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Es gibt viele Aspekte in Beziehungen: Kommunikation, Sexualität oder Macht. Und es gibt etwas, das tiefer geht als all das. Um diesen Kern einer Liebesbeziehung geht es dem renommierten Paartherapeuten Oskar Holzberg in diesem Buch. Wie können wir diesen Kern pfl egen und schützen, damit eine Bindung hält und unser Lebensglück vergrößert? Wie helfen Sexualität und Rituale dabei? Und was hat Liebe mit dem Mut zur Offenheit zu tun? Zugleich zeigen die ›Neuen Schlüsselsätze der Liebe‹ aber auch, was wir keinesfalls tun sollten, weil es die Bindung zu unserem Partner nachhaltig schädigt. So ist es vor allem das Spannungsfeld zwischen Verletzlichkeit und Verletzung, das Oskar Holzberg hier erforscht. Dabei erweitert der Brigitte-Kolumnist seine pointierten und unterhaltsamen ›Schlüsselsätze der Liebe‹ um längere, fundamentale Texte zu den Dos and Don’ts der Liebe. Kurz: Oskar Holzberg inspiriert zu einem besseren und glücklicheren Liebesleben.

 

 

Oskar Holzberg, geboren 1953, studierte Psychologie und Germanistik in Hamburg. Er ist niedergelassener Psychotherapeut, Supervisor, Dozent und Autor. Die Paartherapie bildet einen Schwerpunkt seiner Arbeit. Seit mehr als drei Jahrzehnten schreibt er zu psychologischen Themen. Durch seine zahlreichen Zeitschriftenbeiträge gehört er zu den meistgelesenen Psychologen Deutschlands. Zuletzt erschien von ihm 2015 bei DuMont der Band ›Schlüsselsätze der Liebe. 50 kluge Gedanken, die Ihre Beziehung verbessern können‹. Der Autor ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und lebt in Hamburg.

OSKAR HOLZBERG

NEUE SCHLÜSSELSÄTZE
DER LIEBE

Was Beziehungen scheitern und
was sie gelingen lässt

Von Oskar Holzberg ist bei DuMont außerdem erschienen:

Schlüsselsätze der Liebe. 50 kluge Gedanken, die Ihre Beziehung verbessern können

 

 

 

 

The understanding of relationship is infinitely more important than any plan of action …

The understanding of relationship is true action.

Das Verstehen von Beziehungen ist unendlich wichtiger als die Suche nach einer Möglichkeit zu handeln … Das Verstehen von Beziehungen ist die wahre Handlung.

J. Krishnamurti

 

Ever tried. Ever failed. No matter.

Try again. Fail again. Fail better.

Endlos versucht. Endlos gescheitert. Macht nichts.

Versuch es wieder. Scheiter wieder. Scheiter besser.

Samuel Beckett

 

VORWORT

Eine Liebesbeziehung ist nie einfach. Sie ist immer vielschichtig. Und manchmal erscheint sie uns wie ein völlig verknotetes Knäuel aus zwei Fäden, die zwei Personen gleichzeitig zu entwirren versuchen. Sie zupfen hier und zerren dort. Und drohen alles noch viel schlimmer zu verwirren. Wenn sie besser verstehen, wo der Faden entlang läuft, zu wem der Faden gehört, was geschehen wird, wenn sie hier fester ziehen und jenes Ende loslassen, dann können sie ihr Knäuel langsam entwirren. Und darum geht es in diesem Buch.

Der ganze Bogen der Liebe spannt sich zwischen unserem Bedürfnis, uns miteinander vertrauensvoll und geborgen zu fühlen und unserer Möglichkeit, es zu wagen, offen und verletzlich voreinander zu sein. Wir suchen die Verbindung, die Gewissheit, die Sicherheit, ja die Abhängigkeit miteinander. Aber wir suchen in unserer Liebesbeziehung auch Erregung, Abenteuer, Spannung und persönliche Entwicklung. Denn wie schon Groucho Marx wusste: »Die Ehe ist eine wundervolle Einrichtung, aber wer will in einer Einrichtung leben?« Meistens wird die Idee vertreten, wir dürften nicht zu vertraut miteinander werden, müssten einander auch fremd bleiben und Distanz zueinander halten, damit eine Liebesbeziehung erotisch aufregend und herausfordernd bleibt. Wir sollten gemeinsam neue, aufregende Erfahrungen machen und Dinge tun, die wir noch nie getan haben. Wir sollten nicht immer nur als Paar existieren, sondern auch jeder für sich ein eigenständiges Leben führen. Vor allem sollten wir aber lernen, uns selbst zu lieben, weil wir sonst zu angewiesen auf unseren Liebsten sind, und nicht wirklich unabhängig und selbstbewusst lieben können. Gegen keinen dieser Gedanken ist etwas einzuwenden. Aber wir haben noch eine ganz andere Möglichkeit. Und vielleicht liegt darin die größte Chance, die eine Liebesbeziehung bietet und hat. Wir können das Abenteuer der Selbstverwirklichung gemeinsam mit unserem Partner bestehen. Indem wir immer wieder die Komfortzonen und eingefahrenen Bahnen unseres Miteinanders verlassen und uns dafür entscheiden, noch intimer miteinander zu werden und uns in unserer ganzen Verletzlichkeit zu zeigen.

