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Dottie Engels ist alleinerziehende Mutter – und im Amerika der Siebzigerjahre ein Star am Comedian-Himmel. Sie hat sich selbst zur Marke gemacht, reißt auf der Bühne Witze über ihr Übergewicht und ist damit zum Publikumsliebling avanciert. Ihre Töchter Opal, 11 Jahre alt, und Erica, 16, sehen ihre Mutter, die zwischen Las Vegas, L. A. und ihrem Zuhause in New York hin und her jettet, häufiger im Fernsehen als im echten Leben. Für beide ist es nicht leicht, einzig am Rande des Glamourdaseins ihrer Mutter vorzukommen: Vor allem Erica reagiert mehr und mehr mit Ablehnung auf Dottie. Und während Opal und sie ihren Weg zu finden suchen, geht es mit Dotties Karriere langsam bergab. Die miteinander fremdelnden Schwestern müssen zusammenhalten, um die Krise ihrer Mutter und der ganzen Familie zu bewältigen.

Mit viel Liebe für ihre Figuren zeichnet Meg Wolitzer das Porträt einer unkonventionellen Familie, erzählt vom Erwachsenwerden, dem Leben als Mutter und verhandelt Themen wie Körperlichkeit und weibliche Identität.

autor

© Nina Subin

MEG WOLITZER, geboren 1959, veröffentlichte 1982 den ersten von zahlreichen preisgekrönten und erfolgreichen Romanen. Viele ihrer Bücher standen auf der New-York-Times-Bestsellerliste. Bei DuMont erschienen die SPIEGEL-Bestseller ›Die Interessanten‹ (2014) und ›Das weibliche Prinzip‹ (2018) sowie ›Die Stellung‹ (2015), ihr Roman ›Die Ehefrau‹ (2016), der mit Glenn Close in der Hauptrolle verfilmt wurde, und zuletzt ›Die Zehnjahrespause‹ (2019).

MICHAELA GRABINGER arbeitet seit 1985 als Übersetzerin. Zu den von ihr übersetzten Autor*innen zählen u. a. P. D. James, Michael Crichton, Elif Shafak, Tan Twan Eng, Jeanette Winterson und Anne Tyler.

Meg Wolitzer

Das ist dein Leben

Roman

Aus dem Englischen
von Michaela Grabinger

www.dumont-buchverlag.de

 

 

 

 

 

 

 

Für Richard Panek, in Liebe

TEIL I

Eins

Das Hyperventilieren hatte sie von ihrer Schwester gelernt. Wieder und wieder saßen sie einander gegenüber auf dem Bett und hechelten wie die Paare in den Geburtsvorbereitungskursen. Kurz bevor sie nicht mehr konnten, kam es zu der charakteristischen Ohnmacht. Der letzte Sauerstoff wich aus dem Gehirn, die Zellen starben massenhaft ab. Eines Tages machte Erica Schluss damit. Sie habe keine Lust mehr, es gebe Wichtigeres zu tun. Plötzlich waren die Wände in ihrem Zimmer mit Postern tapeziert. Riesige körperlose Köpfe von Folksängern starrten auf Bett und Kommode hinunter. Aus den Lautsprechern der Stereoanlage schallten die wie unter Wasser aufgenommenen Songs tremolierender Soprane über mittelalterliche Waldnymphen und ermordete Arbeiterführer. Dabei waren die Sechzigerjahre längst Geschichte, und die LPs stammten sämtlich aus Ramschkisten. Auf Buffy Sainte-Maries Gesicht klebte ein großer orangefarbener 99-Cent-Sticker.

Ericas Zimmer füllte sich mit Dingen, die sich angenehm anfühlten, mit denen man herumspielen und an denen man riechen konnte. Ständig brannte irgendetwas in einer Schale vor sich hin. Einmal kaufte sie einem weiß gekleideten Mann in der Subway Räucherstäbchen ab und las hinterher entsetzt, was auf dem Zettel stand, den er ihr sanft in die Hand gedrückt hatte:

Danke für den Kauf der Patschuli-Räucherstäbchen »Lieblich«.

Mit deinem Beitrag förderst du den KAMPF gegen den Aufstieg des Weltjudentums.

Die Räucherstäbchen brannten trotzdem. Opal atmete den Mief im Zimmer ihrer Schwester ein und dachte wehmütig an das gemeinsame Hyperventilieren, mit dem es nun leider vorbei war. Wenn sie früher im Schneidersitz auf Ericas Bett gesessen und immer schneller geatmet hatten, waren für Opal die ersten Sekunden am aufregendsten gewesen. Erica hatte die Regel eingeführt, dass die Augen geschlossen zu bleiben hatten, doch hin und wieder blinzelte Opal unter einem Lid hervor und beobachtete, wie ihre Schwester heftig mit den Schultern zuckte und nach Atem rang. Ein verwirrender Anblick, der aber dazugehörte. Erica sah aus wie ein großes Meerestier, das auf ein Stück Fels gespült worden war, und Opal war die kleine Schwester dieses Tiers. Wäre in dieser Situation jemand ins Zimmer gestürmt, hätte er etwas völlig Verrücktes gesehen: zwei Mädchen, die nach Luft japsten, obwohl davon wahrlich genug vorhanden war. Doch es stürmte nie jemand herein; selbst die Babysitter wahrten wohlweislich Abstand. Manchmal hörte Opal einen oder eine von ihnen im Wohnzimmer proben. Sie hatte sich an die in der Ferne murmelnden Stimmen gewöhnt, an das Auf und Ab der Wortfetzen, und achtete kaum noch darauf. Das Zusammensein mit ihrer Schwester war wichtiger: nur sie beide und das Atmen und das Umkippen.

Eines Abends glaubte Opal beim Hyperventilieren ganz ernsthaft, sie wäre gestorben, abgeglitten in einen engen, dunklen Bereich, in dem sie auf ewig gefangen sein würde. Er ähnelte allen Verstecken, die sie jemals in der Wohnung gefunden hatte: dem Spalt hinter dem Kühlschrank etwa, in den man sich zwängte, um  dann an die Kabel und die brummenden Kühlschlangen gepresst zu verharren, bis man entdeckt wurde. Und entdeckt wurde man immer, das stand fest. Doch jetzt und hier glaubte sie nie wieder hinaus-, nie wieder zu sich zu kommen. Sie konnte sich nicht bewegen, nicht einmal die Augen öffnen.

Gute Nacht, dachte sie, gute Nacht. Sie erinnerte sich an Charlottes Kinder, wie sie am Ende von Wilbur und Charlotte in ein neues, eigenes Spinnenleben sprangen und auf dem Wind segelnd Abschied von Wilbur nahmen. Das hatte sie ebenso zum Weinen gebracht wie ein paar Seiten zuvor Charlottes Tod. Dass man weinte, wenn jemand wegging oder starb, war klar. Aber das hier war noch schlimmer; Opal trauerte um sich selbst. In ihrem Hosenrock, mit Kniestrümpfen und Haarreif würde sie entdeckt und von den Armen eines unbekannten Erwachsenen sanft aufgehoben und hinausgetragen werden.

