cover

 

Ein Mann, seinem Leben als Soldat entkommen, ruht in der Badewanne aus. Ein junger Bibliotheksaufseher arbeitet sich durch einen Tag, in dem Geschichten wie Tumore wuchern. Ein Witwer trägt die Chronik seiner Familie zusammen, die durch sein Leben fortgeschrieben wurde. Zwei Brüder karren ihre Eltern durch den Wald, hinaus zum alten Lieblingsplatz. Ein Vagabund streift durch die Stadt und hält die Augen offen.

 

Lorenz Just sucht das Böse. Er sucht es unter Menschen, in ihren Biografien, ihrem Umfeld. Schicht für Schicht legt er die Abgründe frei, die wir alle in uns tragen. So macht er sichtbar, ohne zu werten – und beschwört das Böse als ebenso mächtige wie ambivalente Kategorie herauf. ›Der böse Mensch‹ ist auch ein Buch über die Gegenwart der Erinnerung, das Fortleben vergangener Grausamkeiten in uns allen – und über unterschiedliche Strategien, mit etwas zu leben, für das es keine Absolution geben kann.

 
autor

Credit: © Julius Matuschik

Lorenz Just, geboren 1983, studierte Islamwissenschaft in Halle an der Saale. Während seines Studiums verbrachte er längere Zeit in Ägypten sowie im Libanon am Orient-Institut in Beirut, er bereiste den Jemen, Syrien und den Iran. Von 2011 bis 2015 war er Student am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. 2015 erschien sein Jugendbuch ›Mohammed. Das unbekannte Leben des Propheten‹. ›Der böse Mensch‹ ist sein literarisches Debüt.

LORENZ JUST

DER BÖSE MENSCH

Erzählungen

 

 

Geschehen ist, was nie geschehen sollte,

Und ich bewein’s und bittrer als du denkst,

Doch soll ich drum, ich selbst, mich selbst vernichten?

(Grillparzer, Das goldene Vlies)