Beziehungen sind der Ort, an dem wir leben. Und wie an jedem Ort müssen wir lernen, uns zu orientieren. Wir lernen ihn kennen, verstehen seine Besonderheiten, sehen, wie seine Geschichte in ihm weiterlebt, und werden mit ihm vertraut.

Wir wissen dann, wie das Wetter einzuschätzen ist, und ob wir lieber einen Schirm mitnehmen. Wir kennen die kürzesten und die idyllischsten Wege, um an unser Ziel zu kommen. Wir wissen, wo es die besten Geschäfte, Klubs und Restaurants gibt und welche Ortsteile wir lieber meiden sollten. Wir kennen uns aus und verlaufen uns nicht mehr. Und natürlich verändert sich das auch alles immer wieder, und auch das gehört zu unserem Verständnis von Beziehung.

Da es in unserer Psyche nie die Dinge selbst sind, die uns beunruhigen, sondern immer die Art, wie wir sie betrachten, können wir uns in Partnerschaften nur orientieren, wenn wir verstehen, was geschieht. Ich glaube, dass das ein Buch leisten kann: mehr zu verstehen. Und dadurch anders handeln zu lernen.

Nach den »Schlüsselsätzen der Liebe« habe ich nicht gedacht, dass es irgendwann »Neue Schlüsselsätze der Liebe« geben würde. Aber es entstanden immer mehr Sätze, ich bekam unterstützende und begeisterte Zuschriften, und schließlich ermunterte mich auch Tanja Rauch, meine Lektorin, doch ein weiteres Buch zu veröffentlichen. So ist dieses Buch entstanden. Es kann für sich alleine stehen, aber gemeinsam mit den »Schlüsselsätzen der Liebe« ergibt es auch ein Ganzes. Im vorigen Buch habe ich versucht, die verschiedenen Dimensionen und Bereiche heutiger Beziehungen zu beschreiben. Vor welchen Aufgaben wir dabei stehen und wie wir ihnen begegnen können. In den »Neuen Schlüsselsätzen der Liebe« gehe ich ausführlicher darauf ein, wie wir uns in unserer Liebesbeziehung immer wieder annähern können, und was bedrohlich für eine Liebesbeziehung ist.

Ich habe versucht, für die Leser, die schon die »Schlüsselsätze der Liebe« kennen, Wiederholungen zu vermeiden und sie nur aufgenommen, wo es für das Verständnis und die Sinnhaftigkeit unumgänglich war.

Wenn dieses Buch dazu beitragen kann, Ihre Fäden leichter zu entwirren, dann wäre ich schon sehr zufrieden.

Hamburg und Tyros, Juli 2017

I

ZUEINANDER HIN ODER VONEINANDER WEG

»Everything is always constantly changing.« Der buddhistische Meditationslehrer Joseph Goldstein wurde nicht müde zu vermitteln, dass es keinen Stillstand gibt. Alles ist in ständiger Bewegung. Das gilt auch für unsere Liebesbeziehungen. Jeder Partner verändert sich stetig, wird älter, lernt, entdeckt, macht neue Erfahrungen. Und auch zueinander befinden wir uns in ständiger Bewegung. Entweder wir bewegen uns zueinander hin, oder wir entfernen uns voneinander weg. Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Auch nicht in den Fluss unserer Liebesbeziehung. Eine feste Beziehung ist paradoxerweise höchst beweglich. Sie bleibt nur bestehen, wenn wir uns immer wieder aufeinander zubewegen. Im Konflikt entfernen wir uns, in der Klärung nähern wir uns wieder. Im Alltag verlieren wir uns aus den Augen, in der Sexualität finden wir uns. Wir pendeln ständig zwischen Nähe und Distanz. Manchmal im ständigen schnellen Wechsel, in anderen Phasen mit langsameren Bewegungen. Aufeinander zu in der ersten Phase des Kennenlernens und der Verliebtheit oder in Phasen der Wiederannäherung nach Krisen. Voneinander weg bei Konflikten, wenn die Beziehung infrage gestellt ist, wenn zunächst nicht vereinbare Standpunkte die Beziehung bestimmen.

Wir sind nicht ein Paar, wir sind viele Paare. Das Studentenpaar, das sich in der Wohngemeinschaft lieben gelernt hat, ist nicht das Elternpaar mit zwei Kindern, das ein paar Jahre später im Stadtteil mit Einfamilienhausbebauung lebt. Und in dem 50-plus-Paar, in dem sie überlegt, wann sie ihre PR-Agentur verkauft und er seine Energie in den Vorsitz des lokalen Rudervereins steckt, sind wiederum die jungen Eltern kaum noch sichtbar. Deshalb müssen wir uns als Paar immer wieder neu finden, um unsere Nähe zu erhalten.

Nähe, ein räumliches Wort, beschreibt unser Erleben. Eine Liebesbeziehung ist ein imaginärer Raum, in dessen innersten Kammern wir uns treffen können. Dort fühlen wir uns nah. Dort, wo wir unseren Partner erreichen, verlassen wir die Vereinzelung. Dort ist das wärmende Feuer der Geborgenheit zu finden. Und die Geborgenheit gibt uns die Chance, wir selbst zu werden. Wir möchten immer wieder dorthin gelangen. Aber aus Enttäuschung ziehen wir uns auch von dort zurück.