In diesem Moment griff Erica nach ihr und schüttelte sie.

»Erde an Opal«, sagte sie, woraufhin Opal die Lider aufschlug wie eine Puppe. »Du hättest dich sehen sollen!«, fügte Erica hinzu, aber ihre Stimme war sanft.

Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Nachdem die Schwestern Atem geschöpft hatten, gingen sie in die Küche, um Essen zu besorgen. In der Wohnung hielt sich zu nicht näher bestimmten Betreuungszwecken ständig ein Babysitter auf. Wenn Ericas und Opals Mutter weg war, wechselten sich eigens engagierte junge Comedians mit der Aufsicht über die Mädchen ab, Männer und Frauen, die sie in den diversen Comedy Clubs der Stadt aufgetan hatte. Sie zahlte anständig und gab ihnen nicht nur eine Bleibe, sondern auch die Möglichkeit, zu telefonieren und sich in einer mit interessanten Lebensmitteln bestückten Speisekammer zu bedienen. Die Wohnung war nie leer; immer hörte man im Hintergrund einen Babysitter wie besessen eine Nummer einstudieren. Diese Leute waren wie extrem lockere jugendliche Eltern, die einen tun und essen ließen, was man wollte.

Danny Bloom, der an diesem Abend für eine insgesamt drei Tage umfassende Schicht eingeteilt war, kam aus dem Wohnzimmer und fragte, ob Erica und Opal etwas bräuchten. Er war Ende zwanzig, sehr dünn, mit einem Körper wie ein Stück gebogener Draht und einem Ericas und Opals Mutter zufolge stark bewegungsbetonten Humor. Auf der Bühne des Laff House, wo sie ihn entdeckt hatte, hampelte er ständig herum.

»Alles gut bei euch?«, fragte er.

»Ja, alles bestens«, antworteten die Mädchen wie aus einem Mund.

»Dann probe ich noch ein bisschen, bis die Sendung beginnt. Sie bringt heute lauter neue Sachen, hat sie gesagt.«

Nachdem er wieder im Flur verschwunden war, machten sich Erica und Opal Wagenradnudeln und Cracker mit Marshmallowcreme. Sie aßen schweigend. Dann wurde es Zeit für die Hausaufgaben. Gedankenverloren blätterten sie eine Weile in ihren Büchern herum. Bilder aus der Kolonialzeit zogen an ihnen vorbei, Frauen in langen Gewändern, die kerzengerade und mit geschäftigen Händen vor Butterfässern standen. Alle paar Minuten hoben die Mädchen den Blick und sahen auf die Uhr. Um zwanzig nach elf trug Erica den Fernseher hinein, und Opal schob die Drehstühle dicht an den Bildschirm heran. In der Ofenwärme der Küche und im Schein des weichen, körnigen Bildschirmlichts warteten sie auf den Auftritt ihrer Mutter.

Opal verfolgte den langen Werbeblock, als wäre er die Eröffnungsnummer. Es war schon komisch, man wusste immer genau, was sie einem verkaufen wollten, ohne sich auf die einzelnen Spots konzentrieren zu müssen. Opal liebte Fernsehen und saß so oft vor dem Bildschirm, wie sie nur konnte. Die Sendungen selbst erforderten Aufmerksamkeit, doch wenn die Werbung kam, die Musik ständig wechselte, der Kaffee aus der Tasse schwappte und die Waschmittelflasche wie lebendig zu tanzen begann, ließ sie die Gedanken wandern.

Sie grübelte dann über all die Dinge, die sie beschäftigten, und schwang dabei im Rhythmus der Musik auf ihrem Stuhl hin und her. Sie dachte an die Menschen, die sie verehrte: ihre Mutter, ihre Schwester und Miss Hong, die neue Kunstlehrerin. Ein paar Jahre zuvor hatte sie für Micky Dolenz von den Monkees geschwärmt. Micky zu lieben, war ziemlich schlau gewesen, denn alle anderen hatten Davy Jones geliebt, und die Chancen, den zu kriegen, schienen bestenfalls gering. Da war es wesentlich realistischer, Micky mit dem verwaschenen Gesicht und den schmalen Äuglein erobern zu wollen. Keine außer ihr nahm Micky ernst. Alle flogen auf Davys natürlichen Charme, seinen weichen britischen Akzent, seine zarte Haut. Opal blieb geduldig und hängte ihre Theorie nicht an die große Glocke. Sie dachte ständig an Micky, überlegte, wie spät es gerade in Kalifornien war, und fragte sich, ob ihn die vielen Briefe frustrierten, die Davy bekam. Doch im Lauf der Monate verebbte ihre Begeisterung. Sie dachte immer weniger an ihn, und die Liebe zu ihm verflog. Allein aus eigener Entscheidung, ohne dass Opal gebremst worden war, so wie einige Mitschülerinnen, die versucht hatten, sich in Hotelzimmer oder beim Westbury Music Fair hinter die Bühne zu schleichen. Sie hatte sich selbst gebremst, und plötzlich war sie über die Sache hinweg.

Ständig veränderte sich alles – wie auf einem Streifen Film raste ein Einzelbild nach dem anderen vorbei. Erst liebte man jemanden, dann schlagartig nicht mehr und stattdessen einen anderen. Mit acht hatte man den Tod einer Spinne beweint, und ein paar Jahre später las man dieselbe Szene mit kaltem, kritischem Blick. Man überlegte, wie E. B. White sie lebensnaher hätte schildern können, und spielte mit dem Gedanken, ihm in einem Brief entsprechende Vorschläge zu unterbreiten.

Kaum etwas im Leben blieb einem lange erhalten. Jedes Jahr stand eine neue Lehrerin vor der Klasse, war die Anordnung der Pulte und Stühle anders, hatte man frische helle Farbe an die Wände geklatscht. Jede Klasse hatte ein Tier, ein Meerschweinchen, das in seinem Glaskäfig döste, während die Schüler die Umrisse der sieben Erdteile durchpausten. Ein ganzes Lebensjahr hindurch sorgte man für das Tier, streichelte sein nervöses Fell und schob Schälchen mit Trockenfutter hinein. War das Jahr um, blieb das Tier im Zimmer der zweiten Klasse, während man selbst in die dritte kam, wo ein neues wartete, wieder ein Nager, der gestreichelt, geknuddelt und mit Wasser und Futter versorgt werden musste.

Der Werbeblock war zu Ende. Als die Titelmelodie erklang, stürmte Danny Bloom in die Küche und setzte sich hinter Opal auf die Arbeitsfläche. Nach dem Eingangsmonolog wurde ein bisschen herumgewitzelt, und dann kam Opals Mutter auf die Bühne. Vor dem Panorama der Skyline saß sie zwischen Johnny und Ed und füllte mit raumgreifenden Gesten den ganzen Bildschirm aus. Die Männer verschwanden, wurden verschluckt, und selbst die Skyline lag plötzlich im Schatten. Übrig blieben ein Meer aus getüpfeltem Stoff – dem Markenzeichen ihrer Mutter – und das wehrlose Gelächter der Studiozuschauer, die lachten und lachten, als würden sie nie wieder aufhören. Das muss mit »Lachkrampf« gemeint sein, dachte Opal.

