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Türkisblaues Wasser, raue Steilküsten, kilometerlange Sandstrände – der Sommer in St Trenyan/Cornwall hat einiges zu bieten. Leider ist Demi viel zu beschäftigt, um ihn zu genießen. Sie arbeitet als Kellnerin in einem kleinen Strandcafé, um sich und ihren Hund Mitch über die Runden zu bringen.

Dann verliert sie ihren Job – und trifft Cal. Er hat ein Anwesen in der Nähe einer idyllischen Bucht geerbt. Das alte, baufällige Haus und das vernachlässigte Gelände will er in eine Ferienanlage umwandeln, und er braucht dringend Unterstützung. Auf einmal hat Demi wieder Arbeit. Und während sie gärtnert, Wände verputzt und Dachziegel anbringt, träumt sie von ihrem eigenen kleinen Café. Aber auch ihr neuer Chef beschäftigt sie – obwohl der es ihr nicht gerade leicht macht. Trotzdem fühlt sie sich zu ihm hingezogen. Wenn nur Cals Exfreundin nicht wäre, für die er noch Gefühle zu hegen scheint. Als Cal erkennt, was Demi ihm bedeutet, ist es fast zu spät …

 
autor

Phillipa Ashley studierte Anglistik und arbeitete als Werbetexterin und Journalistin. Seit 2005 veröffentlicht sie Romane und wurde dafür mit dem ›Romantic Novelists Association New Writers‹-Award ausgezeichnet. Sie lebt mit ihrer Familie in Shaffordshire.

 

Marion Herbert studierte Literaturübersetzen in Düsseldorf, sie übersetzte zuletzt die Romane des Autorenduos Laura Tait und Jimmy Rice sowie u. a. Neuausgaben von Virginia Woolf und Antoine de Saint-Exupéry.

Phillipa Ashley

Hinter dem Café
das Meer

Roman

Aus dem Englischen von
Marion Herbert

 

 

 

 

Für Rowena Kincaid,
eine einzigartige Frau

 

 

 

 

Gib niemals auf, denn genau dann und dort
werden die Gezeiten wechseln.

Harriet Beecher Stowe

welle Prolog welle

»Einen wunderschönen guten Morgen, Cornwall, und herzlich willkommen zur Morningshow von Radio St Trenyan! Am Mikrofon ist euer Lieblingsmoderator Greg Stennack. Also raus aus den Federn, diesen Tag sollte man nicht verschlafen. Die Sonne scheint, die Wellen warten schon – beste Voraussetzungen für einen gelungenen Start ins Osterwochenende. Ob ihr hier zu Hause seid oder nur zu Besuch in dieser besonders schööönen Ecke von West-Cornwall – bleibt dran! Ihr hört den besten Radiosender weit und breit, denn nur wir haben für euch die neusten Hits und die heißesten News. Und die leckersten Pasteten weit und breit gibt es bei unserem Sponsor Hayleigh’s. Also, jetzt geht’s los mit ›Happy‹ von Pharrell. Lass es krachen, Pha …«

Ich schrecke aus einem Albtraum hoch, in dem ich von einer Riesenpastete angegriffen wurde, und taste nach dem Ausschalter des Radioweckers, um Gregs Enthusiasmus abzuwürgen. Eigentlich schade, auch Pharrell abzuwürgen, aber ich muss aufstehen, duschen und mich für die Arbeit fertig machen. Zwei Stockwerke unter meinem Dachzimmer höre ich, wie meine Chefin Sheila schon in der Küche des Cafés die Lieder aus dem Radio mitsingt, obwohl es erst sechs Uhr morgens ist.

Sagte ich »sechs«? Stöhnend ziehe ich mir noch mal die Decke über den Kopf, aber am Fußende schiebt sich eine feuchte Schnauze darunter, und eine warme Zunge leckt über meinen großen Zeh. Nicht nur Greg findet, dass man diesen Tag nicht verschlafen sollte.

»Ist ja gut, Junge. Ich hab dich nicht vergessen«, murmele ich durch die Bettdecke.

Mein Hund Mitch glaubt mir offenbar nicht, und ich stoße ein »Uff« aus, als er auf mich draufspringt.

Ich schlage die Decke zurück und habe sofort eine haarige Schnauze im Gesicht und einen Schwall frühmorgendlichen Hundeatem in der Nase.

»Iih, Mitch. Was hast du denn gestern Abend gefressen? Okay. Okay. Ich steh ja schon auf!«

Nachdem ich Mitch sanft von mir runtergeschoben habe, quäle ich mich aus dem Bett und gehe hinüber zur Dachluke. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, ziehe den blau karierten Vorhang zurück, schiebe die Luke einen Spaltbreit auf und spähe hinaus. Es ist so gleißend hell, dass ich blinzeln muss. Der Himmel über dem Küstenstädtchen St Trenyan ist schon jetzt postkartenblau, und ich kann das Salz in der Luft fast schmecken. Am Strand vor dem Café, in dem ich seit ein paar Wochen arbeite, tuckert ein Traktor hin und her und ebnet den Sand, damit die Liegestühle aufgestellt werden können.

Im Hafen hinter dem Strand wippen Bootsmasten auf und ab. Ein paar Leute sind schon auf, joggen über den platten Sand oder werfen ihren Hunden Bälle ins Meer. Als der Wind das Rattern des Traktors und Fetzen von fernem Hundegebell durchs Fenster trägt, jault Mitch begeistert auf. Ich hole tief Luft und schließe das Fenster. Es ist Ostern: Gezeitenwechsel, ein neuer Tag und der Beginn eines Sommers.

Ich frage mich, was er wohl bringen wird.

welle 1 welle

Die Gäste, die immer etwas zu meckern haben, egal, wie sehr man sich bemüht, erkennt man sofort. Doch ich weiß, als ich nach meinem Notizblock greife, um die Bestellung aufzunehmen, dass der Mann an Tisch sechzehn nicht zu ihnen gehört.

Dieser Tisch in der Ecke unter dem Dunstabzug der Küche hat ein wackeliges Bein, und die meisten Leute setzen sich nur im Notfall dorthin, aber ich habe den Typen direkt darauf zusteuern sehen, obwohl vorhin noch andere Plätze mit schönerer Aussicht frei waren.

»Sheilas Strandhäuschen« ist ein tolles Café, es hat die beste Lage von allen Cafés in St Trenyan, aber der Kerl könnte ebenso in irgendeiner trendigen Londoner Espressobar sitzen. Er ist in einen Times-Artikel vertieft, sodass er gar keinen Blick hat für den sahnefarbenen Sand, das türkisblaue Meer mit den kleinen, schäumenden Wellen oder die bunt gemischte Gruppe von Urlaubern, die am Strand vor dem Café in der Sonne liegen oder Cricket spielen. So früh im Jahr ist das Wasser eigentlich sogar zum Paddeln zu kalt, aber am anderen Ende des Strands versuchen dennoch ein paar unerschrockene Surfer, die größeren Wellen zu erwischen. Die Surfschule hat ihre Ständer mit Neoprenanzügen und gelben Schwimmbrettern hinausgeschoben und ein Schild aufgestellt, auf dem sie verspricht, jedem in zwei Stunden das Wellenreiten beizubringen. Ja, klar. Ich bin in Cornwall aufgewachsen und kann es immer noch nicht.