Die Kunst, eine Beziehung zu führen, liegt darin, sich auf den anderen hinbewegen zu können. Dazu gehört es, achtsam dafür zu sein, wenn wir uns voneinander wegbewegen. Ein einfaches Rezept, wenn es nur nicht so schwierig wäre.

In den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts begann sich die Familien- und Paartherapie zu entwickeln. Damals wurden Liebesbeziehungen zumeist als eine Art emotionaler Geschäftsbeziehung angesehen. Es ging darum, die Gefühlskonten ausgeglichen zu halten. Partnerschaft wurde als Tauschgeschäft betrachtet, in dem das Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen erhalten oder wiederhergestellt werden musste. Die Idee, dass es in Beziehungen einen gewissen Ausgleich geben muss, hat noch immer eine Berechtigung. Ich komme auf dich zu, aber ich möchte auch, dass du auf mich zukommst. Du bist zuverlässiger, dafür mache ich unser Leben interessanter.

Aber mittlerweile verstehen wir Paarbeziehungen genauer.

Wir sind Beziehungswesen mit dem Bedürfnis nach Bindung und emotionaler Geborgenheit. Wir suchen emotionale Resonanz. Und wir besitzen ein feines Gespür, ob sich dieses Bedürfnis erfüllt. Ob wir unseren Partner gefühlsmäßig erreichen können, oder ob uns das nicht gelingt.

Wenn wir uns in unseren Liebesbeziehungen fragen: »Liebe ich ihn noch?« und »Liebt er mich noch?«, dann fragen wir danach, wo wir emotional gerade miteinander stehen. Ob wir uns voneinander entfernen und voreinander verschließen oder uns annähern und füreinander öffnen. Das ist gewiss nicht alles, was die Liebe ausmacht. Aber es erlaubt uns zu verstehen, was wir tun können.

Unsere Wahrnehmung, in unserer Beziehung »sei es wie immer«, ist ein Trugschluss. Wie die rote Königin aus »Alice im Wunderland« sagt: »Nun, hier, verstehst du, musst du so schnell rennen, wie du kannst, um auf der gleichen Stelle zu bleiben. Wenn du woanders hinkommen willst, dann musst du mindestens doppelt so schnell laufen!«

Wir strampeln uns in Beziehungen oft wahnsinnig ab, ohne einen Schritt von der Stelle zu kommen. Aber wir müssen nicht doppelt so schnell laufen, um woanders hinzukommen. Es reicht, wenn wir verstehen, wohin wir uns gerade bewegen. Wenn wir wissen, wodurch wir unsere Nähe zueinander verlieren. Und wie wir uns wieder aufeinander zubewegen können.

Im ersten Abschnitt beschreibe ich unser grundsätzliches Bedürfnis nach GEBORGENHEIT. Anschließend, was uns in Beziehungen voneinander weg führt. Die stets auftretende ESKALATION unserer Kommunikation und BINDUNGSVERLETZUNGEN. Zwei spezifische Bindungsverletzungen betreffen besonders viele Paare: Dem Umgang mit AFFÄREN und PORNOGRAFIE sind deshalb eigene Abschnitte gewidmet. Dann geht es um das zueinander hin. Die Abschnitte RITUALE, BINDUNGSSEXUALITÄT und VERLETZLICHKEIT beschreiben, wie wir uns in unseren Liebesbeziehungen immer wieder finden können.

II

GEBORGENHEIT

Sicherheit beschäftigt uns ständig so selbstverständlich, dass es uns gar nicht auffällt. Doch wir bringen Überwachungskameras an, lernen Karate und jagen jedes Produkt durch den TÜV. Eine Hausratversicherung abzuschließen ist natürlich nicht besonders sexy. Deshalb zeigen wir unseren Freunden lieber Fotos unseres Bungeesprungs als eine Kopie unserer Versicherungspolice.

Das Leben ist immer lebensgefährlich. Und weil das schon immer so war, haben sich in unserer Psyche Systeme gebildet, die unserer Sicherheit dienen. Als mittelgroße Affen, als Wesen ohne extrastarke Reißzähne, Panzer oder Giftdrüsen müssen wir uns auf unsere Sinne und unsere Intelligenz verlassen. Und finden letztlich Sicherheit, wenn wir uns dabei auf die Unterstützung anderer Menschen verlassen können.

Doch genau das wirft ein neues Problem auf. Denn auch unsere Artgenossen sind eine mögliche Gefahr für uns. Die meisten Konflikte haben wir mit Menschen, die uns vertraut und bekannt sind. Wir brauchen Sicherheit in unseren Beziehungen, um uns anvertrauen zu können. Und die Gewissheit, auf den anderen zählen zu können. Unser Gefühlsleben ist darauf ausgerichtet, diese Geborgenheit zu finden. Der Wunsch nach Zugehörigkeit, das Ringen um Vertrauen, um Zuverlässigkeit und Loyalität, und umgekehrt Eifersucht, Trennungs- und Verlustängste sind in unseren Beziehungen ständig präsent und beschäftigen uns psychisch mehr als irgendetwas sonst.