»Gut, dass sie heute als Erste auftritt«, sagte Erica. »Beim letzten Mal kam vor ihr diese Sea-World-Frau mit ihren Tieren, und Mom hatte nur vier Minuten.«

Seit damals war einiges anders geworden. Jetzt durfte sich ihre Mutter als Erste auf dem noch kalten Stuhl neben dem Schreibtisch niederlassen. An diesem Abend war sie außer Rand und Band, überlebensgroß und alles überstrahlend. Meine Mutter, der Mond, dachte Opal. Meine Mutter, die Explosion. Wie gebannt starrte sie hin, unsterblich verliebt in ihre Mutter, wie das halbe Land. Alle wollten ihr begegnen, mit ihr reden, ihr irgendwie nahe sein.

»In Kalifornien ist es am schlimmsten«, hatte Opals Mutter erzählt. »Da lauern sie mit dem Autogrammalbum in der Hand. Da rechnen sie geradezu damit, auf Prominente zu stoßen. Sie sprechen dich direkt an und betatschen dich wie im Streichelzoo.« Doch es war klar, dass sich Opals Mutter an diesem Verhalten nicht sonderlich störte, sondern die Berührungen Fremder, im Gegenteil, durchaus genoss. In Opals Vorstellung schwebte sie in Los Angeles auf einer palmenbestandenen Straße dahin, während von allen Seiten Hände nach ihr griffen, um ihre Wange, ihr Haar, den Saum des getüpfelten Ärmels zu berühren.

Opal war noch nie in Kalifornien gewesen. »Ihr zwei bleibt erst mal in New York und versucht, ein normales Leben zu führen«, sagte ihre Mutter. »Ich will nicht, dass ihr ständig Unterricht versäumt und irgendwann hinterherhinkt. Es ist zwar keine ideale Lösung, aber die Babysitter passen gut auf euch auf, und ihr könnt mich jederzeit anrufen.«

Opal bettelte immer wieder darum, mitkommen zu dürfen, doch die Antwort fiel immer gleich aus. »Bald«, hieß es. »Bald, ich versprech’s dir.«

Wann genau war »bald«? Das Wort stand für jeden beliebigen Zeitpunkt; es war unklar und wechselte ständig die Form.

»Ich bin bald wieder aus L.A. zurück«, sagte Opals Mutter, wenn sie vor ihrem Schrank stand und mit ihrer Assistentin Cynthia Kleider aussuchte. Cynthia tendierte immer zu den schrillsten, mit den meisten Pailletten besetzten Sachen. Dann vergingen ein, zwei Wochen, in denen der diensthabende Babysitter Opal morgens mechanisch die Zöpfe flocht und die Lunchbox füllte. Bald, bald, sagte die Stimme, diesmal am Telefon. Doch selbst über die Fernverbindung klang sie so wohltuend und überzeugend wie die eines Hypnotiseurs.

Irgendwann kam ihre Mutter tatsächlich zurück. Manchmal mitten im New Yorker Winter, wenn der Schnee in zerklüfteten Haufen die Straßen säumte. Dann hielt die Limousine am Bordstein, der Portier eilte hinaus, und Dottie entstieg dem Wagen, ein einziges mattes, fleckiges Westküsten-Pink. Die Haut an ihrer Nase schälte sich, und der Koffer beulte sich wegen der vielen mitgebrachten Zitrusfrüchte. Kalifornien erschien Opal wie eine abgelegene tropische Insel, ganz anders als New York, wo es tagelang schneite und die Welt fest im Griff eines scheinbar ewigen Winters war. In Opals Fantasie-Kalifornien wurden auf einer Terrasse über dem Meer Papayascheiben gereicht, und das ständige Kameraklicken ringsum klang wie Grillengezirp. Bald würde sie auch dort sein. Doch dieses »Bald« zog sich endlos hin.

Im ersten Jahr ihrer frisch erlangten Berühmtheit blieb Opals Mutter noch ganze Wochen am Stück zu Hause, ruhte sich aus oder stand in New Yorker Comedy Clubs auf der Bühne. »Hier ist es so viel besser«, sagte sie, wenn sie sich für einen solchen Abend in New York fertig machte. »Das Publikum ist so viel intelligenter und lacht nicht bei jedem Gag gleich laut. In L.A. klingt alles wie aus der Konserve. Da gieren sie so nach Spaß – man könnte eine Anleitung zur Mundhygiene vortragen, sie würden genauso losprusten. Nein, ihr sollt hier leben und nicht drüben in Disneyland.«

Manchmal setzte sie sich kurz zwischen ihre Töchter aufs Bett und sagte: »Ich kann nur hoffen, dass ich das Richtige tue. Wer weiß – wenn Gott gewollt hätte, dass ich Komikerin werde, hätte er mich wahrscheinlich Shecky genannt.«

Opal und Erica sahen sich an und lachten höflich. Sie waren alt genug, um fast jeden Witz als solchen zu erkennen und ziemlich schnell auf Pointen zu reagieren. Doch manchmal war sich Opal unsicher, ob ihre Mutter etwas scherzhaft meinte oder nicht. Sie hatte all ihre Späße schon viel zu oft gehört, denn geprobt wurde zu Hause im Schlafzimmer.

»Ihr seid mein Publikum!«, pflegte sie zu sagen, wenn Opal und Erica mit ernsten Gesichtern auf der Bettkante saßen und sich die Nummer ihrer Mutter anhörten, die meist mit Klagen über ihre Körperfülle begann. »Ich habe ein echtes Problem mit meinem Gewicht.« Kopfschüttelnd sah sie an sich hinab. Dann hob sie ruckartig den Blick. »Das liegt bestimmt an diesem fiesen Gen. Ich glaube, es ist das Zum-Kühlschrank-Gen!«

Opal dachte kurz nach, entschlüsselte das kleine Wortspiel und kicherte pflichtbewusst.

»Kräftige Frauen haben es schwer mit der Frauenbewegung«, fuhr ihre Mutter fort. »Als ich meinen BH verbrennen wollte, haben die Nachbarn die Feuerwehr gerufen. Stundenlang wurde gelöscht, und hinterher sagte ein Feuerwehrmann: ›Gute Frau, ich weiß nicht, was für ein Lagerfeuer das gewesen sein soll, aber so riesige Marshmallows habe ich im ganzen Leben noch nicht gesehen!‹«

Wieder lachten Opal und Erica zögerlich, glucksten tief und dunkel wie Trinkwasserspender. Auch ohne deren Bedeutung voll und ganz zu verstehen, war Opal klar, dass es Nuancen der Pointe geben musste, bestimmte auf Humor hindeutende Betonungen, die ihr entgingen. Sie erkannte ihre Unwissenheit und Beschränktheit angesichts dieser wundervollen, grandiosen Mutter bereitwillig an. Opal war ein knochiges Kind und ungewöhnlich klein für ihr Alter. Manchmal nannte ihre Mutter sie »mein Ektomorphlein« und strich ihr über die Nackenhärchen, sodass Opal reflexhaft die Schultern hochzog.

