatte. Um halb neun war er immer noch nicht zurück und hatte sich kein einziges Mal gemeldet. Ich hatte Hunger. Offensichtlich dauerte seine Besprechung länger als geplant. Kein Problem! Ich machte einen kleinen Spaziergang, fand in der Nähe ein spanisches Restaurant, holte dort Tapas, eine Flasche Wein, zwei Flaschen Wasser, fuhr mit dem Lift wieder in unser Zimmer und begann den kleinen Tisch dort provisorisch zu decken. Inzwischen war es nach neun. Kein Wort von Jannik, und mein Magen knurrte immer lauter. Ich knabberte Oliven, schaltete den Fernseher ein, zappte durch die Sender und merkte schnell, dass ich überhaupt nicht bei der Sache war.

Endlich rief ich ihn an. Er nahm nicht ab. Sicher war sein Gerät lautlos gestellt und er immer noch im Gespräch mit dem finnischen Kunden. Ich griff also erneut zu meinem Buch. Aber eine halbe Stunde später versuchte ich es wieder. Und einige Zeit danach noch einmal. Es wurde halb elf.

Inzwischen hatte ich mehr als meinen Teil der Tapas gegessen und mehr als die halbe Flasche Wein getrunken. Inzwischen waren außerdem Dinge geschehen, an die ich mich in den kommenden Wochen und Monaten gewöhnen sollte. Ich hatte das Buch bald weggelegt, tatenlos herumgesessen und über vollkommen widersprüchliche, irgendwie vielleicht mögliche, obwohl eigentlich absolut unmögliche Deutungen der Situation nachgedacht: Jannik hatte einen Herzinfarkt gehabt, und niemand in Helsinki wusste, dass ich hier war, oder hatte meine Telefonnummer. Jemandem in Janniks Familie war etwas zugestoßen, und er war in größter Sorge und Hektik nach Deutschland zurückgeflogen, ohne mir Bescheid geben zu können – bevorzugt, weil sein Akku nicht geladen war. Jannik hatte sich plötzlich überlegt, dass drei Monate Spaß mit mir reichten, dass er mich ab sofort nicht mehr ertragen könnte, und war wortlos abgereist. Jannik hatte einen Herzinfarkt gehabt, lag auf irgendeiner finnischen Intensivstation, und niemand in Helsinki wusste, dass ich hier war …

Ich müsste dieses irrationale und geradezu panische Gedanken- und Gefühlswirrwarr schier endlos erweitern, um es realistisch darzustellen. Es war furchtbar. Rückblickend erscheint mir so gut wie jede Einzelheit aufschlussreich. Die Veränderungen, die durch den Ausbruch einer ersten depressiven Episode in einer Partnerschaft geschehen, verursachen bei den Angehörigen vor allem deshalb unglaublich viel Verunsicherung, weil sie, ohne Vorwissen oder Erfahrung, kaum als Symptome deutbar sind. Stattdessen werden sie einfach auf der persönlichen, eben der Beziehungsebene ›gelesen‹: Der geliebte Mensch ist nicht mit einem gebrochenen Bein in der Notaufnahme eines Krankenhauses. Er kommt auch nicht, nachdem er wochenlang über Schmerzen an der Wirbelsäule geklagt hat, mit einer erschütternden Diagnose vom Arzt zurück oder liegt schwitzend und stöhnend darnieder, während seine Körpertemperatur die Anzeige auf dem Fieberthermometer in die Höhe schnellen lässt. Der geliebte Mensch ruft lediglich nicht an. Er meldet sich einfach nicht.

Es ist, so scheint es jedenfalls, die Beziehungsebene, auf der er sich anders verhält als sonst – und zwar unangenehm anders. Logischerweise ist es daher auch die Beziehungsebene, auf der Angehörige am Anfang reagieren. Das aber verkompliziert die Situation enorm und erschwert sie für beide Partner erheblich.