DER NACHBAR

Eine Bewegung hat mich geweckt. Ich kann die Wellen noch sehen, unruhige Wellen, die auf mich zu- und von mir wegrollen. Ich habe die Bewegung nicht geträumt, aber ich habe geträumt. Ich lag auf einer Wiese in der Abendsonne. Eine Gestalt kam heran und stellte sich als riesiger Schatten vor mir auf. Ich konnte ihr Gesicht nicht erkennen, nur die von Lichtstrahlen umkränzte Kontur. Wer weiß, was sie wollte. Als sie sich zu mir hinabbeugte, habe ich die Beine angewinkelt und zugetreten. Ob ich getroffen habe, kann ich nicht sagen, denn die ruckartige Bewegung hat mich aufgeweckt. Jetzt steht die Wasseroberfläche wieder still, Dampf steigt auf und schwebt im Raum. Es ist das erste Mal, dass ich hier eingeschlafen bin. Aber ich habe keine Angst. Ich glaube nicht, dass ich im Schlaf ertrinken könnte. In einer Zeitschrift habe ich von Meistern gelesen, die ihr Sterben wie ein heilendes Kunststück vollführen. Die Beine ineinander verschlungen, lassen sie sich auf den Grund eines Gewässers sinken, wo sie, ohne eine Miene zu verziehen, ertrinken. Anderen gelingt es, ihren Herzschlag Kraft ihres Willens auszusetzen. Doch es braucht wohl das ganze Leben, um zu lernen, wie es aus eigener, innerer Kraft zu beenden ist, den Zeitpunkt selbst zu bestimmen, ihn bekannt zu geben, um vor versammelter Jüngerschaft zu vergehen. Ein friedlicher Tod, um in Frieden zu ruhen. Ein friedliches Leben, um in Frieden zu sterben. Eine Stunde bleibe ich noch. Das Wasser ist heiß, und heute habe ich Zeit. Nichts treibt mich weg. Ich bin allein. Niemand klopft oder rüttelt an der Klinke. Alles ist still, keine Türen schlagen, keine Schritte, keine lauten Stimmen, es ist so still, dass ich meinen könnte, taub zu sein. Kein Wetterumschwung, der das Licht verändern könnte, keine Wolken, keine Sonne, kein Himmel über mir, und auch kein Stromausfall. Hin und wieder flackert die Glühbirne. Wenn sie durchbrennt, müsste ich aufstehen. Im stockfinsteren Bad, bis zum Hals im Wasser, in der engen Badewanne, ich wäre mir meines Lebens nicht sicher. Im Licht sehe ich meine Arme und Hände, meinen Bauch, mein Glied, meine Beine, die aus dem Wasser ragen, meine Füße, die auf dem Wannenrand liegen, meinen Körper, der mir zeigt, dass ich da bin. Vielleicht könnte ich auch im Dunkeln durchhalten. Ich müsste versuchen, mir das Licht vorzustellen, sodass ich hinter geschlossenen Augen sehen würde: den roten Sand, die Straße vor dem Haus, die Frauen. So wie auch die Stille mir keine Schwierigkeiten macht, da sie meine eigene Stimme klar und deutlich klingen lässt. Ich höre mir zu. Ich muss mir zuhören. Lieber höre ich mir zu als dem Radio, lieber mir als den Verkäufern, lieber mir als dem Hausmeister, als der Müllabfuhr, der Nachrichtensprecherin. Lieber mein Selbstgespräch als das Telefongespräch eines Fremden, der neben mir an der Haltestelle wartet. Lieber mir zuhören. Ich weiß nicht, warum ich Angst vorm Sterben habe. Ich kenne den Tod, nur nicht den eigenen. Im Radio sterben die Menschen schnell und leicht. Ihr Sterben ist gut aufgehoben in der Normalität des Wetters, der Sportereignisse, der Wahlen. Nur selten stirbt ein Einzelner, ein Bischof, ein Friedensstifter, ein Präsident oder ein großer Mörder. Die Kleinen sterben wie alle Übrigen. Keiner fragt nach ihnen. Sie leben zurückgezogen, halten still und bleiben in ihren Häusern, in denen Ruhe