Ich klappe meinen Notizblock auf und halte den Stift bereit. »Sie wünschen, Sir?«

»Hmm …«

»Darf ich Ihnen etwas bringen, Sir?«

»Einen doppelten Espresso«, nuschelt er, ohne auch nur den Blick vom Zeitungsartikel abzuwenden. Er liest die Klatschseite. Ich sehe ein Bild von einer glamourösen Blondine, die an einem Filmset hinter der Kamera steht. Vielleicht ist er doch nicht so der intellektuelle Typ?

»Darf’s sonst noch was sein? Ein Toastie? Kuchen? Wir haben auch selbst gebackene Blaubeermuffins.«

»Nur Kaffee«, knurrt er und blättert hastig zur Literaturseite um.

Okay. Mir doch egal, wenn du keinen von den köstlichen Muffins willst, die ich heute Morgen gebacken habe, denke ich. »Kommt sofort, Sir.«

»Sie müssen mich nicht ›Sir‹ nennen«, sagt er und fügt dann ein schroffes »Danke« hinzu.

Ich könnte ihm jetzt erklären, dass er sich nichts darauf einbilden soll und ich alle männlichen Gäste zwischen fünfundzwanzig und fünfundneunzig so anspreche und ich Typen wie ihn schon kenne. Ich kann zwar sein Gesicht nicht richtig sehen, aber erkenne genau, dass seine Arme und Hände sogar jetzt nach dem Winter stark gebräunt sind. Sein khakifarbenes Sweatshirt schlabbert an seinem schlanken Körper, und er hat sich seine schwarze Beanie-Mütze über die Ohren gezogen, obwohl die Sonne schon ziemlich warm ist. Typischer Möchtegern-Surfer, der sich bestimmt gerade eine Auszeit von seinem Job in der Londoner City nimmt. Ist wahrscheinlich direkt von Bondi Beach oder einem französischen Alpen-Resort nach Cornwall geflogen. Hat wahrscheinlich Skier und Surfbrett im Kofferraum seines Geländewagens in der Einfahrt vor dem Ferienhaus seiner Eltern in Rock. Nicht, dass ich Vorurteile hätte oder so.

Ich gerate ganz schön ins Schwitzen, als ich mich einen Moment später in meiner weißen Bluse und der schwarzen Hose mit einer Ladung heißer Pasteten auf die Terrasse hinausschlängele. Inzwischen sind drinnen und draußen alle Tische besetzt, es sitzen sogar Leute auf der Mauer zum Strand von St Trenyan. Das Strandhäuschen hat nicht nur eine fantastische Aussicht und Sheilas berühmte Pasteten im Angebot, sondern auch eine entspannte Atmosphäre, die es bei Surfern, Familien und Hundebesitzern gleichermaßen beliebt macht.

»Hey, Sie da!«

Eine Kundin von Tisch zwölf ruft nach mir. Sie ist bestimmt noch keine dreißig, aber sie wirkt älter und gehetzt. Offensichtlich ist sie mit ihrem Vater und einer jüngeren Schwester hier. Beide sehen ihr ähnlich. Die mutmaßliche Schwester ist vielleicht achtzehn oder neunzehn – ein paar Jahre jünger als ich. Im Gegensatz zum Mützen-Typ will besagte Kundin definitiv Aufmerksamkeit erregen. Mit ihrem taillierten, schwarzen Business-Kostüm, den High Heels und dem starken Make-up sticht sie zwischen den Touristen heraus. Ihre Begleiter machen keinen besonders glücklichen Eindruck. Der Vater runzelt immerzu die Stirn, und seine jüngere Tochter ist geschminkt wie ein Emo. Andererseits – vielleicht sieht sie nur deshalb so traurig aus.

Die Frau im Kostüm schaut auf ihre strassbesetzte Uhr und spitzt die Lippen.

»Entschuldigung. Hören Sie nicht? Wir warten schon seit Stunden. Wann nehmen Sie endlich unsere Bestellung auf?«

Genau genommen ist sie erst seit fünf Minuten hier, aber ich schenke ihr mein strahlendstes Lächeln. Der Kunde ist König, und ich kann es mir nicht leisten, irgendjemanden zu verärgern, denn Mitch und ich brauchen diesen Job dringender, als die meisten Leute es sich vorstellen können.

»Das tut mir leid, Madam.«

»Der Personalbedarf ist offensichtlich nicht entsprechend geplant.«

Ich könnte ihr erklären, dass das Personal aus mir, Sheila, ihrer Nichte (die nur auftaucht, wenn die Wellen sich nicht zum Surfen eignen) und Henry (der sich heute Morgen wegen eines entzündeten Brustwarzen-Piercings krankgemeldet hat) besteht, aber ich glaube nicht, dass das helfen würde.

»Ich bitte um Verzeihung. Ich werde Ihre Beschwerde an die Chefin weiterleiten. Darf ich jetzt Ihre Bestellung aufnehmen, damit wir Sie so schnell wie möglich bedienen können?«

»Wir haben uns noch nicht entschieden, oder?« Sie sieht die anderen fragend an. Ihre Emo-Schwester starrt weiter auf ihr Handy, während ihr Vater, der um die fünfzig sein muss, finster die Speisekarte mustert und gelangweilt seufzt. Ich setze ein Lächeln auf, beantworte eine lange Reihe von Fragen zur Karte und warte dann, bis sie sich entschieden haben.

Zwanzig Minuten später, nachdem ich dem Mützen-Typen seinen Espresso gebracht, etliche andere Tische bedient und noch einen Haufen Bestellungen aufgenommen habe, ruft mich Sheila zur Essensausgabe in die Küche. Sie schiebt mit rotem Gesicht zwei dampfende Pasteten und ein Stück Quiche auf drei Teller. »Bitte schön. Eine Fleischpastete, eine mit Käse und Speck und eine Spinat-Ricotta-Quiche für Tisch zwölf. Du hast gemeint, es sind schwierige Gäste, also gebe ich ihnen noch eine Extrabeilage.«

»Danke, Sheila. Ich bediene sie sofort.«

»Und kannst du auf dem Rückweg bitte ein paar Tische abräumen? Da draußen ist die Hölle los, und wir brauchen am Feiertagswochenende so viele Gäste wie möglich. Ich kann gar nicht fassen, dass das Wetter so früh im Jahr schon so fantastisch ist. Das wärmste Ostern, an das ich mich erinnern kann. Wenn das hier diese Klimaerwärmung ist, dann her damit.«

»Kein Problem, Chefin.«

Sheila weiß sehr genau, was sie will, aber sie ist wirklich fair. Ich bekomme zwar nur den Mindestlohn, dafür aber noch etwas für mich viel Wichtigeres obendrauf: Sie lässt mich mit meinem geliebten Hund Mitch kostenlos auf dem winzigen ausgebauten Dachboden des Cafés wohnen. Trotz der langen Arbeitszeiten und schwierigen Gäste bin ich unendlich dankbar, dass ich nun einen Job und ein Dach über dem Kopf habe, nach all den Monaten der Unsicherheit, während derer ich auf fremden Sofas, in Hostels und manchmal sogar im Freien in den Höhlen entlang der Bucht übernachten musste. Ich gebe zu, dass es eine harte Zeit war. Aber Sheila war immer freundlich zu mir und hat mir gezeigt, dass es auf der Welt auch hilfsbereite Menschen gibt.

Nachdem ich mir eine Haarsträhne, die aus dem Zopf herausgerutscht ist, aus den Augen gepustet habe, stelle ich mein Tablett mit dem schmutzigen Geschirr neben der Spülmaschine ab. Sheila gibt vorsichtig frischen Salat und selbst gemachten Coleslaw neben die Pasteten und die Quiche. Die würzigen Düfte wehen mir in die Nase, woraufhin mein Magen ein Geräusch abgibt, das fast so laut ist wie der Dunstabzug, aber jetzt ist noch keine Zeit zu essen.