Aus zahlreichen Gesprächen mit anderen Angehörigen weiß ich, dass es in unseren Köpfen, den Köpfen der Partnerinnen und Partner, besonders zu Beginn der ersten manifesten Episode einer Depression, aber auch später immer wieder, in solchen Momenten von Reaktionen geradezu wimmelt, die auf frühere eigene Erfahrungen zurückzuführen sind. Denn je nachdem, wie ich selbst gestrickt bin, welche Erfahrungen aus früheren Beziehungen, welche Prägungen, unverarbeiteten Verunsicherungen und Verhinderungen aus der eigenen Kindheit, Jugend oder meinem restlichen Vorleben ich selbst in die Partnerschaft einbringe, interpretiere ich die augenscheinlichen und zunehmenden ›Ausfälle‹ des Partners auf der Beziehungsebene unterschiedlich. Die eine nimmt sie vielleicht zunächst gelassen auf, der andere irritiert oder verwundert, die nächste möglicherweise gleich ganz und gar panisch. Die Art und Weise, in der ich auf etwas reagiere, sagt zunächst einmal und in erster Linie eine ganze Menge über mich aus und unter Umständen nur sehr wenig über das, worauf ich reagiere.

Ich selbst habe diesen Effekt immer als Spuk erlebt: Janniks ›Ausfälle‹ verursachten ein Erstarken meiner eigenen ›alten Monster‹ aus der Kindheit und aus vorangegangenen Beziehungen. Das war zwar immer kräftig gemischt mit durchaus sinnvollen und angemessenen Überlegungen, nur war es oft schwer, im Gewusel dieser Gedanken die Spreu vergangener Erfahrungen vom Weizen der Gegenwart mit Jannik zu trennen. Im Grunde sind das Fallen, die jeder Mensch kennt und die es in jeder Liebe zu erkennen und zu bearbeiten gilt. Die Qualität einer Liebesbeziehung misst sich schließlich nicht zuletzt daran, wie viel Raum sie bietet, den Erfahrungen alter Verbindungsverletzungen neue Vertrauenserlebnisse entgegenzusetzen.

Der Unterschied hier ist nur, dass der depressive Partner in der akuten Episode nicht in der Lage ist, das Missverständnis aufzuklären. Er ist mit ganz anderen Problemen beschäftigt: Während ich denke, dass der Mistkerl nicht anruft und mich so schlecht behandelt wie mein erster Freund damals, steht er an einem Abgrund, an dem es für ihn ums schiere Überleben geht. Ein Abgrund, den ich weder sehen noch ahnen und über den er nicht sprechen kann.

In einem Brief an jemanden aus einer Selbsthilfegruppe für Angehörige von Depressionserkrankten habe ich das viel später einmal so zusammengefasst: »Du denkst, er ist achtlos. Du denkst, er ist beschäftigt. Du denkst, er liegt mit einer anderen im Bett. Du denkst, war ja klar, mich liebt eh keiner wirklich, schon gar nicht so ein Toller. Du denkst, er hat sich umgebracht. Du denkst, er kotzt mich an mit seiner Respektlosigkeit. Du denkst, seine Mutter liegt im Sterben und er will mich nicht dabeihaben. Du denkst, er hat mal wieder das Ladekabel nicht dabei. Höchstwahrscheinlich denkst du das meiste davon sogar gleichzeitig oder sehr kurz hintereinander und fängst dann wieder von vorn an. Aber tatsächlich hast du in diesem Moment nicht die geringste Idee von dem, was wirklich los ist, und nicht die geringste Chance, es zu wissen. Du bist so ratlos und fühlst dich so hilflos wie selten zuvor im Leben.«

Sämtliche Gespräche mit Angehörigen, die ich geführt habe, bestätigen den Ausbruch dieses absolut nicht hilfreichen Gedankenkarussells. Die gute Nachricht ist: Man lernt, es anzuhalten. Und man lernt, aus ihm auszusteigen. Die weniger angenehme ist: Es dauert meistens eine ganze Weile, bis man es gelernt hat.

Ich tat, was vermutlich die meisten getan hätten: Ich rief mich zur Ordnung. Ich kannte doch Jannik! Nie würde er irgendeins der Dinge tun, die mir wie wild durch den Kopf geschossen waren. Und er würde auch keinen Herzinfarkt bekommen haben. Er war Mitte dreißig und kerngesund. Zugegeben, er trank manchmal gern einen über den Durst, und ich, bleiben wir ehrlich, machte dabei häufig ungeniert mit. Und er rauchte. Ja, das war leider wahr. Er arbeitete auch recht viel. Viel zu viel, genau genommen. Aber von Herzinfarkt konnte, rational bedacht, schlicht keine Rede sein. Es hatte nicht die geringsten Vorzeichen für einen Herzinfarkt gegeben. Was waren die Vorzeichen für einen Herzinfarkt eigentlich genau? Hatte er in letzter Zeit mehr geraucht als sonst? Gehustet? Wieso hatte er das verdammte Ladekabel nicht mitgenommen? Hatte er nicht irgendetwas davon erzählt, dass er einen schwer kranken Bruder hatte? War seine Exfrau wieder aufgetaucht? Vielleicht sogar hier in Helsinki? …

Ich war noch ganz am Anfang des Lernprozesses, der dazu führte, das Karussell zu erkennen und aus ihm auszusteigen. Stattdessen goss ich mir ein weiteres Glas Wein ein. Und um halb zwölf klingelte endlich mein Telefon.