SICHERHEIT IM AUTONOMEN NERVENSYSTEM

Die meisten Prozesse in unserem Körper laufen autonom ab. Die Natur hat sicher gut daran getan, dass wir nicht auch noch daran denken müssen, dass unser Herz weiterschlägt, wenn wir schon ständig vergessen, wo wir unser Smartphone abgelegt haben. Auch die meisten Prozesse unserer Psyche laufen ohne unser bewusstes Zutun ab. Wenn es in unserer Nähe einen lauten Knall gibt, erschrecken wir und wenden den Kopf reflexhaft der Schallquelle zu. Wenn jemand genauso aussieht wie unsere erste Liebe aus der Parallelklasse, dann können wir nicht verhindern, dass die Erinnerungen von damals in uns aufsteigen.

Der US-amerikanische Mediziner Dr. Stephen Porges nennt Wahrnehmungsprozesse, die unbemerkt von unserem Bewusstsein ablaufen, Neurozeption. Er entdeckte, dass der zum Parasympathikus gehörende Vagus-Nerv sich zu einem neuronalen System entwickelt hat, durch das unsere Mimik, Gestik und akustische Verarbeitung mit den Organen oberhalb unseres Zwerchfells verbunden sind. Sie fragen sich jetzt, was das bitte schön mit Ihren Eheproblemen zu tun hat? Nun, eine ganze Menge! Denn sobald wir eine Gefahr erkennen, dann »bereitet sich unsere Physiologie schon auf Defensivverhalten vor«. Ein Blick aus dem Augenwinkel, ein bestimmter Tonfall unserer Liebsten genügt und schon verziehen wir uns lieber in die Garage. Sozusagen klassisches Defensivverhalten. »Im Grunde«, so Porges, »funktioniert unser Körper wie ein Lügendetektor«. Wenn wir uns nicht sicher fühlen, dann beginnt sich unser Organismus auf eine Auseinandersetzung vorzubereiten. Er schaltet den beruhigenden Vagus-Anteil herunter und unser Gefühlsausdruck wird dadurch eingeschränkt.

Jetzt kann unser Liebster einen netten Scherz versuchen, um uns aufzumuntern. Aber wir können nur schwer darauf reagieren. Wir brauchen dann erst positive Zuwendung, um uns wieder besser öffnen zu können. Erst wenn wir uns gegenseitig und selbst beruhigt haben, können wir wieder konstruktive Beziehungsgespräche führen. Erst dann übernimmt unser Großhirn wieder, was uns kreativ und produktiv macht. »Entscheidend ist … unsere Fähigkeit zu reziproker Interaktion, zu gemeinsamer Regulation des physiologischen Zustandes, und die Fähigkeit, Beziehungen aufzubauen, in denen die Beteiligten sich sicher fühlen können«, so Porges. Einseitige Beziehungen, in denen die Reziprozität, also Wechselseitigkeit, fehlt, brechen wir ab. Porges sagte in einem Interview, dass so viele Paare auf der Therapeutencouch landeten, läge daran, dass viele Menschen Verbindungen zu einem Partner eingehen, mit dem sie sich nicht sicher fühlen.

Ganz so einfach ist es wohl nicht. Aber tatsächlich wählen wir Partner nicht anhand der Sicherheitsnormen eines Gefühls-TÜVs aus. Wir suchen romantisch. Es soll sich möglichst aufregend anfühlen. Die Schmetterlinge sollen wie aufgescheucht flattern und nicht im Sicherheitskoma zusammengefaltet aufeinanderliegen. Gefühle der Bedrohung interpretieren wir in der Verliebtheitsphase leicht als erotische Erregung. Und Sicherheit suchen wir an der starken Schulter. Für die Anzeichen, dass sich deren mächtiger Besitzer auch gegen uns wenden könnte, sind wir in den Zeiten der Verliebtheit blind. Und je mehr Unsicherheit oder gar Bedrohung wir als Kind oder Jugendlicher in Beziehungen erlebt haben, umso vertrauter sind uns diese Gefühle. Und umso leichter gehen wir Beziehungen ein, in denen wir nicht geborgen sind.

Doch auf der Couch des Therapeuten landen Paare weniger durch die Nichteinhaltung von Sicherheitsstandards bei der Partnerwahl als durch das alltägliche Scheitern, eine gute und sichere Bindung miteinander zu erhalten.

BINDUNG

Wir sind eine Spezies, der es gelingt, relativ friedlich mit achtunddreißig Millionen anderen in Tokio zu leben. Doch für unsere psychische Stabilität brauchen wir keine achtunddreißig Millionen andere. Wir brauchen feste, verlässliche Beziehungen zu einigen wichtigen anderen. Eine Zufallsbekanntschaft reicht einem Baby als Mutter nicht aus. Einen Lebensabschnittsgefährten suchen wir für fünfzehn Jahre, nicht für fünfzehn Tage. Auch wenn wir als Twens eine Phase emotionalen Nomadentums durchlaufen und begeistert durch Beziehungen torkeln, wie Kinder, denen man einen Spielzeugladen geschenkt hat. In Kindertagen sind feste Bindungen existenziell, um zu überleben. Im Erwachsenenalter sind sie entscheidend für unsere psychische Stabilität und unsere körperliche Gesundheit. Und wir sind durch die Evolution körperlich und seelisch für feste Bindungen geformt. Deshalb schaffen wir es, unsere Kids schlappe dreißig Jahre, bis sie endlich mit dem Kiffen aufhören und ihren ersten Job annehmen, liebevoll zu betreuen. Deshalb können wir einander versprechen, bis an die Grabkante zusammenzubleiben, und feiern massenhaft silberne Hochzeiten.