»Demi, warte!«, ruft Sheila, als ich gerade an der Tür zum Café bin.

»Ja?«

»Kannst du vielleicht irgendwas gegen Mitchs Bellen tun? Ich habe nichts dagegen, dass er in der Wohnung wartet, während du arbeitest, aber ein paar Gäste haben schon gefragt, ob es ihm gut geht.«

Ich nicke betrübt. »Ich werde in meiner Pause versuchen, ihn zu beruhigen. Tut mir leid, aber hier ist alles neu für ihn, und er vermisst mich.«

»Ich weiß, aber probier’s mal«, sagt Sheila mit einem flüchtigen Lächeln. Dann ist sie weg und kümmert sich bereits um die nächste Bestellung.

Ich höre, wie Mitch oben in der Wohnung wieder winselt. Hoffentlich kann ich ihn nachher wirklich beruhigen, er ist immer so aufgeregt, wenn derart viele interessante Gerüche und Geräusche anderer Hunde aus dem Café nach oben dringen. Wir waren schon kurz nach Tagesanbruch am Strand joggen, und ich werde noch mal mit ihm rausgehen, wenn ich endlich Pause habe.

Ich gehe wieder an Tisch zwölf, und die jüngere der beiden Frauen sieht mich ein wenig freundlicher an, als ich sie anlächle und ihr die Spinat-Quiche reiche, aber die Gesichter ihrer Schwester und ihres Vaters bleiben versteinert, während ich sie bediene.

»Hier kommt Ihr Mittagessen, Madam, Sir. Bitte entschuldigen Sie die Verzögerung.«

»Na endlich. In der Zeit hätte ich die Pasteten auch selbst backen können.« Ihr Ton ist eisig. Und ihre Augenbrauen sind irgendwie seltsam, so seltsam, dass es mir schwerfällt, nicht hinzustarren.

Ich beiße die Zähne zusammen und reiche ihnen das in Servietten eingewickelte Besteck. »Ich bitte nochmals um Verzeihung, dass Sie warten mussten, Madam, und werde Ihr Feedback auf jeden Fall an die Chefin weitergeben.«

»Tun Sie das, und sagen Sie ihr auch gleich, dass wir mein Essen nicht bezahlen werden.«

»Richtig so, Mawgan«, lobt der Vater seine ältere Tochter, während die jüngere Emo-Schwester beschämt zu Boden schaut. Sie tut mir leid.

»Wegen der Rechnung muss ich die Chefin fragen.« Mir ist ein bisschen übel. Ich kann Sheilas Essen nicht einfach verschenken. Sie hat das Café nur gepachtet, und ihre Gewinnspanne ist sowieso schon minimal.

»Mir egal … Und was ist das hier? Coleslaw? Ich sagte doch ausdrücklich: keinen Coleslaw.« Mawgan inspiziert die Pasteten und rümpft die Nase.

»Ich lasse es sofort runternehmen und bringe Ihnen einen neuen Teller, Madam.«

Mawgan lächelt kühl. »Wenn Sie das machen, warte ich noch bis Weihnachten.«

»Wie Sie wünschen, Madam.«

Ich versuche, mir meinen Ärger nicht anmerken zu lassen, greife nach dem Tablett und kann es gar nicht erwarten, von hier wegzukommen, aber ich fürchte mich schon jetzt vor Sheilas Reaktion, wenn sie hört, dass sie die Rechnung nicht bezahlen wollen. Es war meine Schuld, dass der Coleslaw auf dem Teller gelandet ist. Ich muss in der Eile die Bestellung falsch aufgenommen haben.

»Darf ich Ihnen sonst noch etwas bringen?«, frage ich mit zunehmender Verzweiflung. »Soßen? Eine Karaffe Wasser?«

»Mayonnaise«, knurrt Mawgan, woraufhin ich mich frage, was sie dann eigentlich gegen Coleslaw einzuwenden hat.

Während ich noch überlege, wie ich Sheila die Sache mit dem Gratisessen beibringen soll, gehe ich in die Speisekammer neben der Küche und löffle etwas Mayo aus der Großpackung im Kühlschrank in eine kleine Schale. Vielleicht wird Mawgan ihre Meinung ändern, wenn sie die hausgebackenen Pasteten probiert hat, mit denen Sheila und ich uns heute Morgen abgerackert haben? Während ich die Schale vorsichtig auf ein Tablett stelle, höre ich hin und wieder ein Jaulen von oben, aber ich muss versuchen, es zu ignorieren.

Ich denke mal, dass man Mitch bei dem Geschnatter der Möwen sowieso nicht hört, und gehe wieder hinaus. Eine große Vogelschar hat sich bereits auf der Strandmauer gegenüber dem Café versammelt und die wachsamen Augen und spitzen Schnäbel auf die Pommes und Pasteten der Mittagsgäste gerichtet. Die Vögel sind eine Plage in ganz St Trenyan, aber die Touristen hören nicht auf, sie zu füttern. Die Möwen halten das Strandhäuschen wahrscheinlich für ein Vogelrestaurant.

Oder vielleicht auch für einen Selbstbedienungsladen. Ich bin mit der Mayo-Schale fast an Mawgans Tisch, als ich sehe, wie drei große Möwen dicht über einer jungen Familie am Rand der Terrasse kreisen. Die Mutter versucht gerade, ein Baby in einem Buggy die Stufen zum Strand hinunterzuschieben, wobei gleichzeitig ein kleines Mädchen neben ihr die Treppe hinunterklettert. Es ist höchstens vier, hält in der einen Hand eine Waffel mit pinkfarbenem Eis und muss sich so sehr auf die Steintreppe konzentrieren, dass es die Zunge herausstreckt. Ich bin unschlüssig, ob ich die Mayo abstellen und der Mutter helfen soll, als ein ohrenbetäubendes Kreischen ertönt.

Zwei große Möwen stürzen wie Flugsaurier in einer Doppelattacke auf das kleine Mädchen zu. Die Vögel haben es wahrscheinlich nur auf das Essen abgesehen, aber sie könnten dabei ernsten Schaden anrichten.

»Vorsicht!«

Zu spät. Die Mutter schaut vom unteren Ende der Treppe herauf, man hört Geflatter und ein so durchdringendes Geräusch wie Fingernägel auf einer Schiefertafel. Das Mädchen heult auf, als sich die Möwen auf sein Eis stürzen. Ich eile hin, um sie zu verjagen, bleibe dabei aber mit dem Schienbein an einer Strandtasche hängen, stolpere vorwärts, und die Mayo-Schale fliegt durch die Luft. Sie landet mitten auf dem Rücken von Mawgans Blazer, als ob ich ganz genau darauf gezielt hätte.

Ich ignoriere Mawgans Aufschrei und meinen schmerzenden Fuß und laufe hinüber zu der Mutter. Das Mädchen starrt auf seine leere Hand, die zum Glück noch ganz ist. Pinkfarbene Soße rinnt an seinem dicklichen Arm hinunter, während die Möwen die Waffel auf dem Sand zerhacken.

»Ist alles in Ordnung? Ist die Kleine verletzt?«, frage ich.