Er klang müde. Er sprach so leise, dass ich ihn kaum verstehen konnte und immer wieder nachfragen musste. Er machte lange Pausen beim Sprechen, die ich als Funklöcher missverstand und in die ich immer wieder hineinrief: »Jannik?! Jannik, hörst du mich? Bist du noch da?« Nur um zu merken, dass er einfach so lange nichts gesagt hatte. Dann war er tatsächlich weg, die Verbindung unterbrochen. Ich rief ihn wieder an. Seine Mailbox antwortete.

»Verdammter Akku!« Ein Satz, den ich im Laufe der kommenden Jahre noch oft sagen würde und der mit der Zeit zunehmend eine übertragene Bedeutung bekommen sollte. Ich ging zum Fenster und sah auf die Straße. Unsinnig, denn das Büro seines Kunden lag in einem ganz anderen Stadtteil.

Er erinnere sich nicht mehr an den Namen des Hotels, hatte er als Letztes gesagt. Ich schickte ihm eine Nachricht mit Namen und Adresse unserer Unterkunft. Dann rief ich noch einmal an. Wieder die Mailbox. Ich warf mein Handy aufs Bett und fluchte. Was dachte dieser Typ eigentlich, wer ich war? Wie war es möglich, dass er den Namen des Hotels nicht mehr wusste? Schließlich hatte er es herausgesucht und gebucht. Was ließ er mich hier so lang warten? Ich sollte jetzt sofort meinen Koffer packen und verschwinden: noch bevor er hier ankam! Warum hatte er nicht wenigstens kurz durchgegeben, wie spät es werden würde? Hatte ich etwas falsch gemacht? Was war mit seiner Stimme los gewesen? War er überhaupt noch in Helsinki? War er vielleicht doch krank? War es ihm neuerdings zu viel, wenn ich mitfuhr? Und dann – gleich von diesen allerersten Momenten an, sehr plötzlich und auf eine irritierende Art unangemessen, denn es war ja eigentlich nichts wirklich Dramatisches geschehen – das bohrende, eisige, zutiefst bittere Gefühl einer so heftigen wie diffusen Angst: um diesen Mann, der mir wirklich kostbar geworden war in den vergangenen Monaten, und um unsere Liebe. Irgendetwas war überhaupt nicht in Ordnung, nur hatte ich keinen blassen Schimmer, was.

Eine halbe Stunde später klopfte es an der Zimmertür. Die Weinflasche war inzwischen leer, von den Tapas kaum noch etwas übrig. Hin- und hergerissen zwischen Ärger, Sorge, Neugier und Erleichterung lief ich hin und öffnete.

Man sagt als Floskel, jemand sehe aus wie ein Geist. Als ich die Tür öffnete, dachte ich es einen Moment lang ganz konkret. Wenn es Geister gäbe, dachte ich, sähen sie exakt so aus wie dieser Mann, der am Türrahmen lehnte und entfernt an Jannik erinnerte. Seine Haut war fahl und wächsern. Im Licht der Flurlampen schimmerte sie, was von einem dünnen Schweißfilm herrührte. Seine Wangen waren eingefallen, die Augen lagen tief in den Höhlen, unter ihnen zwei breite, dunkle Halbmonde. Er stand da, kraftlos, geradezu schlaff, hielt sich am Türrahmen fest und verzog das Gesicht. Vermutlich hatte er zu lächeln versucht. Dann sagte er einen einfachen, kurzen Satz, der mir in dem Moment nicht viel mehr bedeutete als eine wenig überzeugende, aber freundlich gemeinte Geste. Einen Satz, der bald auf meiner langen Liste möglicher Anzeichen für eine depressive Struktur landen sollte: »Tut mir leid«, sagte Jannik, und ich konnte seine Stimme kaum hören.