herrscht. Man ist froh, wenn sie ihre Gesichter verstecken. Früher habe ich wie im Traum gelebt. Die Menschen waren Illusionen, ihre Gesichter Masken, von Geistern getragen. Oder es gab gar keine Menschen. Nur Vertriebene, die vor lauter Angst kein Leben mehr hatten. Hier haben sie jetzt ein Leben. Es kommt vor, dass mir ihre erbärmlichen Masken plötzlich wieder vor Augen stehen. Ich entdecke sie im Gesicht eines Fremden oder in den vertrauten Zügen eines Bekannten. Du hast alle Geister zurückgelassen, sage ich mir dann, aber der Schrecken ist mir anzusehen. Ihre Köpfe zucken unter meinen Händen, ihre Körper sinken etwas tiefer in den Stuhl, wenn sie mich im Spiegel erblicken. Aber während ich ihre Schädel rasiere, die schwarzen Locken von der Kopfhaut schäle und wir dabei über Alltägliches sprechen, beruhigen wir uns. Mein Bruder, sagen sie zum Abschied, und ich erwidere die Verbrüderung. Am Abend fege ich ihre Haare zusammen und verbrenne sie im Hof. Die Flamme frisst sich durch sie hindurch, weißer Rauch steigt in dünnen Fäden auf und verbreitet einen beißenden Geruch, der sich in meiner Kleidung, an der Haut und in den Haaren festsetzt, wenn ich nicht aufpasse und ein Luftzug ihn mir entgegenweht. Wasserdampf kondensiert an den Fliesen und tropft die Wände hinab. Ich vermisse die Nachmittagsglut, die nur unter einer schattigen Veranda zu ertragen war, den Schweiß auf der nackten Haut, die jeden Windzug spürte, jeden Sonnenstrahl, jeden Schatten. Hier liegt die Haut unter Schichten von Stoff begraben. Ich friere in dieser Luft, selbst im kurzen Sommer bleibt mir kalt. Meine Frau sagt, bade, bade so viel du willst. Und wenn ich benommen aus dem Badezimmer wanke, dann meint sie: »Jetzt bist du einmal warm«, und wir tun, was kein langes Reden braucht. Manchmal kann ich es nicht zu Ende bringen, dann steht sie auf und lässt mich allein. Ich habe versucht, ihr zu erzählen, wer ich war, wann, wo, aber sie will nichts wissen. Sie sagt: Dafür bin ich nicht deine Frau. Im Laden mache ich meine Scherze mit den Männern. Sie behandeln mich gut, sitzen den ganzen Tag auf der langen Wartebank und schauen zu, wie ich Haare schneide. Wir bleiben besser unter uns, sagen sie und halten zusammen wie die Hühner. Wenn etwas passiert, wenn es Ärger gab, auf einem Amt oder mit sonst einem Deutschen, jammern sie und bitten mich: »Du könntest etwas tun, du bist stark.« Es stimmt, ich bin nicht so arm wie sie: Ich habe ein Geschäft und gute Kleidung. Es flößt ihnen Respekt ein, dass mich der Hausmeister nicht beschimpft, sondern mit Namen grüßt. Aber er spricht meinen Namen so aus, dass er wie eine Beleidigung klingt, leer und ohne Bedeutung, wie hingespuckt. Nicht, dass ich die früheren Spitznamen zurück will, ich brauche keine Titel mehr. Meine Mutter wusste aber, warum sie mir meinen Namen gab. Hier bin ich neu und habe keine Ahnen und keinen Kult. Es genügt den Leuten, zu wissen, dass ich Besitzer eines Geschäfts bin, um ihr Misstrauen hinunterzuschlucken. Wenn ich rechtzeitig die Miete zahle und keinen Müll neben die Tonne schmeiße, bin ich ein korrekter Mensch. Sie verzeihen mir selbst das Schwarze, wenn ich mich ordentlich und ein wenig wie sie kleide. Oft wache ich tief in der Nacht auf und weiß nicht, wo ich bin. Ich muss mich umschauen und konzentrieren, aber selbst wenn es mir einfällt, kann ich nicht glauben, dass ich, immer