Am liebsten mochte Opal die eigens für bestimmte Nummern geschriebenen Parodien von Musicalsongs. Während ihre Mutter auf der Bühne von Klavier, Bass und Schlagzeug begleitet wurde, war ihre Stimme im Schlafzimmer ganz auf sich gestellt. Sie besaß, anders als man erwartet hätte, keine dröhnende Stimme, sondern einen mädchenhaften Sopran, der sich den hohen Tönen mit so viel Tremolo näherte, als streckte er sich nach einem zerbrechlichen Gegenstand ganz oben im Regal.

»So, ihr zwei, jetzt kommt etwas aus West Side Story. Die Melodie stammt von dem Song ›Maria‹. Den müsstet ihr zwar eigentlich kennen, um die Parodie zu verstehen, aber hört es euch bitte trotzdem an.« Sie zupfte kurz am Kragen ihres Rollis und begann zu singen.

»Der wohl herrlichste Ton, der je erklang/Pastrami, Pastrami, Pastrami, Pastrami/Sag es laut, und das Messer sägt los/Sag es leise, mein Hunger ist groß/Pastrami/Da drin liegt ein Kilo Pastrami …« Sie brach ab, hielt sich den Bauch und verdrehte die Augen. Opal lachte als Erste, Erica Sekunden später.

»Sehr gut, das gefällt euch also! Gleich noch eins. Das ist aus My Fair Lady.« Sie räusperte sich und begann zu singen: »Ich hätt’ geschlemmt heut Nacht/die ganze Nacht heut Nacht/So gern und noch viel mehr.«

Danach schlüpfte sie in verschiedene Figuren und begann mit der beliebtesten, Mrs. Pummelman. Es folgten Baby Fifi und schließlich Isadora Dumpster. Indem sie ihr Gewichtsproblem ins Lächerliche zog, hoffte sie, wie sie immer wieder sagte, dem Thema die Sprengkraft zu nehmen. Die meisten Dicken gingen damit anders um. Die Mutter von Opals Schulfreundin Debby Nadler zum Beispiel, eine füllige, sanftmütige Keramikerin, die immer einen roten Arbeitskittel trug und sehr ernst und mit glühendem Gesicht den Hitzeschwällen des Brennofens in ihrem Atelier trotzte. Die Beleibtheit gehörte genauso zu ihr wie ihr künstlerisches Talent, ihre Freundlichkeit und ihre hauchige Stimme. Mrs. Nadler war ein großes Gesamtpaket, das sich nicht auseinandernehmen ließ – man bekam alles oder nichts. Als weiteres Beispiel fiel Opal die Schulkrankenschwester Miss Coombs ein, deren üppige, entspannte Präsenz man dankbar in Anspruch nahm, wenn man erbrochen hatte oder wegen einer Halsentzündung nach Hause geschickt werden musste. Miss Coombs legte den kleinen Patienten auf eine schmale Liege, beugte sich über ihn, sodass nichts von dem grellen Licht im Raum mehr durchkam, breitete einen Waschlappen über die Kinderstirn und strich ihn mit ihren schweren Händen glatt. Miss Coombs wie Mrs. Nadler trugen ihr Gewicht mit sich herum, ohne ständig darauf anzuspielen, und jeder wusste, dass man sich nicht darüber lustig machen oder es auch nur erwähnen sollte. Man riss keine Witze über die dicke Mutter eines anderen Kindes – die musste sich, wie Opals Mutter, schon selbst veräppeln –, doch in der Schule auf ein Mädchen zuzugehen und seelenruhig »Sorry, aber du bist potthässlich« zu sagen, war sehr wohl möglich. Auch wenn die Worte ewig an dem Mädchen nagen würden.

Opal kassierte nie solche Bemerkungen. Sie war schon jetzt beliebt, gut in Sport und fix beim Buchstabieren. Hin und wieder zeigte sich ein leicht grausamer Zug in ihr, der alle, und sie selbst am meisten, überraschte. Er tauchte aus heiterem Himmel auf, schmerzlos, wie nächtliches Nasenbluten. Gelegentlich stellte sie sich nach Unterrichtsschluss im Garderobenraum zu den anderen, die einen engen Kreis um irgendein bedauernswertes Mädchen gebildet hatten. Einmal gingen sie sogar so weit, sich gegen eine neue Austauschschülerin aus Seoul zu verbünden, die nicht im Entferntesten ahnte, welche Gemeinheiten ihr im fiesesten Tonfall entgegenschleudert wurden.

Opal hielt sich abseits und murmelte etwas vage Beleidigendes, das niemand hörte. Sie musste nicht viel tun, um beliebt zu sein. Begonnen hatte es, als sie die ganze Klasse zur Live-Sendung eines Morgenmagazins mitnahm, in der ihre Mutter auftrat. Verschlafen saßen die Kinder bei Sonnenaufgang im Kabelsalat auf dem Boden und verhielten sich so mustergültig, dass ein Kameramann zu ihnen ging und sagte, sie könnten jederzeit wiederkommen. Den restlichen Schultag hindurch wurde Opal von ihren Mitschülern geradezu mit Ehrfurcht behandelt. In der großen Pause war sie der Mittelpunkt am Tisch; man bot ihr Sandwichhälften und Mandarinen an, und Alison Prager erklärte, wenn sie wolle, dürfe sie mal auf ihrer Oboe spielen.

Seitdem arrangierte Opal hin und wieder strategische Gastauftritte in der Schule. Am Carnival Day scharten sich alle um die Bude mit ihrer als Zigeunerin verkleideten Mutter, während die anderen Mütter in den Hintergrund rückten. Frauen in Clownskostümen liefen ziellos herum und rauchten heimlich in stillen Ecken. Peter Greens Mutter saß knochentrocken auf dem Brett über dem selbst gebauten Tauchbecken und wartete darauf, von irgendwem ins Wasser befördert zu werden, doch keiner hatte Lust.

Anders als von Opals Mutter erwartet waren die Kinder gar nicht so sehr darauf aus, sich die Zukunft von ihr prophezeien zu lassen, sondern kamen mit den Bons zu ihrer Bude und forderten kreischend: »Machen Sie Mrs. Pummelman!«, oder: »Machen Sie Baby Fifi!«, und Opals Mutter fügte sich geduldig allen Wünschen.

Als sie wieder zu Hause waren, stellte sich Opal in die Tür und sah zu, wie ihre Mutter das Zigeunerinnenkostüm auszog. Dottie streifte die Strumpfhose von den Beinen und hielt das Knäuel kurz in den Händen, als wollte sie ein Fadenspiel aus Nylon knüpfen. Schließlich ließ sie es fallen, griff sich an den Rücken und öffnete den Reißverschluss des Kleids. Dann entrollte sie den Turban und fischte die in den Haaren versteckten Klemmen heraus. Jetzt trug sie nur noch einen blassgelben Unterrock und zwei kreisrunde Flecken Rouge im Gesicht und wirkte wie ein Teenagermädchen, das nach einem schiefgegangenen Date allein dasitzt. Dass Mädchen in diese Lage geraten konnten, wusste Opal inzwischen, weil sie sich neuerdings Bücher für junge Erwachsene in der Bibliothek auslieh, Bücher mit Titeln wie Wann immer du willst, Die Neue an der Adams High oder Siebzehn und jede Menge Ärger. Manchmal versetzte der Junge in diesen Büchern das Mädchen gleich zu Beginn oder sagte etwas Schlimmes wie: »Du, da kommen meine Freunde. Tun wir so, als wären wir nicht zusammen.« Jetzt wirkte Opals Mutter so traurig und erschöpft, dass Opal nicht weiter hinsehen konnte. Nie zuvor hatte sie je den Blick von ihr abwenden wollen.