Es ist nicht der Satz selbst. Denn im Grunde ist es ja das Mindeste, dass einer, der ohne Ankündigung fünf Stunden zu spät zu einer Verabredung kommt, sich entschuldigt. Es sind die Umstände, unter denen er gesagt wird, die ihn auf die Liste bringen. Und obwohl sie alle deutliche Anzeichen der Depression waren, erfasste ich von ihnen an jenem Abend nicht das Geringste. Im Gegenteil, diese erste weniger schöne Erfahrung mit Jannik war zwar nicht sehr angenehm gewesen, sie schien aber auch vollkommen harmlos und banal. So etwas passierte halt mal. Im Grunde war doch nichts Weltbewegendes geschehen: Ich sah und hörte einen Mann in der Welt, die Jannik und ich eben noch geteilt hatten – und merkte nichts davon, dass er sich nicht mehr in ihr, sondern in einer ganz anderen aufhielt. Auf eine beunruhigende Weise war, so gesehen, die Idee vom Gespenst erschreckend nah an einer möglichen Lesart der Gegebenheiten. Ich sah einen Mann, der angekränkelt war und sich für sein achtloses Verhalten entschuldigte. Nichts daran ließ mich aufhorchen, innehalten oder nachdenken. Es war das normalste Geschehen der Welt, und alles war richtig, wie es war. Tatsächlich hätte ich es Jannik ziemlich angekreidet, wenn er sich nicht wenigstens entschuldigt hätte.

Und er? Wie ich heute weiß, stand er in diesem Moment zum wiederholten Mal an jenem Tag kurz vor einem schweren körperlichen Zusammenbruch. Der psychische war bereits in vollem Gange.

Jannik wankte ins Zimmer und setzte sich auf die Bettkante. Ich schloss die Tür und wusste nicht recht weiter. Ich glaube, ich wartete auf eine Erklärung. Und während ich wartete, betrachtete ich ihn. Er sah nicht nur müde aus. Er wirkte krank. So krank, dass ich kurz darüber nachdachte, ob wir nicht einen Arzt rufen sollten. Aber erst einmal wollte ich abwarten, was er selbst zu all dem sagen würde. Zu seinem Zustand. Dazu, dass er so spät kam. Dazu, dass er nicht Bescheid gegeben hatte. Und dazu, was er jetzt unternehmen wollte.

Aber Jannik sagte nichts. Er tat auch nichts. Er saß zusammengesunken auf dem Hotelbett, in dem wir wilden Sex hatten haben wollen, sah zu Boden, schwieg und schien hauptsächlich mit der offensichtlich mühsamen Arbeit des Atmens beschäftigt. Die Unterarme hatte er auf den Oberschenkeln abgelegt, die Hände hingen, wie der Kopf, schlaff herunter. Er schwitzte enorm, und ich hatte den Eindruck, dass er in einem erschreckenden Tempo stetig grauer und grauer wurde. Niemals hatte ich ihn so erschöpft gesehen – das immerhin bemerkte ich.

»Jannik?«

Keine Antwort. Keine Reaktion. Nichts. Nur dieses leise, pfeifende Atmen und die Geisterfarbe, die sich immer weiter über ihn auszubreiten schien.

»Jannik, was ist denn los?«

Es dauerte Minuten, bis er sich wieder bewegte. Bis er aufschaute, mich ansah und noch einmal »Tut mir leid« sagte. Er sei furchtbar müde. Alles habe so viel länger gedauert als geplant. Sein Handy sei nicht ausreichend geladen gewesen. Er sei so müde. Er sei wirklich so müde. Er müsse schlafen. Und dann – wieso irritierte mich das nicht? – sagte er, er würde aber auf jeden Fall vorm Schlafengehen noch duschen. Er wisse nicht, wieso er so schwitze. Sein Gestank sei mir wirklich nicht zuzumuten. Auch diese Bemerkung nahm ich einfach hin. Und es stimmte: Er stank vor Schweiß. Was hätte ich daran auszusetzen haben können, dass er sich wusch? Es schien sinnvoll. Es schien naheliegend. Er war – wie ich es von ihm kannte – rücksichtsvoll und freundlich, und ich war geradezu dankbar für alles, was sich wieder so abspielte, wie ich es kannte: Er war müde. Er war verschwitzt. Er wollte duschen. Nichts logischer als das. Ich an seiner Stelle hätte es genauso gemacht.