Ihre Mutter bückt sich und umarmt sie. »Ihr geht’s gut. Sie haben die Viecher gerade noch rechtzeitig verscheucht. Ich war so beschäftigt mit dem Buggy, dass ich gar nicht gemerkt habe, was los war.«

»Hauptsache, ihr ist nichts passiert.«

»Dank Ihnen. Schreckliche Biester. Nicht weinen, Tasha! Ich kauf dir ein neues Eis, Schatz.«

»Hey da! Bedienung! Schauen Sie sich mal mein Kostüm an!«

»Entschuldigung«, sage ich leise zu der Mutter. »Ich muss weiter.«

Auf der Terrasse hält Mawgan ihren Blazer hoch, ihr Mund ist ein fuchsiafarbener Strich. Der Mayoklecks sieht aus, als hätte eine Möwe draufgekackt.

»Das tut mir wahnsinnig leid, Madam, es war ein Unfall.«

Sie hält mir den mit Mayonnaise beschmierten Blazer unter die Nase. Ihr Blick durchbohrt mich. »Kann sein, aber mein Kostüm ist trotzdem ruiniert.«

»Ich … ich bezahle Ihnen die Reinigung«, sage ich, obwohl mich jedes Wort Überwindung kostet und der Großteil meiner Ersparnisse dafür draufgehen wird.

»Reinigung? Es ist ruiniert. Dieses Kostüm hat mich über dreihundert Pfund gekostet. Ich erwarte, dass Sie mir ein neues bezahlen. Sie oder Ihre Chefin.«

Die Worte sprudeln aus mir heraus. »So viel Kohle? Soll das ein Witz sein?«

Sie schnappt nach Luft. »Was haben Sie da gesagt?«

Der Hipster lässt seine Times sinken und starrt zu uns. Seine dunklen Augen funkeln im Sonnenlicht. Er runzelt die Stirn und scheint etwas sagen zu wollen, hält dann aber wieder die Zeitung hoch. Eine Frau in der Nähe kichert nervös, und weitere Gäste schauen von ihren Latte macchiatos und Pasteten auf, um die unverhoffte Show zu verfolgen, die ihnen geboten wird.

»Ich … wollte nicht unhöflich sein, Madam.«

»Ach ja?« Sie senkt die Stimme, sodass nur ich und ihre Familie sie hören können. »Sie wissen aber schon, dass ich dafür sorgen kann, dass Sie gefeuert werden und auch nie wieder einen anderen Job in dieser Stadt kriegen, oder? Ich lasse nicht zu, dass irgendjemand so mit mir redet.«

Ich zögere, Wut steigt in mir auf wie die Perlen in einer Flasche Sekt. Und dann knallt mein Korken. Ich antworte genauso leise: »Ich auch nicht. Madam.«

Ich will gerade Sheila holen, als von der Straße neben dem Café lautes Gebell ertönt. Es klingt genau nach Mitch, wobei der sich doch in der Wohnung aufhalten sollte. Er kann nicht entwischt sein, doch Sekunden später rast ein haariges Energiebündel aus dem hinteren Teil des Cafés auf die Terrasse. Zwei Möpse und ein Cocker-Pudel-Mischling fangen an zu kläffen, und bevor ich noch einmal blinzeln kann, springt Mitch freudig bellend an mir hoch. Mawgans Blick huscht von Mitch zur Hintertür des Cafés und wieder zu mir.

»Ich nehme an, das ist Ihr Hund?« Ihre Stimme ist eiskalt.

»Ja.«

»Und er wohnt hier?«

»Ähm. Nicht direkt. Er schläft auf dem Dachboden, während ich arbeite, aber er hätte nicht rauskommen sollen.«

»Also wohnen Sie auch hier?«

Mein Magen verkrampft sich, aber ich will Mawgan nicht zeigen, dass sie mich aus dem Konzept gebracht hat und ich mich aufrege. Der Kunde mag zwar König sein, aber sie hat kein Recht, mich über mein Privatleben auszufragen. »Ja, aber ich verstehe wirklich nicht, was das mit Ihnen zu tun hat.«

Sie grinst hämisch. »Sogar ziemlich viel. Dieses Gebäude gehört mir. Ihre Chefin ist meine Pächterin, also darf sie dieses Haus erstens nicht untervermieten, und zweitens sind Tiere verboten, erst recht so riesige, dreckige Viecher wie das da.«

»Mitch ist nicht dreckig!«

Mitch blickt unschuldig zu uns und jagt dann weiter einer Möwe hinterher. Ihr Kreischen schallt durch die Luft. Mir rutscht das Herz in die Hose. Wenn Sheila meinetwegen Schwierigkeiten bekommt, werde ich mir das nie verzeihen. Noch während ich das denke, weiß ich eigentlich schon, dass ich Sheila bereits ganz schön was eingebrockt habe. Mawgan baut sich vor mir auf. »Wissen Sie was, ich gehe jetzt direkt zu Ihrer Chefin.«

»Mawgan …«, beschwichtigt die Emo-Schwester.

»Halt du dich da raus, Andi!«

Andi sackt zusammen wie ein eingefallener Biskuitboden, aber ihr Vater blickt stolz auf Mawgan und verschränkt die Arme.

»Okay«, sage ich. »Tun Sie das, aber ich lasse mich von niemandem so behandeln, und wenn ich schon meinen Job verliere, dann kann ich es auch noch mal krachen lassen.« Ich schnappe mir das nächstbeste Getränk, das zufällig ein stehen gelassener Himbeer-Frappuccino ist, und schütte es über Mawgans Rock.

Ihre Kinnlade klappt herunter, und dann keift sie los. »Sie blöde Kuh! Das haben Sie mit Absicht gemacht.«

»Meine Tochter könnte Sie wegen tätlicher Beleidigung verklagen«, sagt ihr Vater, während Mitch herbeischlittert, um das pinkfarbene Eisgemisch von der Terrasse aufzulecken. Ich werfe einen Blick zu dem Hipster, aber er ist nicht mehr da, und trotz meiner großen Klappe zittere ich innerlich.

Ich reiße meine Schürze herunter. »Bitte sehr. Mein Anwalt wird sich bei Ihnen melden.«

Ich schaue mich um, und alle wenden den Blick ab. Niemand unterstützt Mawgan, aber trotzdem glaube ich nicht, dass das hier gut für Sheilas Rating bei Trip Advisor ist. Mist, was zur Hölle habe ich getan?

Pinkfarbene Soße tropft von Mawgans Rock auf ihre glänzenden Stilettos, und ihre Stimme ist kaum mehr als ein Zischen. »Das wirst du noch bereuen.«

Obwohl ich innerlich bebe, zucke ich mit den Schultern. »Im Gegenteil, Madam, ich glaube, ich werde diesen Moment als einen meiner größten Erfolge in Erinnerung behalten.«

welle 2 welle

Auf dem ganzen Weg hinaus aus St Trenyan musste ich an die Kellnerin denken. Ich weiß, ich hätte wahrscheinlich etwas sagen sollen – ich hätte sie verteidigen können –, aber ich bin nicht sicher, was das gebracht hätte oder ob es ihr überhaupt recht gewesen wäre. Meine glänzende Rüstung ist schon lange rostig, und ich habe aufgehört, die Probleme anderer Leute lösen zu wollen. Es kommt nichts dabei heraus, wenn man sich in das Leben fremder Menschen einmischt. Egal, wie gut man es meint.

Außerdem schien sie meine Hilfe auch nicht zu brauchen. Ich fand es sogar richtig bewundernswert, wie sie sich gegen die Cades behauptet hat … im Gegensatz zu mir. In Wahrheit war ich nicht bereit, mich ihnen entgegenzustellen oder eine direkte Konfrontation auch nur zu riskieren.