Meistens bekam sie gar nicht genug von ihr, so wie jetzt vor dem Fernseher in der Küche. Unbeschwert lachte sie über all die vertrauten Gags. Ihre Mutter haute einen Witz nach dem anderen raus, und die Zuschauer fanden es gut. Ed McMahons Gewieher übertönte das Gelächter der anderen.

Als sich das Publikum wieder eingekriegt hatte, fuhr die Kamera dicht an sie heran, und Opals Mutter sagte: »Jetzt kommt eine Botschaft an meine beiden Töchter in New York.« Im Studio wurde es mucksmäuschenstill. »Opal und Erica, falls ihr das seht, habt ihr ein Riesenproblem. Ihr solltet nämlich längst im Bett sein – morgen ist Schule!«

Es war, als würde Opal sich mit ihrer Mutter über ein Fernsehtelefon unterhalten, ein Gerät, von dem das Schulmagazin My Weekly Reader behauptet hatte, es stünde 1970 in jedem Haushalt. Opal hatte in ständiger Angst vor dem Apparat gelebt, denn was, wenn man gerade auf dem Klo saß, und das Fernsehtelefon begann zu klingeln? Doch das Ganze hatte sich als leere Drohung entpuppt. My Weekly Reader hatte auch die baldige Einführung des metrischen Systems prophezeit und Opal damit ebenfalls einen Schreck eingejagt. Sie stellte sich schon mit Unzen und Inches dumm an – wie dann erst mit Kilos und Metern! Aber auch das war nur Angstmacherei und falscher Alarm gewesen und schließlich in Vergessenheit geraten. Alle hatten sich wieder beruhigt und weitergemacht wie immer. Dottie trat im Fernsehen auf und schickte per Satellit Liebesgrüße nach Osten, und während der Abspann lief und ihre Mutter mit Johnny und Ed und Rita Moreno zusammenstand, als wären sie auf einer Cocktailparty, schlug Opal ihre Decke zurück und schlüpfte ins Bett.

Allein im Dunkeln hörte Opal den Babysitter in der Ferne proben und im Nebenzimmer Ericas Vorbereitungen für die Nacht. Erica machte wie immer viel Lärm, zog Schubladen auf und knallte sie zu, und wenn sie kurz die Tür öffnete, drang ein Fetzen Musik heraus: »… And when will all the killing stop?/We cry into the rain …« Dann wurde die Tür geschlossen, und Opal hörte nichts mehr. Erica hatte in letzter Zeit einen schrecklich depressiven Musikgeschmack, aber so schlief sie eben am liebsten ein. Das waren ihre Wiegenlieder.

Opal drehte sich auf die Seite, rutschte dicht an die Wand und beschwor das Bild ihrer Mutter im Fernsehen herauf, ein pulsierendes Gebilde aus Bewegung und Farbe. Es war aufregend, an die Sendung zu denken, doch nach einiger Zeit wich die Aufregung etwas anderem. Opal sah, wie sich ihr Vater, ihre Schwester und schließlich sie selbst zu ihrer Mutter gesellten, bis die ganze Familie dort oben stand, der eine da, die andere dort, und sie einander wie die flimmernden Lichter der Skyline in der Tonight Show aus großer Entfernung zublinkten.

Nein, dachte sie und nahm eine kleine Änderung vor. Ihr Vater, Erica und sie waren winzige Lichter, ihre Mutter aber etwas ganz anderes: ein Zeppelin, der oben am Himmel von einem Licht zum anderen flog, und alle deuteten auf sie. Unten in der Straße hielten die Autos an. »Schaut mal!«, schrien die Kinder, »schaut, da ist Dottie Engels!«

Während ihre Schwester im Nebenzimmer längst schlief, war Opal hellwach.

Zwei

Als Familie trugen sie den Namen ihres schwächsten Glieds und übersahen jahrelang die Ironie, die darin lag. Sie waren die Engels, benannt nach dem Vater, der immer nur zum Abendessen und zum Streiten aufgetaucht und eines Tages für immer verschwunden war. Dennoch hatten sie seinen Namen behalten. Genau so fühlte es sich wahrscheinlich an, wenn man mit dem Kind eines Mannes zusammenlebte, der einen verlassen hatte und den man inzwischen verachtete. Nach und nach bekommt das Kind die Züge des Vaters, den gleichen teilnahmslosen Blick, den schmalen Mund, den zu füttern unerträglich wird.

Obwohl Engels ein sehr schöner Name war – keiner von den Schrottnamen, die so viele Kinder in der Schule tragen mussten –, beschloss Erica, ihn zu ändern, und teilte das eines Tages Jordan Strang mit, als sie nach dem Unterricht auf einer Bank am Fluss saßen. Es war eigentlich viel zu kalt, um draußen herumzuhocken; trotzdem saßen sie da, sogar ohne Mäntel, und bemühten sich, eine Pfeife am Glimmen zu halten. Ein Pfeifchen eher, vollgestopft mit grünen Marihuanablüten, das Jordan und sie so hastig zwischen sich hin- und herreichten, als absolvierten sie einen Staffellauf. Von den Streichhölzern, die Jordan pausenlos anstrich, brannte wegen des Winds keines länger als eine Sekunde.

»Komm schon, Kleines«, sagte Jordan zu jedem Streichholz. Dabei wirkte er so konzentriert, dass Erica unwillkürlich daran dachte, wie er in Chemie mit dem Bunsenbrenner hantierte. Dort, im Chemieunterricht, hatten sie sich bei einem Experiment mit Kalziumspänen und Waschmittel als Laborpartner kennengelernt und gingen seitdem jeden Tag nach der Schule zum East River hinunter, setzten sich auf eine Bank im Carl-Schurz-Park und versuchten, grünes Marihuana zu rauchen, das sich kaum anzünden ließ.

Jordan und sie fühlten sich den anderen Schülern der Headley High School nicht zugehörig – weder der Armee brav büffelnder, duckmäuserischer Zehntklässler, die den ganzen Tag an ihren Hochschulzulassungstest dachten und ständig Wörter wie »Vernakularsprache« oder »Hedonist« im Mund führten, noch denjenigen in der multiethnischen Schülerschaft, die des Öfteren bekifft wegdösten oder zu kichern begannen, wenn es gar nichts zu kichern gab, oder sich, statt am Unterricht teilzunehmen, in der Konfliktgesprächsgruppe von Miss Klingman einfinden mussten.