Warum merkte ich nicht, welche Diskrepanz sich auftat zwischen seiner extremen Erschöpfung und seiner Sorge darum, mich mit seinem ungepflegten Zustand nicht zu belästigen?

Heute würde ich sagen, dass es dafür einen einfachen, ja simplen Grund gab. Obwohl ich wahrnahm, dass Jannik erschöpft und vielleicht krank war, hatte ich nicht den geringsten Begriff von der tatsächlichen Tiefe und Dimension dessen, was sich direkt vor meinen Augen ereignete: weder vom Ausmaß der Erschöpfung, die ihn im Würgegriff hielt, noch vom Ausmaß seiner Unfähigkeit, das kleine Wörtchen »Nein« zu denken, gar auszusprechen und seine Bedürfnisse vor die anderer Menschen zu stellen, oder davon, dass all diese Probleme nicht erst in jenem Moment auftraten, sondern ihn mehr oder weniger schon sein ganzes Leben lang plagten und nun zum ersten Mal sichtbar wurden. Ich hatte, kurz gesagt, nicht die geringste Ahnung davon, was Depression ist, und deshalb nicht die geringste Chance, etwas anderes zu sehen als einen extrem überarbeiteten Mann, der sich vielleicht eine schwere Grippe eingefangen hatte.

All das andere, das eigentlich genauso wenig zu übersehen war, schrieb ich ebenfalls kurzerhand der ›Grippe‹ zu, wenn ich das meiste auch einigermaßen seltsam fand und mich ziemlich wunderte. Darüber, dass er minutenlang nicht ansprechbar gewesen war. Darüber, wie langsam er sprach. Darüber, wie leise er sprach. Darüber, wie schwer ihm das Sprechen zu fallen schien. Darüber, dass er so extrem schwitzte – er neigte eigentlich nicht dazu. Darüber, dass er nicht überzeugend erklärte, was los war. Dass er nicht angerufen hatte. Dass er mich zur Begrüßung nicht geküsst hatte. Über alles, was an diesem Abend bis jetzt geschehen war, war ich verwundert. Und, das wusste ich natürlich auch, ich war, nach der Flasche Wein, die ich intus hatte, weit entfernt davon, nüchtern zu sein. Meine Gefühle und Gedanken bewertete ich daher nur bedingt als tauglich und war mir dessen bewusst, dass ich am nächsten Morgen unter Umständen (und hoffentlich!) alles in einem ganz anderen Licht sehen würde. Im Moment war ich es zufrieden, eine schlichte, gleichzeitig plausible und einleuchtende Begründung zur Hand zu haben: Dass er einfach nur sehr müde war und jetzt duschen wollte, schien alles zu erklären und bot sich ebenso als hervorragende Entgegnung auf meine Verwunderung an wie auf die unterschwellige Beunruhigung, die sich hinter ihr verbarg und die ich lieber nicht wahrhaben wollte. Ich nickte also nur stumm und sah zu, wie Jannik sich ins Bad schleppte. Dann räumte ich die Essensreste zur Seite, lüftete das Zimmer und wartete darauf, dass er wiederkam.

Nach einer knappen Viertelstunde ging ich ihm nach. Mir war ein neuer Gedanke gekommen. Jannik hatte es noch nicht unter die Dusche geschafft, war mühsam damit beschäftigt, sich zu entkleiden. Ob er überhaupt schon etwas gegessen habe, fragte ich, und er legte den Kopf schräg, als müsse er überlegen.

»Nein«, antwortete er schließlich.

Ich war beinahe froh darüber, weil ich jetzt erstens etwas Sinnvolles zu tun und zweitens eine weitere stichhaltige Erklärung für diese ganze seltsame Situation hatte: Jannik brütete eine Grippe aus und war vollkommen unterzuckert! Ganz einfach. Großartig!

»Ich hol was!«, rief ich, ließ die Badezimmertür zufallen, schnappte mir meine Tasche und sprang, fast schon wieder gut gelaunt, hinunter auf die Straße. Die frische Luft tat gut. In ordentlichem Tempo joggte ich zwei Mal um den Häuserblock, bevor ich erneut Wein, Wasser und Tapas erstand. Als ich zurückkehrte, duschte Jannik immer noch. Wieder deckte ich den Tisch und wartete – erneut … Überhaupt, ging es mir durch den Kopf, habe ich lang nicht mehr so viel gewartet wie heute.