Unser Gehirn ist kein einsames Organ. Es sucht die Resonanz mit anderen Gehirnen. Menschen sind keine Inseln. Wer gute Beziehungen hat, der lebt nicht nur glücklicher, sondern auch gesünder und länger. In einer einzigartigen Studie der Harvard University werden 724 Männer seit 1938 erforscht. Das Ergebnis ist eindeutig. Gute Beziehungen halten uns gesund und glücklich. Einsamkeit tötet. Dabei kommt es nicht auf die Menge der Beziehungen an, sondern auf die Qualität. Die Fünfzigjährigen, die mit ihren Beziehungen am zufriedensten waren, waren als Achtzigjährige am gesündesten.

Aus Untersuchungen zur Eltern-Kind-Beziehung wissen wir, dass Bindung mehr bedeutet, als dass jemand uns ausreichend versorgt, um körperlich zu überleben. In einer gelungenen Bindung erleben wir, dass jemand unsere Bedürfnisse versteht und beantwortet. Jemand fühlt sich verlässlich in uns ein. Wer diese Erfahrung gemacht hat, der vertraut und kann sich auf feste Bindungen angstfrei einlassen.

Vertrauen ist das zentrale Gefühl, das Fundament unserer Liebesbeziehungen. Wir brauchen das Vertrauen, dass unser Partner die Beziehung zu uns wichtiger nimmt als jede andere Liebesbeziehung, ausgenommen der zu seinen Kindern. Dass er sich dafür einsetzt, dass wir ein Paar bleiben. Letztlich, dass die Beziehung das ist, was er will, dass wir es sind, die er will. In einer sicheren Bindung wissen wir, dass wir im anderen verlässlich vorkommen.

Dass wir Beziehungen aus gefühlsmäßigen Gründen eingehen und Gefühle unser Seelenleben bestimmen, ist schnell einzusehen, während das Wort »Bindungsbedürfnis« immer etwas abstrakt klingt. Gemeint ist, dass Menschen für uns da sind, wenn wir sie brauchen. Wobei das wiederum schnell nach Ausnahmezustand klingt. Tatsächlich brauchen wir andere immer: Um zu lieben, Spaß zu haben, uns nicht einsam zu fühlen, weniger Angst zu haben und uns streicheln zu lassen. Wir wissen immer, wie wir uns gerade in unserer Liebesbeziehung fühlen. Wir denken aber nicht über Bindung nach. Wir fragen uns, ob uns der andere liebt und ob wir den anderen lieben.

Bindungsbedürfnisse bedeuten, wir wollen uns sicher sein, dass die Geborgenheit, die wir gefunden haben, weiter bestehen wird. Wir suchen einen verlässlichen Bezug. Oder wie es in der Bindungsforschung gern genannt wird: Wir suchen den sicheren Hafen. Das ist ein klares Bild. Wir cruisen auf dem offenen Meer herum, fangen Fische, segeln um die Wette, lassen uns in der leichten Brise treiben. Aber sobald Sturm aufzieht, brauchen wir die schützende Hafenanlage, um dort sicher vor Anker zu gehen. Das ist unsere Bindungssicherheit. Der Hafen ist für uns da. Die Einfahrt ist nicht gesperrt, die Ankerplätze sind nicht belegt. Wir können einlaufen, wann immer es für uns wichtig ist.

Die zentrale Frage im Bindungsgeschehen lautet dann auch ganz einfach: »Bist du für mich da?«

Wir kommen mit dieser Frage auf die Welt. Und sie endet, wie wir aus vielen Untersuchungen wissen, nicht mit dem ersten Gehaltsscheck. Wir stellen sie unser Leben lang. Wir schreien und heulen nicht mehr haltlos, wenn unser Liebster ins Nebenzimmer geht. Aber falls er das Haus verlässt, ohne uns Bescheid zu geben, löst das schon Unruhe oder gar Panik in uns aus.

ERREICHBARKEIT UND WOHLWOLLEN

»Die vielleicht wichtigste Botschaft der Bindungstheorie ist, dass emotionale und physische Isolation von Natur aus traumatisierend für Menschen ist und vom menschlichen Gehirn als Gefahr codiert wird, während beruhigende Nähe zu anderen als Sicherheit codiert wird«, schreibt die Paarforscherin Susan Johnson. Und legt damit die Grundlage, um unser Verhalten in Liebesbeziehungen zu verstehen.

Im Grunde ist es leicht nachzuvollziehen: Damit der andere für uns da sein kann, müssen wir ihn erreichen können. Wenn wir um Hilfe rufen, und er hört uns nicht, kann er nicht für uns da sein. Damit ist nicht gemeint, dass er sein Handy nie abschalten darf. Obwohl das das Mittel der Wahl ist, wenn unklar ist, wer die Kleine vom Hort abholt. Gemeint ist die gefühlsmäßige Erreichbarkeit. Hörst du mir zu? Willst und wirst du mich verstehen? Fühlst du mit mir? Ist es dir wichtig, was in mir geschieht? Unser Bindungssystem ist wie ein Systemadministrator, der ständig darauf achtet und dafür sorgt, dass unsere Verbindung zum Partner steht. Dieses Bedürfnis treibt unser Verhalten in Beziehungen an. Wenn die (Ver-)Bindung gefährdet ist, sind wir alarmiert. Und tun alles, um wieder zu einem sicheren Bindungsgefühl zu gelangen. Wir werden klein und flehend oder mächtig und fordernd. Je nachdem, welche Erfahrungen wir aus unseren ersten Bindungsbeziehungen mitbringen.