Erica und Jordan hausten in einer Art Niemandsland, bevölkert von denen, die unattraktiv, intelligent und den Drogen zugetan waren. Wer dieser Kategorie angehörte, schrieb nachts im abgeschlossenen Zimmer Haikus und verbrachte seine Nachmittage damit, in einem Park am East River ein mickriges Pfeifchen mit kleinen Blüten zu stopfen, vom Wind umtost wie verrückt zu inhalieren und auf das Ergebnis zu warten.

Erica betrachtete Jordans längliches Gesicht und den Flaum über und unter dem Mund, während er krampfhaft an der Pfeife zog und etwas ausstieß, was Rauch zu sein schien, aber wohl eher Atemdampf war. Die Pfeife war aus. Jordan ließ sie in seinen Schoß fallen.

»Und du willst wirklich deinen Namen ändern?«, fragte er.

»Ja.«

»Und wie?«

»Weiß nicht», sagte Erica. »Hab ich mir noch nicht überlegt.«

»Wäre es nicht komisch für dich, wenn nicht mehr alle wüssten, dass du die Tochter von Dottie Engels bist?«, fragte er und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »War das jetzt eine blöde Frage? Würde mich einfach mal interessieren, wie es ist, wenn man berühmte Eltern hat. Meine sind Endokrinologen. Wahnsinnig spannend …«

Der Anflug von Ironie überraschte Erica. Jordan sprach normalerweise völlig monoton, und was er sagte, passte genau dazu. Wenn er von der Schule erzählte, von den Büchern, die er gerade las, von den Urlaubszielen seiner Familie, hörte Erica oft mitten im Satz nicht mehr hin, sondern begann, in Gedanken um ein bestimmtes Wort zu kreisen. Wenn Jordan »Urlaub« sagte, wir fliegen nach New Mexico in den »Urlaub«, dachte sie an ihre Familienurlaube, an Knott’s Berry Farm oder Hershey, Pennsylvania, wo sie mit sechs staunend vor einem riesigen glänzenden Schokoladefass gestanden hatte, und plötzlich war Jordans leiernde Stimme weit weg.

»Findest du es überhaupt gut, dass deine Mutter berühmt ist?«, hakte er nach.

Sie nickte und speiste ihn mit einer Floskel über Licht- und Schattenseiten ab. In der Headley High School gab es eine ganze Reihe Nachkommen berühmter Eltern: Politiker- und Schauspielersprösslinge, auch ein paar Sportlerkinder. Ericas Sitznachbarin in Französisch war die Tochter der schwarzen Schnulzensängerin Minx Janeway. Doch als Tochter von Dottie Engels spielte man noch mal in einer anderen Liga. Als Tochter von Dottie Engels hatte man eine Mutter, die raumgreifend, laut und ständig im Licht der Öffentlichkeit war. Eine Mutter, die auftauchte, wohin man auch blickte, und einen zum Lachen brachte, bis einem übel wurde. So zu lachen, war strapaziös; es war unnatürlich.

Jetzt, mit sechzehn, wusste Erica, dass sie wie Dottie aussah. Sie ging bereits stark in die Breite und gewöhnte sich langsam an den Gedanken, ein Leben als Übergewichtige zu führen. In ihrem runden Gesicht ließen sich Wangenknochen nicht einmal erahnen. Überhaupt wies ihr Körper nichts annähernd Flaches auf. Sie hüllte sich in Schichten aus indisch gemusterten Stoffen – in lange Röcke, Halstücher und Hemden, die an Tagesdecken in Studentenwohnheimen erinnerten. Das in der Mitte gescheitelte Haar hing ihr bis zu den Schultern hinunter und roch wegen des Aprikosenshampoos dauernd nach etwas Essbarem. Sie sah immer gleich aus und roch immer gleich. Morgens nach dem Duschen betrachtete sie sich oft im Spiegel, und wenn sich der Dampf gelichtet hatte, erschrak sie jedes Mal, weil sie sich schrecklich fand. Doch sie gewann die Fassung stets rasch wieder und zwang sich, dem Spiegel den Rücken zuzuwenden und in die Schule zu gehen.

Nach Fernsehauftritten ihrer Mutter wurde manchmal am nächsten Tag darüber geredet. »Wir haben deine Mom gestern in dem Bob-Hope-Special gesehen«, rief Meredith Gertz, während sie mit zwei Freundinnen auf Ericas Spind zutänzelte.

»Schön«, erwiderte Erica und drehte die Rädchen am Schloss, konnte sich aber plötzlich an keine Ziffer mehr erinnern. Sie drehte und drehte.

»Fliegst du manchmal nach L.A.?«, fragte Meredith.

»Nein, nicht wirklich.«

Meredith warf ihren Freundinnen einen Blick zu, der alles sagte. »Und hast du schon mal mit Johnny Carson gesprochen?«

»Nein.«

»Hast du überhaupt schon mal mit irgendwem gesprochen?«

»Nein.« Ericas Stimme war in ihr dickes Gesicht hinein verschwunden, in die Untiefen ihrer Kehle und in die lange Röhre gesackt, die zu Herz und Lunge führte, zu allem, was pochte und privat und verzweifelt war.

»Ach, vergiss es«, sagte Meredith Gertz und machte mit ihren Freundinnen so abrupt kehrt, als würden sie exerzieren. Im Weggehen steckten die drei die Köpfe zusammen und begannen sofort zu lästern.

Erica stand allein da. Obwohl sich für sie persönlich niemand sonderlich interessierte – jedenfalls nicht so wie für den Sohn von Senator Peel oder die Astronautentochter –, wurde die Anwesenheit von Dottie Engels’ Töchtern an der Headley High immer wieder zumindest am Rande erwähnt und sogar vom Direktor zum Zweck der Anwerbung neuer Schüler genutzt. Erica war Dotties Kind, aber sie war auch ein Mammut, das sich im hintersten Eck der Mädchenumkleide ungelenk hüpfend in den XL-Turnanzug zwängte.

Und jetzt war sie aller Wahrscheinlichkeit nach Jordan Strangs »Freundin«, denn so begriffen die Leute die Welt. Die Schönen hielten Händchen mit den Schönen, die Unattraktiven mit den Unattraktiven. Erica Engels und Jordan Strang saßen ohne Mantel und durchgefroren auf einer Bank am East River. Als hätten sie kein Gefühl für sich selbst, dachte sie, als wären ihre Körper bedürfnislos – so wie diese Menschen im Himalaja, die sich ausschließlich von Luft ernährten. Doch der Vergleich hinkte. Wer aus so viel Masse bestand wie sie, musste doch auch riesige Bedürfnisse haben.

»Ich gehe jetzt«, sagte sie nach einer Weile. »Ich soll mehr Zeit mit meiner Schwester verbringen.«

»Jeder wie er mag.« Jordans Sprüche standen oft außerhalb jeden Zusammenhangs und wirkten im Grunde wie unbeholfene Versuche eines Nicht-Muttersprachlers, eine möglichst coole Redewendung anzubringen.