Wenn du gewusst hättest, denke ich manchmal bei der Erinnerung an diesen Moment, wenn du gewusst hättest, dass du gerade erst anfingst zu warten und dass du noch ganz, ganz anders warten würdest – ja, dass du an jenem Abend nicht die blasseste Ahnung davon hattest, was Warten wirklich heißt.

Schließlich tauchte Jannik wieder auf. Er sah ein bisschen besser aus. Immer noch müde, aber sein Atem pfiff nicht mehr, er hatte ein wenig Farbe im Gesicht, und sein Lächeln hatte nichts mehr mit einer Gespensterfratze zu tun. Beinahe sah er wieder aus wie Jannik. Ich goss ihm Wein ein, schob ihm den Teller mit Tapas hin. Er setzte sich neben mich aufs Bett, legte mir den Arm um die Schultern und küsste mich. Endlich!

Während er Gambas mit Aioli aß, wiederholte er, wie leid ihm das alles tue, dass er nicht wisse, woher die bleierne Müdigkeit mit einem Mal komme, dass der Arbeitstag eigentlich ein erfolgreicher, nur so unendlich anstrengend gewesen sei, warum, sei ihm selbst nicht klar, und dass er diesen verlorenen Abend wiedergutmachen werde. Ich weiß noch, dass ich ihn immerhin fragte, ob er sich krank fühle. Er lächelte beruhigend und schüttelte leichthin den Kopf.

»Müde«, wiederholte er, »einfach nur müde.«

Ein bisschen wehmütig, weil ich mich so auf den Sex gefreut hatte, aber im Grunde schon wieder besänftigt, floskelte ich: »Also, dann schläfst du dich jetzt richtig gründlich aus, erholst dich ordentlich, und morgen bist du wieder ganz der Alte.«

Jannik nickte. Er aß. Er trank. Genau genommen müsste ich sagen, dass er langsam nickte, sehr langsam aß und ziemlich schnell trank. Schließlich ging er ans Fenster und rauchte. Irgendwann standen wir im Bad, putzten Zähne, und ich hatte mich auf eine Art, die sich sanft, friedlich und nachgiebig anfühlte, damit abgefunden, dass wir jetzt schlafen würden. Aber dann zog er mich auf dem kurzen Weg ins Bett plötzlich an sich. Er küsste mich lang und fordernd. Schlagartig war ich wieder hellwach und jubilierte innerlich: Endlich war dieser seltsame Zwischenfall vorbei und alles wieder gut. Endlich war Jannik wieder Jannik und die Welt, meine, seine, unsere, war wieder in Ordnung.

Wir schliefen miteinander. Es war seltsamer Sex. Ich konnte Jannik nicht richtig fühlen. Er lag unter mir, auf mir, neben mir, aber es fühlte sich die ganze Zeit so an, als sei er gar nicht anwesend. Er hielt die Augen offen, er sah mich an, er schloss sie, er atmete heftig, dann wieder ruhig, aber auf eine unbestimmte Art war es, als täte er all das an einem weit entfernten Ort, an dem ich nur virtuell anwesend war. Es war beinahe unheimlich. Immer noch hatte die Situation etwas Gespenstisches. Jannik selbst schien, ganz ähnlich, weder mich noch sich selbst richtig spüren zu können. Er tat mir nicht weh, aber er wirkte unbeholfen, klobig, tollpatschig und sehr, sehr fremd. Nie hatte ich ihn so erlebt.

Was dann geschah, war einfach nur noch traurig: Wir brachten es irgendwie hinter uns. Zwei dahinflutende Einzelwesen, verloren im grenzenlosen Raum eines Hotelbetts. Auch das auf eine Art unglaublich banal, in tausend Romanen erzählt, in unzählbaren Lieben passiert. Nur ist es eben doch immer ganz anders und viel bitterer, wenn es einem selbst und in der Wirklichkeit passiert. Ich weiß noch, dass ich beim Einschlafen weinte – aus Verwirrung, Enttäuschung und Einsamkeit. Und ich weiß, dass Jannik, der doch so unendlich müde war, wach lag neben mir, still und fern, als ich wegdämmerte.