Wir streiten uns, weil sie wieder Überstunden geschoben hat und darüber vergessen hat, dass wir zum Kino verabredet waren. Wir sind fassungslos, wie leicht sie es vergessen konnte. Sie ist sauer, weil wir nicht nachvollziehen, wie viel Arbeit sich vor ihr auftürmt. Wir fühlen uns beide unverstanden, die Türen knallen. Doch hinter der Wut liegen unsere verletzten Bindungsbedürfnisse. Die Enttäuschung, dem anderen nicht wichtiger zu sein. Die Verzweiflung, dass unsere Gefühle bei ihm nicht ankommen. Der Schmerz, nicht für unsere Mühen anerkannt zu werden. Die Traurigkeit und Einsamkeit darüber, nicht verstanden zu werden.

In uns werden Ängste berührt, die in unseren Erfahrungen als Kinder und Jugendliche wurzeln. Wir fürchten, zu viel zu sein, wie für unsere überforderten Eltern. Wir fühlen uns minderwertig, nicht gut genug für unseren Partner, schämen uns für unsere Schwächen und fürchten, abgelehnt zu werden. Weil wir als Kinder beschämende, schreckliche Erfahrungen gemacht haben, als dumm, böse oder eigensinnig galten oder aus irgendeinem anderen Grund nicht geliebt wurden.

In unserer Liebesbeziehung werden diese Gefühle geweckt. Der Kuss des Traumprinzen, durch den die verwunschene Prinzessin zum Leben erwacht, weckt auch diese dunklen Gefühle. Das ist der Fluch, der auf jeder Liebesbeziehung lastet. Aber auch die Chance. Wenn der Prinz hält, was wir uns von ihm versprochen haben, dann können wir eine andere Erfahrung mit ihm machen, eine, die uns Geborgenheit vermittelt. Eine, die uns von unseren Bindungsängsten heilt. Denn Bindungsängste, das ist bewiesen, sind kein unveränderbares Schicksal.

Wenn wir es schaffen, einander zu erreichen, dann bleiben triviale Dinge triviale Dinge. Dann bleibt die Jacke, die in der Reinigung vergessen wurde, die Jacke, die in der Reinigung vergessen wurde. Sie wird nicht zum Auslöser, die Beziehung infrage zu stellen, weil wir uns durch seine Unachtsamkeit nicht geachtet und geliebt fühlen. Aber wenn wir einander nicht erreichen, dann hängt auf einem Bügel aus Draht keine vergessene Jacke aus blauem Wollstoff, sondern der bedrohliche Beweis gefährlicher Lieblosigkeit.

Wenn es um Erreichbarkeit geht, dann ist das Schlimmste, keine Reaktion zu bekommen. Wenn wir einen Streit beginnen wollten, dann müssten wir nur jeden Gesichtsausdruck unterbinden. Und auf nichts, was der andere sagt, reagieren. Wenn wir einfach ausdruckslos blicken oder unseren Blick abwenden, dann alarmiert das unseren Partner augenblicklich. Der weltweit führende Paarforscher John Gottman hat schon vor Jahren beschrieben, woran trennungsgefährdete Paare zu erkennen sind. Es sind vier Verhaltensweisen: Kritisieren, Verachten, Abwehren und Mauern. Sie sind genau deshalb Liebeskiller, weil wir einen Partner, der sich hinter ihnen verbirgt, nicht mehr erreichen können.

Beim Kritisieren kommen wir nicht an unseren Liebsten heran, weil der nichts Besseres zu tun hat, als uns ständig aufzuzeigen, was bei uns falsch läuft. Er klagt uns an und findet uns generell nicht richtig.

Beim Verachten sind wir für den Partner bereits nicht mehr ebenbürtig. Wir werden nur noch entwertet. Er gibt uns keine Chance mehr, ihn zu erreichen. Weil er uns nicht mehr genügend wertschätzt, um uns überhaupt ernst zu nehmen.

Beim Abwehren ist unser Partner immer reaktiv. Er wendet alles direkt auf uns zurück. »Aber du, du machst doch immer genau dasselbe …«, bekommen wir zu hören. Er nimmt gar nicht mehr auf, was wir an ihn herantragen. Wir dringen nicht mehr zu ihm vor. Er verleugnet seine Anteile an unseren Konflikten.

Und dann bleibt noch das Mauern. Das ist Nicht-Erreichen pur. Der Partner reagiert nicht auf uns, so als hätten wir gar nichts gesagt, getan oder gefragt. Wir laufen vor die Wand. Genauso gut könnten wir gleich ein Gespräch mit einer realen Wand beginnen.

Wer diese Verhaltensweisen an sich wahrnimmt, der sägt an den Wurzeln seiner Beziehung. Weil er die Verbindung kappt, die für eine Liebesbeziehung lebensnotwendig ist.