noch derselbe, jetzt hier bin, ein zweites Leben führe, »Guten Tag« sage und mit dem Hausmeister über das Wetter plaudere. Ich muss es wie ein Gebet hersagen, damit mir die Welt wieder wirklich erscheint. Im Badezimmer, in der kleinen Kammer, halb unter Wasser, bin ich nirgendwo. Ich muss meinen Kopf nicht aufrecht halten, sondern lehne ihn gegen den Rand der Wanne, spüre im Nacken das kühle Metall, und Schweiß tropft über mein Gesicht. Ich habe meine schlimmsten Fantasien zu Wirklichkeit werden lassen, meine Albträume über andere gebracht. Ich habe in mir einen Dämon gespürt und bin zum Dämon geworden, habe an blutigen Herzen geleckt, aus Kindern Teufel gezüchtet, Tod und kein Leben in die Welt gebracht – ich kann es aufsagen, ohne mich erinnern zu müssen, wie auswendig gelernt. Die Normalität der anderen hat mich aufgefangen, mir einen Platz im Netz von Alltäglichkeiten zugewiesen, zuletzt hat sie mir eine Amnesie verordnet, die ich durch Schweigen erzwingen soll. Meine Vergangenheit scheint die eines Fremden zu werden, den ich im Traum getroffen habe. Ein Hirngespinst, das im heißen Wasser zu mir spricht. Vom roten Sand, von leeren Wäscheleinen, von einer Badewanne aus Zink. Am Abend füllte sie meine Frau mit sieben schweren Eimern aus dem Brunnen. Sieben Eimer, sagte sie, aber ich lachte nur und zog die Stiefel aus. Ich legte mich ins Wasser, betrank mich mit Schnaps, starrte in den Himmel. Ich habe immer versucht, etwas in den Sternen zu erkennen, ein Zeichen, das ich auf Anhieb verstand, irgendetwas, aber es war nur ein Spiel, mit dem ich die Zeit totschlug. Wenn meine Augen schwer wurden, zog ich den Stöpsel, und während das Wasser ausfloss und eine Pfütze um die Wanne entstand, schlief ich ein. Erst die sengende, blendende Sonne weckte mich. Ich musste lange rufen, bis meine Frau oder irgendjemand, der in der Nähe war, den Sonnenschirm aufstellte und mir Wasser zu trinken brachte. Wenn ich nicht aufstehen wollte, was oft der Fall war, musste jemand die Wanne von Neuem füllen. Immer spielten Kinder, aber vor dem Haus, wo ich sie nicht sehen konnte und ihr Geschrei nur leise zu hören war. Meine Frau war im Haus; was sie dort tat, ging mich nichts an. Nur ein paar Männer hielten sich ständig in meiner Nähe auf. Sie lungerten im Schatten des Vordachs, wo der Fernseher stand. Ununterbrochen liefen amerikanische Sendungen, die keinen interessierten. Aber wenn die Nachrichten begannen, sprangen sie auf und drehten laut. Es war die größte Freude, wenn die Rede von uns war, das heißt von den vielen Toten, die man zu einer handlichen Zahl zusammengefasst hatte. Wir merkten uns diese Zahl. Selbst zählten wir schon lange nicht mehr mit. Für uns gab es nur Anekdoten, die sich gegenseitig übertreffen mussten, wenn wir sie im Rausch eine nach der anderen erzählten und wieder erzählten. In den Nachrichten schienen sie nicht zu wissen, dass jeder einzeln und in Todesangst stirbt. Meine Soldaten hätten es ihnen zeigen können. Manchmal, wenn ich durch die Innenstadt laufe, spüre ich sie wie früher an meiner Seite. Hass und Angst brennen ihnen unter der Haut, Wahnsinn glüht in ihrem Blick, aber sie gehen langsam, und keiner sagt ein Wort. Bis ein Junge sich vor seine Schwester stellt und nicht wegrennt. Dann kreischen sie lauter als ihre Opfer, schreien mit jedem Schlag und jedem Schuss. Wenn die Schwester sich über ihren