Sie sind eine ortsansässige Geschäftsfamilie, die in St Trenyan und der Umgebung bekannt ist. Mawgan war auf meiner Schule, allerdings ein paar Jahre unter mir. Sie ist ins Cade-Familienimperium eingestiegen, bevor ich wegging, und scheint es in vollen Zügen zu genießen, am Ruder zu sitzen. Ihr Vater, Clive Cade, ist offensichtlich stolz auf sie, aber seine jüngere Tochter Andi wirkt nicht so, als wäre sie für eine Karriere als Businessfrau geschaffen. Aber man weiß ja nie. Bevor ich St Trenyan verlassen habe und in den Nahen Osten gegangen bin, hätte ich auch nicht gedacht, dass sich Mawgan so boshaft und kleinlich verhalten würde, wie sie es gegenüber der Kellnerin getan hat.

Ich ignoriere mein schmerzendes Knie, ganz zu schweigen von meinem schlechten Gewissen, und betrete den Pfad, der sich an all den kleinen Buchten und Strandstückchen entlangschlängelt. Ich muss ein paarmal meine Route ändern, weil Teile der Klippen ins Meer gestürzt sind. Den Felsblöcken am Strand nach zu urteilen hat es wohl einige heftige Stürme gegeben, während ich fort war.

Auf dem höchsten Punkt einer der Klippen ducke ich mich unter das Dach einer alten, weißen Aussichtshütte, um vor der Sonne Schutz zu suchen. Ich sehe Tanker und ein Kreuzfahrtschiff als winzige Punkte am Horizont auf den Atlantik hinausfahren und schmecke Salz, also weiß ich, dass ich fast zu Hause bin. Ich nehme die Tasche von der Schulter und strecke mich.

Die Desert Boots, die ich mir leihen musste, sind nun von der Erde Cornwalls verkrustet, aber ich komme mir immer noch komisch vor in der Flecktarnhose und dem khakifarbenen Shirt. Immerhin haben die Mütze und der Bart dafür gesorgt, dass ich in St Trenyan nicht erkannt wurde. Wenn ich mich in den Streit mit den berühmt-berüchtigten Cades eingemischt hätte, wäre das auf jeden Fall passiert.

Ich verdränge meine erneut aufkommenden Schuldgefühle und werfe mir die Tasche wieder über die Schulter. Der Pfad führt dicht am Rand der Klippen entlang, die stärkste Steigung habe ich hinter mir, und ganz in der Ferne sehe ich den schwarz-weißen Leuchtturm auf der Landzunge. Die Nachmittagssonne wird sanfter, trotzdem rinnt mir der Schweiß über den Rücken. Ich komme an den Meilenstein, der einfach ein graues, mit orangefarbenen Flechten gesprenkeltes Stück Granit ist. Die Worte waren schon verwittert, bevor ich geboren wurde, aber ich weiß trotzdem, was darauf steht.

In der einen Richtung liegt Kilhallon Park, mein Zuhause; in der anderen geht es nach Bosinney House, zum Haus meines Onkels – und möglicherweise zu Isla Channing. In dem Bericht in der Times stand, sie würde nach Drehorten für eine neue Drama-Serie Ausschau halten und hätte für ihre letzte Produktion einen Preis gewonnen. Tief im Inneren wusste ich immer, dass sie groß rauskommen würde und zu talentiert ist, um mit Leuten wie mir in einem kleinen Ort zu bleiben. Vielleicht bin ich eigentlich deshalb weggegangen, vielleicht auch nicht – ich hatte in den letzten Monaten einfach zu viel Zeit zum Nachdenken.

Auf der anderen Seite des Tals klammern sich ein paar verfallene Maschinenhäuser an die Klippen, und hinter dem Moor ragt der Kirchturm über die Bäume. Einige von ihnen sind fast waagerecht gewachsen, um den Stürmen vom Atlantik zu trotzen.

Ich bleibe für einen Moment zögernd auf dem schmalen Pfad stehen und überlege, ob ich nach Hause, nach Kilhallon Park, oder nach Bosinney House gehen soll. Onkel Rory weiß bestimmt, ob Isla zurück ist. Und weil Karfreitag ist, könnte sogar Luke da sein. Er ist ein alter Kumpel von mir und arbeitet als Berater im Finanzunternehmen meines Onkels. Zumindest tat er das, als ich zum letzten Mal von ihm gehört habe, was inzwischen Monate her ist.

Der Küstenpfad ist an dieser Stelle sehr schmal und von Ginster gesäumt. Ein junger Mann und seine Freundin wollen an mir vorbei und betrachten mich kopfschüttelnd.

»Bewegst du dich noch, Mann, oder willst du den ganzen Tag hier stehen bleiben?«, schnauzt mich der Typ an.

»Sorry.« Ich drücke mich gegen die stacheligen Ginsterbüsche, und die beiden quetschen sich an mir vorbei und murmeln irgendwas von »Idiot«.

Einen Augenblick später habe ich mich entschieden – ich gehe nicht nach Hause, sondern mache mich auf den Weg nach Bosinney.

Ohne die geringste Spur von Reue wegen des Ärgers, den er im Café angerichtet hat, trottet Mitch hinter mir über das Kopfsteinpflaster der Fore Street. Die Häuser und Läden von St Trenyan, deren Dächer und Fenster in der Nachmittagssonne glänzen, fallen entlang der steilen, gepflasterten Straßen zum Meer ab. Ein paar Marshmallow-Wolken ziehen über den strahlend blauen Himmel, Schaumkronen glitzern auf den Wellen. Touristen bestaunen die Läden voller Ostereier und Geschenke, handgeschöpfter Schokolade, poppigen Porzellans und edler Geschirrtücher, die so viel kosten, wie ich an einem Vormittag verdient habe. Der Geruch von Fish ’n’ Chips und das intensive Aroma von Kaffee verfolgen mich durch die Straße, aber ich muss jetzt mein Geld zusammenhalten, sogar noch mehr als zuvor.

Feuerrot vor Scham habe ich mit den Tränen gekämpft, als Sheila mir den restlichen Lohn für diese Woche auszahlte, was mehr war, als ich verdient hatte. Auch sie weinte fast, wodurch ich mich noch schlechter fühlte, aber sie sagte, sie könne mich unmöglich weiter beschäftigen. Wie sich herausstellte, sind Mawgan Cade und ihre Familie tatsächlich die Besitzer des Strandhäuschens: Sie haben es von einer alten Dame gekauft, die achtzig Jahre lang in St Trenyan gelebt hat und dann in ein Pflegeheim ziehen musste. Mawgan hat die Pacht erhöht, weshalb Sheila nun eine so enge Gewinnspanne hat.

»Gegen solche Leute muss man doch etwas tun!«, sagte ich zu Sheila, nachdem Mawgan gegangen war.

»Niemand wagt es, sich den Cades zu widersetzen. Sie haben fast überall ihre Hände im Spiel.«

Sheila bot an, sich für mich zu entschuldigen, aber das wollte ich nicht. Ich dachte, dass es letztendlich für alle das Beste wäre, wenn ich das Café so bald wie möglich verlassen würde, bevor sie gezwungen ist, mich zu feuern. Aber mit meinem Job habe ich auch die Übergangsunterkunft verloren, die ich gefunden hatte.