Was aber noch wichtiger ist: Je zugewandter, vertrauensvoller und geborgener wir unsere Beziehung gestalten, desto weniger werden wir vom Partner eingeengt und ignoriert. In festen Beziehungen ist Freiheit das Kind der Geborgenheit. »Wir alle sind, von der Wiege bis zur Bahre, dann am zufriedensten, wenn das Leben als eine Reihe langer oder kurzer Streifzüge von der sicheren Basis aus, die unsere Bezugspersonen bereitstellen, strukturiert ist«, schrieb der englische Psychiater John Bowlby, der als Erster die Bedeutung von Bindungsprozessen erfasste. Sicher gebundene Kinder, die sich von den Eltern verstanden, angenommen und geliebt fühlen, erobern mutig und selbstbewusst die Welt um sie herum. Wenn für uns Erwachsene unser Grundbedürfnis nach guter Bindung befriedigt wird, empfinden wir Zuneigung und Liebe füreinander. Wir sind wohlwollend zueinander. Wir möchten, dass es unserem Liebsten gut geht. Wir sind tolerant gegenüber seinen Macken und bekommen nicht jedes Mal die Krise, dass er unbedingt zum Windsurfen muss, weil der Wind gerade so geil ist. Wenn wir wohlwollend sind, dann unterstützen wir uns in dem, was für jeden von uns bedeutsam ist. Wohlwollen ist der alltagstaugliche kleine Bruder der Liebe und wird oft übersehen. Dabei spüren wir genau, wann uns das Wohlwollen gegenüber dem anderen verloren geht. Immer dann, wenn wir unseren Liebsten nicht erreichen können. »Das Leben sind die Menschen, die du liebst. Niemand wird sich wegen eines iPhones dafür entscheiden, am Leben zu bleiben«, schreibt der englische Schriftsteller Matt Haig.

DIE FREIHEIT, DEN WUNSCH NACH SICHERHEIT ZU FÜHLEN

Aber sind Sicherheit und Geborgenheit heute nicht deshalb so große Themen, weil sie uns durch soziale Umbrüche und technologische Veränderungen abhandenkommen? Suchen wir vielleicht nur mehr Sicherheit in unseren Liebesbeziehungen, weil sie uns in der Welt zunehmend verloren geht? Der Rückzug ins Private, in ein kuscheliges Beziehungsleben ist ja eine mögliche Reaktion auf ein Leben, das als unkontrollierbar und überwältigend erlebt wird.

Andererseits: Haben wir nicht in einigen Teilen dieser Welt, und auch in dem, in dem ich diese Zeilen gerade schreibe, ein hohes, beruhigendes Ausmaß an Sicherheit erreicht? Eine Sicherheit, die sich auch unmittelbar auf unsere Paarbeziehungen auswirkt. Die sexuelle Befreiung der Sechzigerjahre startete im nicht unbedingt für ausschweifende erotische Lebensfreude berüchtigten Skandinavien. Warum? Weil es dort, wie die Sexualtherapeutin Esther Perel beschreibt, die besten sozialen Sicherungssysteme gab. Frauen mussten nicht mehr aus ökonomischen Gründen mit den Vätern ihrer Kinder zusammenbleiben. Sicherheit schuf sexuelle Freiheit.

Wir haben keine arrangierten Ehen mehr. Wir heiraten nicht mehr rein aus ökonomischen oder moralischen Zwängen. Zwar bleiben unbefriedigende Beziehungen auch heute noch aus ökonomischen Gründen bestehen, weil »es sich in seidenen Kissen besser weint«, wie eine wohlhabende Klientin bemerkte, die lieber ihren sozialen Status behielt, als ihren Gefühlen zu folgen und sich zu trennen. Und auch die Verarmungsgefahr Alleinerziehender ist ganz real. Aber meistens folgen wir unseren Gefühlen. Leben in serieller Monogamie oder schlagen uns selbst zum einsamen Ritter und verzichten auf feste Bindungen. Oder »tindern« uns einfach einen (Sex-)Partner, wann immer wir einen benötigen.

Um Freiheit müssen wir mit anderen Worten nicht mehr vorrangig kämpfen. Was nicht heißt, dass wir wirklich frei sind. Was früher äußere Zwänge waren, ist jetzt eher in veränderter Gestalt in uns hineingewandert. Als Anspruch zur Selbstoptimierung, als Forderung, das Beste aus uns zu machen und eben eine perfekte Ehe zu führen. Sexuell überwältigend, emotional erfüllend, ökonomisch der Kracher.

Aber trotz des fatalen Leistungsdrucks, der auf unseren Beziehungen liegt wie die Feinstoffwolke über der Stadt, können wir unser Bedürfnis nach Sicherheit jetzt, wo wir Entscheidungsfreiheit haben, als emotionales Bedürfnis wahrnehmen. Wir suchen Beziehungen und bleiben in unseren Partnerschaften, weil wir uns dort wohlfühlen und die Vertrautheit, die emotionale Sicherheit schätzen, die uns feste Beziehungen bieten. Wir sind frei genug, unser emotionales Grundbedürfnis nach Geborgenheit wirklich anzuerkennen und zu lernen, wie es unser Verhalten in Liebesbeziehungen prägt.

BEZIEHUNGEN HEILEN

Rabea und Peter waren gemeinsam im Theater. Anschließend fragte Rabea, ob ihm das Stück gefallen habe. Peter hatte es eher kaltgelassen. Aber weil Rabea begeistert wirkte, wurde Peter unsicher. Vielleicht hatte er es nicht richtig verstanden? Da er vor Rabea nicht dumm dastehen wollte, nuschelte er irgendwas von »ach, ging so« und sah dann schweigend aus dem Autofenster. Keine Reaktion zu bekommen ärgerte Rabea. Und statt noch wie verabredet beim Italiener einen Rotwein zu trinken, steuerte sie das Auto gleich wütend nach Hause.