Bruder wirft, sind ihre Flüche das Letzte, was sie hört. Es gibt auch solche, die stumm bleiben und konzentriert die Stirn verziehen. Sie zerschießen die Schaufenster und dringen in die Geschäfte vor, um, versteckt in Hinterzimmern, Verkäufer, Manager oder wen auch immer zu metzeln. Einem dieser Sorte habe ich kein einziges Mal zugesehen; angesichts seiner Opfer rätselten wir, wie er es wohl angestellt hatte. Wir nannten ihn den Deutschen, was ihm gefiel, er ließ sich sogar die Haare bleichen. Wer weiß, was er heute tut. Ob er einfach aufhören konnte? Oder überhaupt noch lebt? Ich hätte bleiben sollen. Jetzt bin ich hier, mit einer anderen Frau, meiner alten Arbeit, in einem neuen Land. Die Gewohnheit, zu baden, ist geblieben. Nur ist das Wasser nicht mehr kalt, sondern fließt heiß aus einem silbernen Wasserhahn. Wohin es abläuft, sehe ich nicht. Und die Wanne steht in einem fensterlosen Zimmer im dritten Stock eines Wohnhauses, dessen Bewohner mir selten begegnen. Ich lerne sie nicht kennen und weiß nichts von ihnen, aber trotzdem stelle ich mir vor, dass sie lauschen, sobald ich leise vor mich hin spreche. Einen Augenblick lang zögere ich, weil da ein Kratzen an der Wand war oder ein kurzes Husten, dann fahre ich etwas lauter fort. Wenn meine Frau hört, dass ich wieder murmele, wie sie es nennt, dreht sie den Fernseher auf. Schreib ein Buch oder such dir einen von der Zeitung zum Reden, sagt sie, wenn ich erzähle, dass ich manchmal an früher denken muss. Sie habe ihre eigenen Probleme, aber auch darüber verliert sie kein Wort. Ich habe sie gebeten, mit mir zusammen zu baden, aber sie schüttelt nur den Kopf. In eine Sauna zu gehen, habe ich vorgeschlagen, aber auch davon will sie nichts wissen. Als sie am Waschbecken stand und sich die Zähne putzte, habe ich versucht, sie zu mir ins Wasser zu ziehen. Sie hat ihren Arm aus meiner Hand gerissen, ist gegen die Wand gestolpert und hat mich lauthals beschimpft. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen. Vor einigen Wochen schlug sie mir mitten in der Nacht ihren Handrücken auf den Mund. Ich schreckte auf und hatte die Fäuste schon geballt, aber sie schlief. Ihre Augen waren zusammengekniffen, die Stirn angespannt. Ich ging ins Bad, um mir den Mund auszuspülen. Im Laden fragten sie, was passiert sei, aber ich lachte nur und antwortete nicht. Meine frühere Frau war auch still. Aber sie war im Haus, und ich war draußen. Sie brachte mir sogar das Essen hinaus. Es gab ein breites Brett, das sie mir quer über die Zinkwanne legte, so hatte ich einen Tisch, wenn ich badete. Sie selbst aß drinnen mit meiner Mutter und den Kindern. Ich erinnere mich kaum an die Kinder, sie waren so klein, dass ich sie nicht unterscheiden konnte. Ich war stolz, sie zu haben, aber ich wollte mich nicht kümmern. Sie waren für mich einfach Kinder, von denen man sagte, dass es meine waren. Ich war sowieso nur selten zu Hause. Meine Mutter ist bestimmt tot. Meine Frau lebt vielleicht noch, vielleicht geht es ihr besser als je zuvor. Warum nicht. An meiner Erinnerung würde das nichts ändern, sie wiederholt sich seit bald vier Jahren. Die Vergangenheit vergeht nicht. Ich kann sie nicht verbrennen wie ein Bündel Zweige oder eine Handvoll schwarzes Haar. Ich konnte meinen Laden öffnen, weil ich mit Geld geflohen bin. Vielleicht werde ich jemanden einstellen. Dann könnte ich mich zu den