»Komm schon, Junge«, sage ich, als Mitch an den Mülltonnen beim Büro des Hafenmeisters herumschnüffelt. Ich suche mir eine freie Bank, auf der ich mit meinen weltlichen Besitztümern Platz habe. Die Touristen meiden im Allgemeinen den gewerblichen Teil des Hafens: Er ist zu weit weg von den Souvenirläden und Parkplätzen und riecht immer nach Fisch, aber ich brauche Zeit zum Nachdenken. Mir knurrt der Magen, während sich Mitch mit Pastete vollgestopft und zufrieden seufzend vor meinen Füßen zusammengerollt hat. Wenigstens er ist glücklich, und ich werde darauf achten, dass er versorgt ist, was auch immer geschieht. Ich würde ihn eher in gute Hände abgeben, bevor ihm irgendetwas fehlt.

Ich reibe mir mit dem Handrücken über mein nasses Gesicht, dränge die Tränen zurück und denke an bessere Zeiten in der Hoffnung, dass mir eine Idee kommt. Als ich klein war, ging meine Mum mit uns jeden Sonntagnachmittag zu meiner Oma Jones zum Teetrinken – ganz so, wie es in Cornwall üblich ist, mit einer braunen Kanne unter einem gestrickten Teewärmer und geblümtem Porzellan voller Gebäck, das man heute kaum noch sieht: Figgy ’obbin, Spicy Parkin, Fairings und Fly Pastry mit Johannisbeeren. Sie hat sogar einmal eine Stargazy Pie gebacken. Aber als ich sah, wie der kleine Fisch aus der Teighaube guckte, bin ich in Tränen ausgebrochen. Also hat sie nie wieder eine gemacht.

Apropos Fisch, ein paar Meter von mir entfernt hat gerade ein Boot seinen Fang abgeladen. Die Möwen umkreisen es kreischend und zanken sich um die Abfälle. Der Geruch von frischem Fisch erfüllt die Luft.

»Vielleicht würden sie mich als Crewmitglied aufnehmen?«, frage ich Mitch, der daraufhin die Schnauze auf seine Pfoten fallen lässt. Er scheint von dem Plan genauso wenig überzeugt zu sein wie ich.

»Also wenn wir nicht zur See fahren, müssen wir uns einen neuen Job und eine neue Unterkunft suchen. Los, komm«, treibe ich ihn und mich selbst an. Mitch stellt in Erwartung eines neuen Abenteuers die Ohren auf, was mich gleich ein bisschen aufheitert. »Wir haben das schon mal geschafft, und wir können es wieder schaffen«, sage ich mit neuer Entschlossenheit. »Wir müssen einfach das Beste daraus machen.«

welle 3 welle

Als ich Bosinney House erreiche, schmerzt mein Knie wie verrückt, und eine junge Frau, die ich nicht kenne, versperrt mir den Eingang. Die weiße Rüschenschürze um ihre Taille sieht merkwürdig aus zu den hautengen Jeans und dem rosafarbenen T-Shirt.

»Kann ich Ihnen helfen, Sir?«, fragt sie und erinnert mich damit an die Kellnerin – bis auf den Akzent, der definitiv nicht aus Cornwall, sondern von viel weiter östlich stammt. Krakau? Bukarest? Aus irgendeinem Grund scheint sie sich vor mir zu fürchten. Vielleicht hätte ich mich rasieren sollen.

Da ich mich schuldig fühle, zwinge ich mich für sie zu einem Lächeln. »Hi. Ist Onkel Rory zu Hause?«

»Onkel Rory? Ich weiß nicht, wen Sie meinen …« Sie sieht mich misstrauisch an, was ich verstehen kann. Bei meinem finsteren Blick, der geliehenen Flecktarnhose und dem Bart erwecke ich wahrscheinlich den Eindruck, ich wäre hier, um die Bewohner zu fesseln und auszurauben.

»Ich meine meinen Onkel, Mr Rory Penwith.«

Sie beißt sich nervös auf die Lippe, bevor sie antwortet. »Mr Penwith ist hier, aber er hat Gäste.«

Das hätte ich mir denken können, da draußen eine ganze Reihe von Fahrzeugen parkt: ein Range Rover, ein Audi und ein paar Mercedes. Dann dämmert mir, dass heute sein Geburtstag sein muss.

»Das sehe ich, aber ich glaube, er wird noch für einen weiteren Gast Platz finden. Sagen Sie ihm, dass sein Neffe Cal Penwith da ist.«

Sie mustert mich von oben bis unten. »Sie gehören zur Familie?«

»Ja, auch wenn das schwer zu glauben ist. Darf ich reinkommen? Ich verspreche auch, nicht das Tafelsilber zu stehlen.«

Sie klammert sich fester an den Türrahmen. »Die Feier ist im großen Glaszimmer.«

»In der Orangerie?«

Schließlich nickt sie und tritt beiseite, um mich hineinzulassen. »Ja. Ich bringe Sie hin.«

»Nicht nötig. Ich kenne mich aus.«

Ich stelle meine Tasche auf den Fußboden und marschiere an ihr vorbei durch die große Eingangshalle und den Flur zur Orangerie. Ich höre die Absätze der Frau hinter mir klacken. Die Eingangshalle riecht leicht nach Asche und Holzrauch wie die meiste Zeit des Jahres über. Dies ist der einzige Teil von Bosinney House, der sich nicht verändert hat, der Rest wurde im Laufe der Jahre umgebaut. Es ist viel größer als das Haus in Kilhallon Park und hundertmal eleganter. Onkel Rory hat es von meinem Großvater geerbt, der seinem jüngeren Sohn, meinem Vater, Kilhallon Park hinterlassen hat. Dad fühlte sich deshalb immer ein bisschen ungerecht behandelt, aber ich liebe Kilhallon, selbst in dem Zustand, in dem es sich befand, als ich ins Ausland ging. Ich würde es niemals gegen Bosinneys ganze Pracht eintauschen.

Die Frau holt mich ein. »Ich werde Sie ankündigen.«

Ich bleibe stehen und drehe mich zu ihr. »Das werden Sie nicht.«

Als ich die blanke Angst in ihren Augen sehe, schäme ich mich und fahre sanfter fort: »Ich möchte die anderen überraschen. Bitte.«

Sie nickt wieder, trippelt davon und murmelt dabei: »Ich bin in der Küche. Ich hole noch mehr Champagner.«

Was, Champagner? Wenn Onkel Rory früher über die Stränge schlug, bedeutete das, dass er sich eine zusätzliche Flasche Cornish Cider gönnte … Vielleicht wissen sie doch, dass ich komme.

Gelächter und Korkenknallen schallen durch den Flur. Erwarten sie mich? Unmöglich, sonst hätte ich das mitbekommen, und außer einer Handvoll von Leuten habe ich niemandem Bescheid gesagt, dass ich wieder in Cornwall bin.

Man hört Applaus, ein paar freundliche Jubelrufe. Ich wundere mich, dass Rory seine Geburtstage mittlerweile so groß feiert, aber vielleicht ist es ein runder oder er hat mit seinem Finanzberatungsunternehmen seine erste Million gemacht. Es lief gut, als ich wegging, trotz der wirtschaftlichen Flaute.

Mir kommt der Gedanke, dass ich sie vielleicht hätte vorwarnen sollen, statt einfach so aufzutauchen … Aber die Wahrheit ist, dass sich ein kleiner Teil von mir davor gefürchtet hat – und immer noch davor fürchtet –, dass mich eigentlich niemand wiedersehen will.