Als wir über diese Situation sprechen, ist Peter zerknirscht. Diese Situationen sind ein Dauerthema bei ihnen. Er verzieht sich in sein Schneckenhaus. Und Rabea steht dann hilflos und wütend davor. Peter meint, er werde wohl besser noch mal eine Therapie machen, um an seinen Minderwertigkeitsgefühlen zu arbeiten. Ich mache ihm einen anderen Vorschlag. Ich schlage ihm vor, die Beziehung als den Ort der Veränderung zu verstehen. Und statt noch weiter aus der Beziehung herauszugehen, um in einem Therapieraum endlich der Mann zu werden, der er meint, sein zu müssen, gleich in der Beziehung zu bleiben, und der Mann zu werden, der er ist.

Eine Beziehung ist die beste Heilerin, die wir kennen. Sonst würden Psychotherapien und ärztliche Gespräche nicht helfen.

Wir wissen um die positiven Auswirkungen, die Beziehungen auf unsere Gesundheit und unsere Heilungsprozesse haben. Und wir wissen auch, dass wir durch positive Beziehungserfahrungen sogar unsere grundsätzlichen Bindungsmuster verändern können. Doch so wichtige, manchmal lebensverändernde Erfahrungen werden wir nur machen, wenn wir in die Beziehung investieren.

Peter hatte die Gelegenheit dazu; statt stumm auf die Fahrbahn zu schauen, hätte er sagen können, dass er gerade wieder genau das Gefühl bekommt, das er kennt. Dass er sich sorge, Rabea würde etwas Großartigeres von ihm erwarten. Darüber hat er mit Rabea schon einige Male gesprochen. Es wäre keine Enthüllung. Aber er fühlt Scham. Und dieses Gefühl gegenüber Rabea zu äußern würde die Möglichkeit schaffen, dass die Beziehung heilen kann. Unsere Beziehungen heilen uns, wenn wir erleben, dass uns unsere Partner annehmen.

Unser Partner kennt unsere Schwächen längst. Aber wir sind, wie Peter, zu sehr damit beschäftigt, unsere Probleme selbst lösen zu wollen. Wir wollen anders, besser sein. Angstfreier, souveräner, verständnisvoller. Wir haben Angst, unserem Liebsten nicht zu genügen, nicht gut genug für ihn zu sein. Doch statt zu versuchen, diese Ängste alleine zu lösen, können wir sie teilen, wenn wir sie in der Gegenwart des Partners erleben. Das ist der Königsweg. Er ist nicht einfach. Er ist intim. Er ist unsere Chance.

NICHT DASS, SONDERN WIE

Corinna entschuldigt sich. Sie war mit Gert auf einer Party. Das Übliche, Alkohol und viele Worte. Corinna hatte kichernd zum Besten gegeben, wie sorgfältig Gert Klappstühle vor der Tür ihres Ferien-Bungalows aufgeschichtet hatte. Damit Einbrecher ordentlich Lärm machen würden. Und wie sie einen Scheißschreck bekommen hätten, als nachts alles zusammenbrach. Natürlich kein Einbrecher weit und breit. Hahaha. Gert war darüber verletzt und wütend. Wieso sie das erzähle? Was das solle? Sie fand erst mal, er stelle sich an. Worauf sie sich das restliche Wochenende anschwiegen. Aber jetzt gerade sagt Corinna: »Ja, das war blöd von mir! Es tut mir leid, ich verstehe, dass dich das verletzt hat.« Gert nickt, schaut sie zögernd an. »OKAY.« Er lächelt vorsichtig.

»Okay? Wirklich?«, frage ich. »Dass Sie sich versöhnen, ist schön, aber, Corinna, wissen Sie wirklich, was genau Gert gekränkt hat?« Das Paar schaut mich fragend an.

Unser inneres Leben ist nicht sichtbar. Niemand kann in uns hineinblicken. Um nicht einsam und isoliert zu sein, brauchen wir andere, die unser Innenleben verstehen wollen. »Du verstehst mich!« ist ein erfüllendes Gefühl. Denn es ist die Gewissheit, den anderen erreicht zu haben. Wir sind nicht allein.

Das Gefühl von Nähe und Verbundenheit stellt sich ein, wenn wir unseren Partner tatsächlich verstehen. Und umgekehrt, wenn wir uns verstanden wissen. Diese Gewissheit herzustellen ist im Grunde einfach. Es geschieht aber in Beziehungen meistens nicht. Gerade weil wir davon ausgehen, dass wir einander gut kennen und verstehen, glauben wir, dass wir den anderen verstehen. Und belassen es beim »Ja, das verstehe ich.« Doch wir können nur sicher sein, einander richtig verstanden zu haben, wenn wir beschreiben, wie wir einander verstanden haben. Wie, glauben wir, hat der andere die Situation erlebt? Und welche Gefühle wurden dadurch in ihm ausgelöst? Sobald wir erfragen, ob unser Verständnis korrekt ist, kann uns unser Partner bestätigen oder uns korrigieren. Dann erst wissen wir, wir haben richtig verstanden. Und unser Partner weiß erst dann, dass er wirklich verstanden wurde.