Kunden auf die Wartebank setzen, mit ihnen fernsehen, über das letzte wichtige Fußballspiel reden, während wir auf das Spiel am Abend warten. Lieber würde ich ein kleines Café eröffnen, eine Bar führen, im Sommer auf der Straße grillen. Oder einen Kiosk aufmachen, Zeitungen verkaufen, Getränke, Süßigkeiten. Oder einen Garten mieten. Wenn ich etwas klüger wäre, etwas mehr wüsste, könnte ich noch ganz andere Dinge versuchen. Ich muss mein Leben irgendwie zu Ende bringen. Falls meine Frau heute nach Hause kommt, werde ich mich entschuldigen. Vielleicht wird sie schwanger, dann werde ich wieder Vater. Ich weiß gar nicht, ob sie Pillen schluckt. Ob sie überhaupt ein Kind von mir will. Sie misstraut mir. Sie denkt, ich müsse ein ganz anderer sein. Die Filme zeigen es so: Der Böse stirbt einen grausamen Tod oder zeigt unendliche Reue. In Wirklichkeit lebt er friedlich unter Nachbarn und vermisst wie jeder andere die alte Zeit. Ich bin kein Scheinheiliger, und ich warte auch nicht auf die große Strafe, die von allen Seiten geweisgesagt wird: Niemand kommt ungestraft davon. Das ist das Märchen für die Verlierer, damit sie aufhören, zu jammern und zu klagen. Sie sollen still sein und für immer hoffen, dass ihre so innig beschworene Gerechtigkeit auf uns alle niederkommt. Währenddessen führe ich ein unbedeutendes Leben. Ich muss weder bereuen noch wird jemand kommen, um zu richten, und ich muss mir nicht das Leben nehmen. Ich werde ungestört weitermachen, ob ich will oder nicht. Wie viele Haare ich auch schneide, ich bin kein Friseur. Immer dieselben Köpfe, die ich rasiere. Dieselben Gesichter auf der Bank, die am Abend erst gehen, wenn das Spiel vorbei ist. Ist der Letzte raus, schließe ich den Laden ab. Inzwischen bin ich der Maskenträger geworden. Aber meine Maske ist neu gemacht, freundlich und höflich gezeichnet. Wenn ich in der Badewanne schwitze, schmilzt sie und tropft ins trübe Wasser ab. Dann brauche ich kein Gesicht mehr, sondern höre meiner Stimme zu, die nur auf ihren Einsatz gewartet hat. Ich erinnere mich an die Kinder am Fluss. Wir beobachteten sie von der Brücke aus, wie sie das Ufer hinab ins Wasser rannten. Ich befahl einem meiner Jungen, auf ein Kind zu schießen, das im knietiefen Wasser stehen geblieben war und ausdruckslos zu uns herübersah; er zielte lange, atmete schwer. Ich sprang von der Brücke in den Fluss und sank bis auf den Grund, ging in die Knie und stieß mich ab. Als ich auftauchte, war das Wasser leer. Ich schwamm zum Ufer, wo gerade noch die Kinder gespielt hatten, legte mich in den Sand und ließ mich von der Sonne trocknen. Die Jungs warteten. Als ich ihnen winkte, legten sie die Gewehre ab, stiegen auf die Brüstung und sprangen einer nach dem anderen. Mit Schlamm in den Händen tauchten sie wieder auf. Sie beschmierten sich damit die Gesichter und kamen zu mir auf den Strand gekrochen. Als der Schlamm sich härtete und abzubröckeln begann und sie aussahen wie eine Gruppe kleiner, runzliger Greise, kicherten sie leise und verhalten. Ich stand auf und zog das Kind aus dem Wasser. Ich bohrte meinen Daumen bis zum Anschlag in die Wunde und malte ihnen Kreuze, Striche und Kreise auf die Stirn und drückte ihnen Punkte auf die Wangen. Die Jüngeren schauten mich an, während ich sie bemalte, die Älteren schlossen die Augen. Sie saßen im Kreis um mich herum, und da war etwas, das uns alle verband.