Das ist das Perfide der Depression. Sie ist schon überall. Sie nistet längst in allen Ecken. Sie dirigiert alles, was geschieht. Sie tut es schon lang, fast so lang, wie der Mensch lebt, den sie in ihren Fängen hat: unbemerkt, lautlos. Und irgendwann beginnt sie, sich zwischen zwei Liebende zu schieben: wie eine Wand aus Panzerglas, die niemand sieht. Sie kommt getarnt. Sie kommt verkleidet als Anzeichen einer Grippe, die dann aber nie ausbricht. Sie kommt als anhaltende Müdigkeit, als dauerndes Schlafbedürfnis und als unbekannte Gereiztheit. Sie kommt als Fahrigkeit, Vergesslichkeit und als schmerzhafte Distanz. Sie kommt auch als Angst. Als große, stumme, nie ausgesprochene Furcht davor, das Haus zu verlassen, mit Menschen zu sprechen, eine Aufgabe zu übernehmen, eine Entscheidung zu treffen, ein Gespräch zu beginnen, denn all das könnte dazu führen, noch umfänglicher ausgeliefert zu sein: einer Situation nämlich, die zu weiterer, noch größerer, noch tieferer, noch unerträglicherer Erschöpfung, zu noch entsetzlicherer Dysfunktionalität führen könnte. Die Depression webt ihr Netz aus haarfeinen Rissen in jeden Winkel der Beziehung, und das Paar erkennt sie nicht.

Kriechströme

Am nächsten Morgen fuhren wir erst spät los. Jannik war kaum hochgekommen. Ich hatte alleine gefrühstückt, an der Rezeption um ein Late Check-out gebeten, einen Spaziergang gemacht und unser ursprünglich geplantes Vormittagsprogramm durch fortgesetzte Lektüre ersetzt. Als wir schließlich aufbrachen, war Jannik lang noch nicht ausgeschlafen und ziemlich reizbar. Wieder etwas, das ich von ihm überhaupt nicht kannte. Er schlief im Taxi auf dem Weg zum Flughafen. Er verschlief die meiste Zeit, die wir in der Wartehalle verbrachten. Er verschlief den ganzen Flug samt Landung. Und war danach so müde wie vorher. Wenn er zwischendurch kurz wach gewesen war, hatte er meine Hand genommen, etwas Freundliches gemurmelt und dabei abwesend gewirkt. Ein Gespräch war gar nicht erst aufgekommen. Dabei hatten wir doch eigentlich immer irgendetwas zu ›bequasseln‹ gehabt, und ich hatte mich an das seltene Geschenk gewöhnt, stets einen aufmerksamen Zuhörer und einen sowohl klugen als auch witzigen Gesprächspartner um mich zu haben. Der aber schien verschwunden. Es hatte schon längst begonnen: Jannik saß neben mir, hielt sogar meine Hand, und ich vermisste ihn schmerzlich.

Zum ersten Mal, seitdem wir ein Paar waren, trennten wir uns nach der Heimreise. Abends saß ich – wieder mit einem Glas Rotwein – in der Badewanne und pendelte, wie bereits den ganzen Tag lang, munter zwischen Enttäuschung, Sorgen, Selbstmitleid, Beschwichtigungen und mittelschweren Wutanfällen hin und her.

»Das«, sagte meine Freundin Paula, »kommt in den besten Familien vor. Stell dich nicht so an, der hat halt grad Stress. Kein Wunder bei der Masse an Arbeit und der dauernden Reiserei.«

Jannik arbeitete als Webentwickler für eine ganze Reihe großer Firmen und unterhielt eine Bürogemeinschaft mit Benjamin, einem ehemaligen Kommilitonen. Die beiden hatten sich gleich im ersten Studiensemester kennen- und mögen gelernt und nach dem Diplom auch beruflich zusammengetan.

»Wir wissen doch alle«, Paula war nicht nur in Fahrt, sondern auch sehr überzeugt von ihrer Sicht der Dinge, »dass Jannik dich auf Händen trägt und hingebungsvoll liebt. Das wird schon wieder, – wenn! – du dich jetzt nicht in eine lästige Zicke verwandelst.«

So frauenverachtend sie daherkamen, so sehr liebte ich Paulas humorige, knappe und überzeugte Ansagen. Ich plätscherte mit den Zehen im Badewasser, nickte bedächtig, während ich ihr zuhörte, und entspannte mich. Sie hatte vollkommen recht. An der Schraube konnte ich drehen: Ich würde nicht zur Zicke werden. Ich würde dem Mann ein bisschen Zeit für Erholung geben. Ich würde seinen Freiraum nicht einschränken – mein eigener war mir schließlich auch so einiges wert. Und im Handumdrehen würde ich wieder Prinzessin Alina, die heiß begehrte und glückliche Liebste von Jannik Küster, dem einfühlsamen, liebevollen, gut verdienenden Bringer im Bett, sein.