Die Stimmen werden deutlicher, Gläser klirren, und ich höre ein tiefes Lachen (Onkel Rory) und ein Kichern (meine Cousine Robyn) und horche nach der einen Stimme, nach der ich mich am meisten sehne. Ich gehe auf die Orangerie zu, bleibe in der Tür stehen und beobachte, wäge ab … Die Szene läuft vor mir ab wie ein surrealer Film. Diese Menschen, die ich früher geschätzt und geliebt habe, kommen mir nun vor wie Schauspieler in einem Theaterstück.

In dem Raum müssen etwa ein Dutzend Leute sein, von denen ich die meisten kenne. Onkel Rory trinkt einen Whisky, mein alter Freund Luke lacht nervös über etwas, was Islas Mutter gerade zu ihm sagt. Robyn reicht mit gerötetem Gesicht ein Tablett mit Kanapees herum. Hier wird offensichtlich etwas gefeiert.

Und da ist noch jemand. Ihr honigfarbenes Haar fällt auf ihre nackten Schultern, ihr Kleid schimmert im frühabendlichen Sonnenlicht und schmiegt sich um ihre Hüften. Silberne Stilettos, die höher sind als alle, die ich bisher an ihr gesehen habe, betonen ihre schlanken Beine.

Mein Körper spannt sich an wie ein Drahtseil. Sie hat mich noch nicht bemerkt, bisher hat mich niemand bemerkt …

»Ach du lieber Gott!«

Onkel Rory ist dunkelrot im Gesicht. Er hat noch mehr Haare verloren, seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Luke schnappt nach Luft wie ein Goldfisch. Islas Mutter wirkt, als wäre sie schockiert, mich zu sehen. Robyn bleibt wie angewurzelt mit dem Kanapee-Tablett in den Händen stehen.

Und Isla starrt mich an, das Champagnerglas zittert in ihrer Hand.

»Cal? Bist du’s wirklich?«

»Isla …« Ihr Name dringt fast unhörbar aus meiner Kehle. So habe ich mir das hier nicht vorgestellt. Die letzte Kraft hat mich verlassen.

»Cal? Verdammt noch mal, ich dachte, es ist ein Geist!« Plötzlich eilt Luke auf mich zu, drückt mich und klopft mir so fest auf den Rücken, dass ich zusammenzucke.

»Alles in Ordnung, Mann?«

»Alles klar. Du siehst gut aus, Luke.« Das stimmt. Er ist breiter und kräftiger geworden, die zusätzlichen Pfunde stehen ihm gut, und er wirkt glücklich. Es ist toll, ihn zu sehen; ich hätte nie gedacht, dass ich so emotional reagieren würde, anscheinend werde ich weicher. Luke drückt mich noch mal, aber diesmal bemühe ich mich, nicht zusammenzuzucken.

Er mustert mich. »Mann, bist du dünn geworden … Unfassbar … Ich … Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

Er lässt mich los, reibt sich übers Gesicht und schüttelt sichtlich entsetzt den Kopf. Ich kann ihn verstehen. Ich habe mich stark verändert, während ich weg war.

»Cal! Cal!« Meine Cousine Robyn stürzt auf mich zu, der Kajal um ihre Augen mischt sich mit ihren Tränen. Mit Robyn verstehe ich mich genauso gut wie mit meinen Kumpels – sogar besser. »Wo warst du? Warum hast du uns nicht gesagt, dass du kommst?« Ihre Finger bohren sich in meinen Unterarm, aber das macht mir nichts aus. Ich freue mich riesig, sie wiederzusehen.

»Keine Ahnung. Verbindungsprobleme? Technische Störungen? Alles Gute zum Geburtstag übrigens.«

Onkel Rory trinkt seinen Whisky aus und stellt das Glas auf einen Tisch. »Das ist nicht lustig, Junge. Wir haben seit Monaten nichts von dir gehört. Du hättest genauso gut tot sein können.«

»Wie ihr seht, bin ich das nicht.«

»Mach keine Witze! Du weißt ganz genau, was ich meine. Wir dachten schon, du hättest beschlossen, für immer im Nahen Osten zu bleiben.«

»Das habe ich auch fast«, sage ich mit einem Seitenblick zu Isla, die mich aus ein paar Schritten Entfernung beobachtet, immer noch fassungslos und sogar noch schöner als auf dem Bild in der Zeitung. Sie hat ihre blonden Haare wachsen lassen und trägt einen Schnitt, der zugleich klassisch und verdammt sexy wirkt.

»Seit wann wusstest du, dass du nach Hause kommst?«, fragt Rory.

»Seit ein paar Tagen.«

Sein Gesicht ist jetzt fast lila. »Und warum hast du uns dann nicht angerufen? Wir haben in den letzten zwei Jahren fast nichts von dir gehört.«

Isla hat ihr Glas abgestellt und die Arme um ihren Körper geschlungen, als wäre ihr eiskalt. Trotz ihrer leichten Bräune, die vermutlich von ihrem letzten Dreh in Cannes stammt, wirkt sie blass wie der Mond über dem Meer.

»Es tut mir leid«, sage ich mehr zu Isla als zu meinem Onkel. »Ich … war beschäftigt und konnte nicht so leicht weg von der Arbeit.« Ich schlucke. »Es war … kompliziert.«

»Du warst zu beschäftigt, und es war zu kompliziert, uns anzurufen oder zu mailen?«, fragt Luke mit einem gewissen Unterton. Ich kann es ihm nicht verübeln.

»Warum hast du dich nicht gemeldet oder geschrieben, wenigstens um zu sagen, dass du unterwegs nach Hause bist?« Islas Stimme dringt zu mir. Ihr Akzent klingt stärker nach London als in meiner Erinnerung, aber sie hat immer noch den singenden Tonfall aus Cornwall. Ich sehe nur sie, alle anderen könnten genauso gut auf dem Mars sein.

»Es ist kompliziert«, wiederhole ich, da ich weiß, dass ich es niemals erklären oder irgendjemandem wirklich die Wahrheit sagen kann. »Ich bin erst seit ein paar Stunden in England, und ich habe dich angerufen.« Ich wende mich mit einem Lächeln wieder an Isla. »Ich habe versucht, dich aus dem Zug anzurufen, aber dein Handy war aus.«

Sie lächelt entschuldigend zurück. »Oh … das tut mir leid. Während du weg warst, habe ich mir ein neues Handy und eine neue Nummer besorgt. Mir ist nichts anderes übrig geblieben; ein Fan hat sie herausbekommen und angefangen, mich zu stalken.«

»Ein Fan?«

»Isla ist jetzt berühmt.« Ihre Mutter funkelt mich an wie Medusa und hofft offensichtlich, mich zu Stein erstarren zu lassen, während sich ihr Vater auf sein Champagnerglas konzentriert. Er ist schon immer ein Mann weniger Worte gewesen, und nun hat es ihm völlig die Sprache verschlagen. »Sie ist eine preisgekrönte Fernseh- und Filmproduzentin, weißt du«, fügt Mrs Channing hinzu.

»Ja, das weiß ich. Vom letzten Preis habe ich in der Zeitung gelesen. Glückwunsch.«

»Also hattest du Zeit, Zeitung zu lesen?«, bemerkt Isla. Sie zieht die Nase kraus wie früher, wenn sie versucht hat, nicht zu weinen. Wie an dem Abend am Bahnhof, als ich Cornwall verließ.

»Übrigens habe ich dir auch vom Zug aus gemailt«, fahre ich fort. So leicht lasse ich Isla nicht davonkommen.