BILDBESCHREIBUNG

Ein blauer Himmel, getrübt nur durch Andeutungen blasser Wolken, darunter eine massive Hügellandschaft in leuchtendem Grün, drei Bäume im Vordergrund, bis unter den oberen Bildrand ragen die Kronen, ihre spitz auslaufenden, blattlosen Zweige schneiden in die Fläche des Himmels, drängen aus dem Bild hinaus, entgegengerichtet die Bewegung der Vögel, im Sturzflug nähern sie sich der Erde, über das gesamte Bild verteilt, die spitzen Schnäbel voraus, Krähen, vielleicht Amseln, es könnten ganz andere Wesen sein, der vage Umriss erlaubt kein endgültiges Urteil, auch zwei Türme ragen hinauf in den schmalen Streifen Blau, ihr schlanker Bau erinnert an osmanische Bleistiftminarette, bei genauerem Hinsehen sind es Wachtürme, drei schwarze Fenster, in denen nichts zu erkennen ist, bilden den Ausguck, trotz der großen Höhe scheint es nicht möglich, dass ein Wärter oder sonst eine Person von diesem Ausguck aus über die bis unter den oberen Bildrand reichenden Hügel hinweg ins Hinterland schauen könnte, im Zentrum des Bildes ein weißes Gebäude, ein Dutzend winziger Fenster ohne Kreuz, der offene Eingang ohne Tür, kein Schild oder Schriftzug darüber, ein großer Kasten mit schwarzem Dach, das an zwei Stellen brennt, die rotgelben Flammen lodern aufrecht, auch das linke der beiden Nebengebäude ist angesteckt, Stichflammen auf dem First, vielleicht Spuren eines Meteoritenhagels, wahrscheinlicher aber von Geschossen, die im Haus noch nicht explodiert sind, in den Fenstern ist kein Feuer zu erkennen, nur dunkelblaues Licht, nicht zu sagen, woher die vielleicht harmlosen Feuer stammen, welche Ursache ihnen vorausgeht, ein Rätsel, auf dem Dach, aber auch in einem der Bäume: ein Ast brennt, oder ist es eine zerfetzte Fahne im Wind, vielleicht ein zerrissenes Hemd, von einem Sturm ins Geäst getragen, die drei Gebäude, zweigeschossig, weder aus Stein noch aus Holz, vielleicht aus riesigen Pappkartons geschnitten, bilden einen Platz, einen ausufernden Garten, möglicherweise einen Park, der weit über das Bild hinausführt, auf den gelben Rundwegen, die sich verzweigen, sich im hellgrünen Untergrund verlieren, das Bild aber nie verlassen, wachsen Büsche, in ihrer Form und Größe den Flammen gleich, aber grün, am unteren Bildrand verläuft ein Graben, auf der Wasseroberfläche steht eine Figur, also kein Graben, nur eine längliche Pfütze oder ein blau gemalter Weg, der Kopf ist ohne Gesicht, blass, von schwarzen Haaren umschlossen, die Gliedmaßen überlang, an hängenden Armen die offenen Handflächen dem Betrachter zugewandt, hätte die Figur Augen, würden auch diese aus dem Bild hinaus, auf das, was davorliegt, schauen, zwei weitere Figuren, links und rechts hinter dieser vordersten, ohne Beine oder hüfthoch in den hellen Wegen versunken, Treibsand oder wiederum eine irreführende Farbgebung, diese Figuren, rot und blau gekleidet, recken ihre unterschiedlich langen Arme, der rechte lang, der linke kurz, über die Köpfe, greifen ins Leere, wieder fehlen die Gesichter, durch die Haltung ihrer Körper, der Schultern, der Köpfe geht jedoch auch von ihnen ein Blick aus, dem Betrachter entgegen, alle Figuren im Bild, insgesamt sieben, müssten in diese Richtung schauen: die vierte Figur am äußeren rechten Bildrand, im wehenden bodenlangen Kleid, der Bart schwarz, steht mit beiden Füßen auf dem Sand, die fünfte Figur unterhalb des Hauptgebäudes, die Hände in den Hosentaschen, in niedriger Höhe schwebend oder mitten im Sprung festgehalten, die sechste strebt rückwärts mit der Rechten tastend auf den linken Bildrand zu, vielleicht hat sie im Augenwinkel den Vogel wahrgenommen, dessen Flug auf ihre Brust abzielt, hinter einem Baumstamm versteckt die siebte Figur, sichtbar nur der Arm, steil in die Luft gestreckt, es sind sieben von derselben Sorte, dieselbe Größe, dieselbe schwarzbraune Haarfarbe, nirgends ein Hinweis auf ihre Funktion, keine Uniformen, in den Händen keine Werkzeuge, keine Waffen, keine Schlüssel, ein Gesicht hat keiner, weder Angst noch Hoffnung auf diesen leeren Köpfen, nur gleichgültiges Erwarten dessen, was naht, als wären sie zufällig in diesem Moment vor die Häuser getreten, hätten das, was sie gerade noch taten, zurückgelassen, in den offenen Fenstern und Türen nichts, was verrät, wozu diese Räume gebraucht wurden, nur das blaue Licht oder Dunkel, aber schwarze Fäden führen die Wege entlang, Kabel vielleicht, oder Zündschnüre, sie hängen von den Bäumen, führen in die Häuser hinein, vielleicht gehören sie zu der Arbeit, die die sieben Figuren gerade noch beenden konnten, ein letztes Mal vereint, die Möglichkeit geschaffen, einer Bedrohung, die ihnen entgegenrückt, zuvorzukommen, alle Spuren auszulöschen, oder sollten sie die Erlösten sein: die Wachtürme unbemannt, geflohen die Wärter, die Gefangenen plötzlich frei, taumeln ihren Rettern entgegen, vor maßloser Erschöpfung kaum mehr Personen, die ersten brechen zusammen, winken mit dürren Armen dem Einen hinterher, der den Graben erreicht, im Satz hinüber versagen die Beine, kein Entkommen der Sprengung, die aus den Dächern der Häuser hervorbricht, Bäume brennen lässt, im nächsten Augenblick die Insassen verschlingt, aber vielleicht haben diese sieben ihre Uniformen nur abgelegt, sich letzte Fetzen übergeworfen, haben die Zündungen entschärft, Fenster und Türen geöffnet, die Arme erhoben als zurückhaltende Geste der Kapitulation, um dem Beschuss zu entfliehen und sich kurz vor Schluss in die Zukunft der anderen zu retten, oder doch die Befreiten, die aber die Kraft nicht finden, sich von diesem Ort, der nie wieder eine Gefahr bedeuten wird, loszureißen, alles verloren außer diesem letzten Rest Leben, geworfen in eine Freiheit, die mit einem Schlag zurück ist, am Ende einer Welt, die nicht hätte sein dürfen, oder sind es doch die ahnungslos Besiegten, die keinen Befehl mehr erhalten, die immer noch glauben, aber nicht wissen, was als Nächstes, und wohin, oder alles ist anders, die Figuren Betrachter einer verkommenen Kulisse, Spaziergänger zwischen intakten Ruinen, die eine unmögliche Erinnerung aufrecht erhalten, die den blauen Himmel nicht verstehen, die Sonne, die draußen wartet, während sie in den Häusern umherlaufen, aus den offenen Fenstern schauen, bis sie, wieder am Eingang angelangt, zurück ins Freie treten, wo sie nun über die Landschaft hinweg in ihre verwirrte Vorstellung starren, sich räkeln oder zur Lockerung hüpfen, vielleicht im nächsten Augenblick schon das Bild verlassen, bis dahin aber für immer ihre ratlosen Blicke im Auge des Betrachters versenken.