Allerdings scheint es, dass mich diese Sicht der Dinge in diesem Moment zwar ausgesprochen erleichterte, ich ihr aber nicht so ganz über den Weg traute. Sehr gut erinnere ich mich nämlich daran, dass ich – noch in der Badewanne – beschloss, Jannik insgeheim eine Frist zu setzen. Bis dann und dann: okay. Danach gibt’s Ärger! Die letzten vierundzwanzig Stunden hatten empfindlich an meinem Selbstwertgefühl gekratzt, und ich war fest entschlossen, es wieder aufzupäppeln. Mit sechs Wochen fiel die Frist, wie ich fand, sehr großzügig aus. Und tatsächlich stellte sich heraus, dass es nicht ganz einfach für mich war, sie durchzustehen. Zwar rappelte sich Jannik nach und nach wieder auf und ich konnte ›meinen Prinzen‹ manchmal wieder erahnen, aber sein zuvorkommendes Wesen, seine Freundlichkeit und Aufmerksamkeit fransten an den Rändern immer wieder aus und schienen gleich im Ansatz zu zerbröseln wie trockenes Laub oder sehr altes, sehr dünnes Papier. Zurück blieb immer häufiger ein stumpf wirkender Jannik, der nicht recht zu wissen schien, was er da tat, was er fühlte oder gar wollen könnte. Ein Jannik, der sich selbst mit einer beinahe gleichgültigen Verwunderung zu betrachten schien und sich nach jedem seiner schwachen Impulse von Zuneigung mir gegenüber bald wieder sanft und wortlos abwandte. Wenn ein Bett oder ein Sofa in der Nähe standen, legte er sich dann hin und war für Stunden nicht ansprechbar. Waren wir draußen unterwegs, setzte er sich auf eine Bank, lehnte gegen eine Häuserwand, bekam Schweißausbrüche und murmelte, ihm sei schlecht, er müsse nach Hause. Einladungen zu Freunden folgte er nicht mehr, sagte weder zu noch ab. Sein Handy lud er nur noch sporadisch auf und ließ es immer stumm geschaltet.

Eisern zwang Jannik sich damals weiterzuarbeiten. Benjamin störte sich nicht an den veränderten Arbeitszeiten seines Bürogenossen. Jeder der beiden hatte seine eigenen Kunden, seine eigenen Aufträge, seine eigenen Schwerpunkte, auch wenn sie für den Fiskus als Firma fungierten, in der beide angestellt waren. Als ich ihn auf Janniks nächtliches Arbeiten ansprach, grinste er nur: »Das ist doch ganz normal! Wenn du wüsstest, wie viele Informatik-Nerds die Nacht zum Tag machen. Glaub mir, ich bin selbst einer. Ich weiß, wovon ich rede.«

»Jannik ist doch kein Nerd«, gab ich erstaunt zurück, löste damit aber bei Benjamin nur erneutes, noch breiteres Lächeln aus.

»Ist er wirklich nicht!« Mich ärgerte sein herablassendes Gehabe. »Normalerweise geht er regelmäßig joggen. Er hat viele Freunde, und die meisten von ihnen sind keine Informatiker. Er geht gern ins Kino. Er verreist gern. Er kocht gern. Er interessiert sich für Politik, für Umweltschutz, und er macht, soweit ich gehört habe, sogar Musik. Das hat doch mit Nerdsein überhaupt nichts zu tun!«

Darauf zuckte Benjamin nur mit den Schultern, und ich beließ es dabei. Von ihm war in dieser Sache – und wie sich bald herausstellen sollte, nicht nur in dieser – keine Hilfe zu erwarten.

Mir gefiel Janniks anhaltendes nächtliches Arbeiten überhaupt nicht. Es hatte zur Folge, dass er nun tatsächlich ganze Tage verschlief und dass die Zeiträume, in denen wir uns sehen konnten, immer enger wurden. Nur nachts, rechtfertigte er sich, hetze ihn keiner und wolle niemand etwas von ihm. Nur nachts schrille kein Telefon, würden keine Briefe ausgetragen, kämen keine E-Mails in die Box. Nur nachts habe er genug Ruhe, um vernünftig arbeiten zu können. Und denken … und überhaupt … sein zu können.