»Ach, Cal. Ich habe seit gestern gar nicht mehr in meine E-Mails geschaut. Wir hatten hier den ganzen Tag lang alle Hände voll zu tun, um die Party vorzubereiten … und Luke hat mir verboten, an diesem Wochenende zu arbeiten, stimmt’s?«

»Er hat es dir verboten?«

»Ich habe es mir selbst verboten.«

Meine Hände zittern, als ich auf sie zugehe. Eine riesige Welle an Erinnerungen stürzt auf mich ein, und ich ziehe Isla in meine Arme. Ich bin überwältigt von ihrem Anblick und ihrem Duft und davon, sie zu berühren. Sie ist zerbrechlich, zierlich, eine Porzellanfigur, war schon immer viel zu gut für mich. Obwohl wir nicht allein sind, kann ich die instinktive Bewegung nicht aufhalten, und ich will es auch gar nicht. Ich drücke sie an mich, und ihre Hände tasten durch mein Shirt nach der Wirbelsäule, als wolle sie sich vergewissern, dass ich echt bin und kein Phantom. Ich atme ihr Parfüm ein. Es ist neu, intensiver und edler als die Düfte, die sie früher getragen hat, oder bilde ich mir das nur ein?

»Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mir das hier gewünscht habe.« Ich hauche die Worte in ihr Haar, das sogar noch besser riecht, als ich es in Erinnerung habe.

»Cal …«

Ihr Flüstern hält mich auf Abstand, und dann merke ich, dass mich auch ihre Hände auf Abstand halten. Nein. Ich lasse sie noch nicht los. Ich könnte sie hochheben, wenn ich wollte, und sie binnen einer Sekunde hier raustragen, aber sie kontrolliert diesen Moment; diesen Moment, nach dem ich so lange gehungert und gedürstet habe. In ihren Augen ist tiefer Schmerz. Die Erkenntnis versetzt mir einen Stich in der Brust. »Isla?«

»Es tut mir leid, aber die Dinge haben sich geändert.« Ihre Stimme bricht, und auch ich habe Mühe, mich zu beherrschen.

Geändert? Ja, allerdings. Du siehst noch heißer aus als je zuvor, wenn das überhaupt möglich ist. Und du riechst wundervoll. Ich will es laut sagen, aber etwas hält mich zurück. Stattdessen lege ich eine Hand an ihre Wange und spüre die weiche Haut unter meinen Fingerspitzen.

Sie lächelt und dreht sich dann vor meiner Hand weg. »Bitte. Nicht hier. Nicht jetzt.«

Alle Blicke sind auf uns gerichtet; wir sind die Tänzer in der Mitte eines Kreises, an die sich niemand heranwagt.

»Willst du dem glücklichen Paar nicht gratulieren?«, fragt Islas Mutter, Mrs Channing.

»Welchem glücklichen Paar? Ich dachte, das hier ist eine Geburtstagsparty? Habe ich was verpasst?« Ich bemühe mich um einen lockeren Ton, aber eine böse Vorahnung sorgt dafür, dass sich mein Magen zusammenzieht.

»Es ist eine Geburtstagsparty, aber wir haben gerade etwas Wunderbares erfahren. Isla und Luke haben uns erzählt, dass sie sich verloben. Sind das nicht großartige Neuigkeiten?«, trällert ihre Mutter.

»Verloben?« Ich bin so schockiert, dass mir die Worte fast im Hals stecken bleiben. »Das heißt, sie verloben sich, um zu heiraten?«

Isla lacht nervös. »Na ja, so schnell wird es keine Hochzeit geben. Das dauert noch.«

»Aber wahrscheinlich noch dieses Jahr. Spätestens Anfang nächsten Jahres«, wirft Luke ein, doch ich kann seinen Gesichtsausdruck nicht deuten.

»Wir haben noch kein Datum, so was muss man langfristig planen, und ich bin beruflich so eingespannt.« Isla blickt Bestätigung suchend zu Luke.

Robyn hakt sich bei mir unter. »Sie haben es uns gerade gesagt, bevor du reingekommen bist, Cal. Ist heute nicht ein toller Tag? Dad hat Geburtstag, es gibt eine Verlobung, und du bist wieder da …«

Robyn strahlt. Ich glaube nicht, dass ihr oder sonst jemandem klar ist, was ich für Isla fühle. Bevor ich wegging, hatten wir eigentlich keine feste Beziehung. Es lief nur immer mal wieder was zwischen uns, und niemand hielt es für was Ernstes. Isla offensichtlich nicht. Aber in den letzten Monaten ist mir bewusst geworden, dass ich es schon für was Ernstes hielt. Ich wollte mir nicht eingestehen, wie viel ich für sie empfinde, und hatte fest vor, es ihr zu sagen, wenn ich nach Hause komme – beziehungsweise falls ich nach Hause komme.

Mein Onkel klopft Luke auf den Rücken. Er sieht so stolz aus, als ob Luke sein eigen Fleisch und Blut wäre und nicht der Sohn seines früheren Geschäftspartners. Rory hatte schon immer eine Schwäche für Luke, aber jetzt besteht eindeutig eine Verbindung zwischen ihnen, die vor meiner Abreise noch nicht da war. Es wirkt, als wäre Luke jetzt tatsächlich Rorys Sohn.

»Freust du dich nicht für die beiden?«, fragt Mrs Channing mit schneidender Stimme und forschendem Blick.

»Oh, ja. Ich freue mich«, wiederhole ich, weil ich meine eigenen Gedanken nicht mehr in Worte fassen kann. Ich kann nicht mal mehr klar denken.

»Cal, mein Lieber. Ich hole dir einen Whisky.« Robyn eilt davon.

Ich blicke zu Isla, die ihr Glas nun wieder so fest umklammert, dass es jede Sekunde zerbrechen könnte. Aber Lukes Arm liegt auf ihrem Rücken.

Er räuspert sich nervös. Er weiß, dass ich auf Isla stand und wir vor meiner Abreise eine Weile zusammen waren, aber nicht, wie viel mir an ihr liegt. »Hey, Kumpel, es ist toll, dass du wieder zu Hause bist. Ich hatte mir schon ernsthaft Sorgen gemacht, dass du vielleicht endgültig dort bleibst.«

»Ich habe auch mehrmals darüber nachgedacht.« Ich lächle, obwohl ich am liebsten um mich treten würde wie ein verwundetes Tier. Ich hatte nie ein besonders dickes Fell, aber jetzt gerade ist es hauchdünn und an manchen Stellen durchgewetzt. Meine Zeit im Nahen Osten hat mir die schlimmsten Seiten der menschlichen Natur gezeigt, einschließlich meiner eigenen. Es war ein Fehler, einfach so hier aufzutauchen, und ein noch größerer, mit der Erwartung nach Hause zu kommen, es wäre alles genau wie vorher.

»Cal?« Islas sanfte Stimme erinnert mich daran, dass dies die Menschen sind, die ich liebe und vermisse und nach deren Gesellschaft ich mich gesehnt habe, aber nun, da ich hier bin und weiß, wie sehr sich die Dinge geändert haben, wäre ich lieber wieder in dem Kriegsgebiet, aus dem ich gerade gekommen bin.

Doch jetzt gerade achte ich nicht auf Isla, sondern mustere Lukes Gesicht und frage ihn direkt: »Wie lange seid ihr beide schon zusammen?«

»Ein paar Monate.« Sein Ton ist betont lässig, sein Lächeln betont strahlend. »Komm mit ins Wohnzimmer. Lass uns was trinken und in Ruhe reden.«