Doch er selbst hielt sich für so abgründig und klug wie die Figuren in den Romanen, die er las. Jordan verschlang Taschenbücher aus den Sechzigerjahren. Sein großer Held war Hunter S. Thompson, von ihm immer nur »Hunter« genannt, als wäre er ein guter Schulfreund. Einmal hatte er Erica Angst und Schrecken in Las Vegas geschenkt. Stundenlang hatte sie mit leerem Blick hineingestarrt, weil sie es einfach nicht kapierte. Es handelte von durchgeknallten, chaotischen Männern, die durch die Gegend rasten und Halluzinogene nahmen. Diese Seite der Gegenkultur – oder dessen, was in den Siebzigern davon noch übrig war – schien ausschließlich auf Jungs zugeschnitten zu sein, und zwar auf die Jungs, deren Lieblingsbeschäftigung darin bestand, sich über Hunter S. Thompson und Carlos Castaneda zu unterhalten, bis sie sogar in ihren Träumen nur noch Vögel, Wolken und die Wüstensonne sahen. Und weil Jordan keine anderen Gesprächspartner hatte, redete er mit Erica und benutzte sie als Resonanzboden für sein endloses Geschwafel über das Buch, das er gerade las.

Erica behielt das, was sie liebte, für sich. Abends, allein im Bett, hörte sie Reva and Jamie, ein Duo, das aus einem Mann und einer Frau bestand, die wunderschön zweistimmig sangen. »Cup of Tears« zählte zu Ericas Lieblingssongs. An der Stelle mit dem Geist des Soldaten, der zurückkam und seine Geliebte heimsuchte, lief es ihr jedes Mal eiskalt den Rücken hinunter. Obwohl die Lautstärke fast bis zum Anschlag aufgedreht war, hörte sie Opal rufen und an die verschlossene Zimmertür hämmern.

»Was machst du da drin?«, rief Opal. »Hast du Lust auf Hyperventilieren?«

»Ich bin beschäftigt«, erwiderte Erica nach kurzem Zögern.

»Mit was?«

»Hausaufgaben.« Erica drehte sich auf den Rücken und starrte an die Decke, während die Stimmen von Reva and Jamie in höchste Höhen stiegen und gleich darauf wieder tiefer wurden. Sie war in Gedanken ganz bei sich, bei dieser gewaltigen, formlosen, auf dem Bett treibenden Qualle. Warum nicht gleich kapitulieren, sich nicht jetzt sofort der Zukunft ergeben, die sie in erschreckendem Tempo auf sich zukommen sah? Warum das Ganze nicht schlicht akzeptieren und von nun an offen damit leben? Nie wieder kartonweise Schoko-Cookies horten und die geriffelten Papierschalen wie Zierdeckchen im Zimmer herumliegen lassen, nie wieder verschämt nach Essen oder Gesprächen schmachten, sondern die eigenen Bedürfnisse sichtbar vor sich hertragen wie ein Abzeichen, eine leicht anrüchige Ehre. Sie wäre dann zwar ein fettes, mitleiderregendes Ding, aber alle würden es wissen und sie im Lauf der Zeit annehmen, wie sie war. Das arme, dicke Mädchen, würden die Nachbarn denken und ihr vielleicht einen Teller mit Essen vor die Wohnungstür stellen. Dann hätte sie ihren Platz gefunden, ihre eigene Rolle. Immer noch besser, als sich vorzugaukeln, ein Klecks Lidschatten, eine Grapefruit-Diät oder durchgestochene Ohrläppchen würden sie weiterbringen. Ihr Alltag war brutal. In der Schule duckte sie sich oft hinter ihr Pult und hielt den Deckel möglichst lang hochgeklappt, während sie so tat, als suchte sie einen Stift.

»Ach, Süße«, sagte ihre Mutter hin und wieder, »so ist sie eben, die Pubertät, aber ich schwöre dir, es wird besser. Glaub’s mir, ich spreche aus Erfahrung.«

Obwohl Erica genug Geschichten aus der Pubertät ihrer Mutter kannte, blieb ihr Bild davon vage, gewissermaßen sepiabraun getönt. Zu diesem Bild gehörten der D-Day, der Tag der Kapitulation Japans und die Stufen zu einem Reihenhaus, auf denen ein dreizehnjähriges Mädchen namens Dottie Breitburg saß und Pez-Bonbons futterte. Erica wollte so wenig wie möglich an das dicke Mädchen denken; sie hätte es am liebsten gar nicht gekannt. Man hatte ihr so oft erzählt, wie ihre Mutter, der unglückliche Teenager, eines Sommers als bezuschusste Teilnehmerin ins Camp Hatikvah geschickt wurde, mitten im Krieg, als das Leben in Brooklyn einer endlosen Wochenschau aus Stromausfällen, Selbstversorgergärten und trauernden Müttern glich. Ende August war Dottie völlig verändert zurückgekommen. Aus dem freudlosen, unbeliebten, mürrischen Mädchen war eine freche Göre geworden. Eine völlig neue Persönlichkeit war an die einst so triste Oberfläche getreten. Ungebeten bespaßte Dottie von nun an die Mütter in ihrer Straße in Flatbush, Frauen, auf deren Couchtischen die Bar-Mizwa-Alben der Toten lagen.

»Ich habe mich damals schlicht und einfach verändert«, erklärte sie. »Das ist nicht über Nacht passiert, es war ein langer Prozess. Ein paarmal bin ich falsch abgebogen und habe schlimme Fehler gemacht. Was nicht heißt, dass du die auch machen musst, Erica«, fügte sie nachdenklich hinzu. »Du kannst ein schönes Leben führen, du musst nicht bescheiden sein. Gut, du bist keine Twiggy und wirst eben in der Abteilung für große Größen einkaufen. Aber darüber kommst du hinweg, das garantiere ich dir persönlich.«

Erica wusste nichts zu erwidern. Dottie hatte ihr Patentrezept gefunden: Sie riss Witze, sang, machte ungeniert Glupschaugen vor der Kamera, und alle waren hin und weg. Erica würde so etwas nie tun; sie wäre lieber gestorben, als auf die Bühne zu gehen und eine Show abzuziehen. Einmal war sie bei einem Referat über Der Untergang des Hauses Usher um ein Haar in Ohnmacht gefallen. Für sie gab es kein Patentrezept, keinen vorgezeichneten Lebensweg.

Warum bist du nicht ständig müde?, hätte sie ihre Mutter gern gefragt. Sie selbst schaffte es manchmal kaum durch den Nachmittag. Auf dem Weg vom Chemiesaal in die Freistunde und von dort in den Französischunterricht hörte sie im Kopf Musik im Rhythmus ihrer Schritte: tiefe, rülpserartige Tuba-Töne, das Herannnahen eines Nashorns oder Elefanten in einer gestrichenen Passage von Peter und der Wolf. Als hätte sich der Komponist gedacht: Es sind sowieso schon zu viele Tiere, da behalte ich lieber die schnellen, leichten.

Es wird besser. Wie eine Litanei sagte Dottie es wieder und wieder, und obwohl ihre Mutter vermutlich selbst daran glaubte, beruhigte es Erica nicht. Genau genommen beruhigte sie nichts mehr von dem, was Dottie tat oder sagte. Erst neulich hatte ihre Mutter sie verraten, und Erica konnte das nicht vergessen. Einen Tag nachdem sie am Telefon verkündet hatte, sie werde ihren Namen ändern, war es passiert.