DIE BIBLIOTHEK

Ein junger Mann späht in den Saal. Sein Blick streift über die Regalreihen der Sinologie und Indologie, schwebt zur Ethnologie und bleibt irgendwo über den langen Tischen haften. Der Mann steht still, keine Regung außer einem fast unmerklichen Schwanken des Körpers. Bis der Schirm seines Basecaps gegen die Glastür stößt. Ein Atemzug kondensiert an der Scheibe. Er zuckt zurück. Jetzt blickt er zu Boden. Seine rechte Hand hebt sich, bewegt sich auf seinen Kopf zu, greift nach seinem Basecap. Den Schirm zwischen den Fingerspitzen, der kleine Finger abgespreizt, schiebt er es ein winziges Stück nach links. Er trägt ein weites Hemd, dunkelrote Pumphosen, einen weißen Schal wie einen Gürtel um die Hüfte gebunden, darüber offen eine hellbraune Lederjacke. Jetzt richtet er den Blick an die Decke, öffnet den Mund – nur dumpfe Laute –, stößt die Tür auf und betritt den Vorraum der Bibliothek, der durch zwei gläserne Wände vom Lesesaal abgeschirmt ist. Hinter dem Empfangstisch wartet der Aufseher. Sie schauen sich an. Der Mann steht wie ertappt: breitbeinig, die Knie leicht gebeugt, die Arme auseinandergerissen. Er ruft: Ha Lo. Ohne den Blick vom Aufseher abzuwenden, schleicht er rückwärts davon, orientiert sich nur mittels sprunghaften Blicken nach links oder rechts, bis er schließlich zwischen den hohen Regalreihen der Sinologie verschwindet.

Der Aufseher ist ebenfalls ein junger Mann, kaum älter als der Mann in den Pumphosen. Wer kommt oder geht, muss an ihm vorbei. Mit einem Blick erkennt er, ob jemand die Regeln der Bibliotheksordnung missachtet oder Bücher der Bibliothek, unter dem Arm vergessen, hinaustragen will. Den Mann in den Pumphosen kennt er bereits und wundert sich nicht mehr. Gewundert hat er sich über eine kleine Kugel aus blauem Stein, die er am Morgen auf dem Gehäuse des Computers in einem winzigen Ständer aus durchsichtigem Plastik entdeckt hatte. Er hat sie hochgehoben, in der Hand hin und her geschwenkt und sie an ihren Platz zurückgelegt. Wahrscheinlich ein Einfall Frau Sperlings, seiner Vorgesetzten, die direkt hinter ihm, zusammen mit der älteren Sinologin Frau von Schleiß, ihr Büro hat. Er wird sie fragen, was es mit der Kugel auf sich hat, später, wenn sie ihn zwischen die Regale schickt, um die richtige Reihung der Bücher zu überprüfen. Bis dahin ist er frei, zu lesen. Nur die vereinzelten Nutzer muss er im Auge behalten. Er rückt sein Buch zurecht, blättert eine Seite zurück.

Auf einmal steht Gertrud vor ihm: »Ich muss jetzt Kaffee trinken, mein Kopf raucht, die Augen fallen mir zu. Eine kurze Pause. Ob der Professor es erlauben wird?« Der Aufseher weiß nicht, was er sagen soll, er versucht ermutigend zu lächeln, aber schon ist sie weitergelaufen.