»Ach?«, hatte Dottie erwidert. »Und wie willst du dich in Zukunft nennen, falls die Frage erlaubt ist?«

»Weiß ich noch nicht«, hatte Erica gesagt. »Ich habe mich noch nicht entschieden.«

Ihre Mutter hatte leise gelacht. »Darüber sprechen wir, wenn ich zurück bin. Aber unternimm bis dahin keine drastischen Schritte!«

Am Abend darauf sagte ihre Mutter in der Merv Griffin Show zwischen zwei Witzen: »Weißt du, Merv, meine ältere Tochter hat mir gestern mitgeteilt, dass sie ihren Nachnamen ändern will. Sie findet ›Engels‹ hässlich, sie meint, dass es schwerfällig klingt. Jetzt soll es ein kultivierter Name sein, ein eleganter, damenhafter.«

Erica erstarrte. »Wirklich?«, fragte Merv. »Aber Engels ist doch völlig in Ordnung. Welchen Namen hätte sie denn gern?«

»Shmutznik«, antwortete Dottie mit todernster Miene.

Das Publikum schmiss sich weg, Joey diSalvo, der Babysitter, schmiss sich weg, und sogar Opal, die drei Zentimeter vom Bildschirm entfernt saß und Cracker in sich hineinschob, riss den Mund auf und stieß einen einzelnen bellenden Lacher aus. Erica sah sie voller Abscheu an. Opal fand das witzig! Wie gebannt starrte sie auf den Bildschirm. Saß da, guckte und ließ ihre Hand zwischen Mund und Schüssel wandern. Mit den vom Cheddar grell orange gefärbten Lippen wirkte sie wie die Anhängerin eines bizarren Kults.

Erica schlug mit dem Handballen heftig gegen den Bildschirm und brachte das Bild zum Verschwinden.

»Was soll das?«, rief Opal. »Ich will mir das ansehen!«

»Hey, hey, hört auf, ihr zwei«, sagte Joey diSalvo. »Was ist denn los? Ihr führt euch auf wie Babys.«

»Unglaublich, wie sie lügt!«, sagte Erica.

»Ist doch nur ein Witz«, entgegnete Opal. »Schalt ihn wieder ein! Sie macht heute Mrs. Pummelman, das hat sie mir versprochen.«

»Sie soll richtige Witze machen, anstatt Lügen über mich zu erzählen. Als würde ich meinen Nachnamen zu so was Blödem verändern! So ein Quatsch! Ich brauche keine Hilfe beim Umbenennen!« Als das Gerät wieder lief, kam ein Werbespot.

»Wenn du mal heiratest, musst du sowieso einen anderen Namen annehmen«, erklärte Opal, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden.

»Ich will aber nicht heiraten«, erwiderte Erica und wusste sofort, dass es die Wahrheit war, schlicht weil sie es ausgesprochen hatte. Nein, sie würde nie heiraten. Die plötzliche Selbsterkenntnis war so simpel und fundamental, wie wenn eine Frau »Ja, ich bin schmal gebaut« oder »Ja, ich bin ziemlich gefühlsbetont« sagte.

Sie würde nicht heiraten, sondern ins Ausland gehen. In letzter Zeit hatte sie Werbespots für das Friedenscorps gesehen und sich vorgestellt, wie es wäre, dort mitzumachen. Sie hatte sich die gebührenfreie Nummer notiert, unter der man rund um die Uhr Informationen bekam, und sie in einer schlaflosen Nacht um drei Uhr morgens gewählt. Es meldete sich eine Frau mit weit entfernt klingender Stimme. Erica fand es seltsam, dass sie sich dort Tag und Nacht Auskunft holen konnte. Vielleicht, dachte sie, befand sich die Frau in einer anderen Zeitzone, vielleicht sprach sie sogar von einem anderen Kontinent aus mit ihr, und einen flirrenden Augenblick lang sah sie Telefonistinnen vor sich, die in nigerianischen Hütten Bereitschaftsdienst schoben.

»Ich wüsste gern Näheres über eine Teilnahme am Friedenscorps«, flüsterte Erica ins Küchentelefon, um Opal nicht zu wecken.

Zunächst erntete sie Schweigen. Dann sagte die Frau: »Darf ich fragen, wie alt du bist?«

»Sechzehn«, antwortete Erica, ohne eine Lüge auch nur in Erwägung zu ziehen.

»Eine Bewerbung ist leider erst ab achtzehn möglich. Aber du kannst gern in zwei Jahren wieder anrufen, dann gibt es uns immer noch.«

»Mich aber vielleicht nicht«, sagte Erica und legte auf, bevor die Frau etwas erwidern konnte.

In der dunklen Küche begann der automatische Eisbereiter im Kühlschrank zu surren und ließ klackernd frische Eiswürfel fallen. Im Augenblick war Erica zu jung für das Friedenscorps, doch in zwei Jahren bestand für sie die Möglichkeit, sich von einem unnützen in einen nützlichen Menschen zu verwandeln. Sie malte sich aus, wie sie Dorffrauen Lesen und Schreiben oder das Anlegen eines Druckverbands beibrachte. Allerdings war eine Teilnahme am Programm auch mit achtzehn nicht unbedingt garantiert. Vielleicht würden sie beim Vorstellungsgespräch »Du bist zu dick« sagen, während sie ihr ein Maßband um den Bauch schlangen. Und zu langsam. Und zu traurig. Vielleicht würde sie bis in alle Ewigkeit in dieser Stadt bleiben und irgendwann doch heiraten müssen.

Schlagartig war sie wieder deprimiert. Sie hatte kaum noch Optionen. Schon jetzt war die Auswahl alles andere als bunt. Mit sechzehn waren all ihre Fähigkeiten gründlich überprüft und dokumentiert; was sie konnte und was nicht, lag offen zutage. Opal, die erst elf war, hatte noch eine gewisse Wahl und würde sich solche Gedanken erst in ein paar Jahren machen müssen. Deshalb konnte sie auch den ganzen Tag in aller Ruhe vor dem Fernseher sitzen, Cracker essen und die Welt super finden. Konnte die Sendung mit leicht zur Seite geneigtem Kopf verfolgen – wie ein Eichhörnchen. Aus ihren Bewegungen sprach dieselbe roboterhafte Neugier.

Opal hatte an den Witzen ihrer Mutter in der Merv Griffin Show nichts Schlechtes gefunden und einfach mit dem Publikum mitgelacht. Meine Mutter ist ein Scharlatan, dachte Erica. Dieses Wort, das man für den Hochschulzulassungstest kennen musste, erschien ihr besonders passend. Sie liebte es und sagte es manchmal laut vor sich hin, wenn sie nicht einschlafen konnte. Scharlatan. Sie sah sich zu ihrer Mutter sagen: »Mom, ich habe eine neue Figur erfunden, die du spielen könntest. Eine Frau, die Charlotte Ann heißt und eine krankhafte Lügnerin ist.« Dottie würde den eingebauten Witz nicht erkennen, ein bisschen erstaunt reagieren und sich vielmals bei ihrer Tochter bedanken.

Nach dieser Ausgabe der Merv Griffin Show