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SOUTHERN GOTHIC IN DER BAYRISCHEN PROVINZ

Zur Beerdigung seines Vaters kehrt Konstantin nach vielen Jahren in den Ort seiner Kindheit zurück, nach Praam an der Schwarzen Laaber, tief in der bayrischen Provinz. Er hat immer unter der Enge gelitten, aber auch seine erste große Liebe hier erlebt — zu Rosalie, einer Außenseitergestalt wie er. Plötzlich ist alles wieder da: die Erinnerungen an das Erwachsenwerden auf dem Land. Und an die Schatten dieser Zeit, denn neben der magischen ersten Romanze gab es auch ein düsteres Ereignis, das sein Leben tief erschüttert hat.
Berni Mayer erzählt von einer heimlichen Liebe, die immer mehr zur Verschwörung wird gegen die autoritäre Welt der Eltern und der Kirche. Und er erzählt davon, wie ein Leichen-fund in einem heruntergekommenen Wasserschloss alles verändert. Denn die Geschichte, die hinter diesem Toten steckt, führt tief hinein in die Vergangenheit und offenbart die Verstrickung der alteingesessenen Dorfbewohner in ein sorgfältig verdrängtes NS-Verbrechen. Am Ende müssen Konstantin und Rosalie sich entscheiden: für jeweils eine Seite und für oder gegen das Schweigen.

 

 

Autor

© Birte Filmer

 

Berni Mayer, geboren 1974 in Mallersdorf, Bayern, lebt als Journalist, Musiker und Übersetzer in Berlin. Er war Redaktionsleiter bei MTV- und VIVA-Online und hat für das Label Virgin Records gearbeitet. Heute schreibt er u. a. für den Rolling Stone und bloggt auf bernimayer.de über Fußball, Filme und die Räudigkeit der Welt. 2012 bis 2014 erschien seine dreibändige Krimireihe um den arbeitslosen Musikjournalisten und Detektei-Erben Max Mandel. ›Rosalie‹ ist sein literarisches Debüt.

BERNI MAYER

Rosalie

ROMAN

Für Olivia und Ludwig

Karte

Praam an der Schwarzen Laaber, um 1986

 

FEIERABEND

»Und Abendfriede kehret ein, zieht wie ein altes Lied aus längst vergang’nen Zeiten dir gar heimlich ins Gemüt. ’s ist Feierabend«, singt der Chor der Kriegsveteranen, und ich wundere mich, dass es ihn noch gibt und wie seine Mitglieder so lange aufrecht stehen können, immerhin müsste ihr Durchschnittsalter ungefähr neunzig Jahre betragen. Aber vielleicht kann der Titel des Kriegsveteranen auch ehrenhalber auf die nachfolgende Generation übergehen, um so die entstehenden Lücken im Bass oder Tenor zu füllen. Als Kind hab ich den Chor andauernd singen gehört, es wurde überhaupt viel gesungen in Praam. Meistens in der Kirche, meistens in Moll, denn nur selten war der Anlass ein freudiger. Gedenkgottesdienste, Beerdigungen und Hochämter an den heiligsten Feiertagen – wenn der Veteranenchor antrat, war jeder zur Andacht verpflichtet. Selbst ein kurzes Schnäuzen wurde als Sabotageakt empfunden.

Die Veteranen führen ein Banner an einer über zwei Meter langen Stange mit sich, das über die Trauergäste hinausragt. Darauf ist ein Mann mit nackten Beinen in einem roten kurzen Mantel und einer Kapuze abgebildet, mit der Rechten eine Armbrust geschultert und die linke Hand um ein Kind in einem gelben Rock gelegt. Er steht vor einer Bergkulisse, hinter der die Sonne aufgeht, und darüber steht in Sütterlin Glaube, Sitte, Heimat.

Es riecht nach frisch gemähtem Gras, und es ist ungewöhnlich warm für Anfang Oktober. Zahllose Mücken sind unterwegs, alleine in den letzten fünf Minuten haben mich zwei davon gestochen, eine in den Finger, die andere ins Handgelenk. Wenn man genau hinschaut, sieht man, wie etliche Trauergäste sich verstohlen kratzen, um ihre feierliche Anteilnahme nicht durch etwas Profanes wie Juckreiz zu trüben. Irgendwo summt etwas, wie eine defekte Stromleitung.

»Und ist dein Lebenstag einst aus, vorbei sind Sorg’ und Müh’n, zieht übers stille Grab ganz sacht ein heimlich Klingen hin. ’s ist Feierabend«, geht der Text weiter, und danach setzen die Gebirgsbläser ein, bei denen mir immer schon aufstieß, dass es hier in der Gegend weit und breit kein Gebirge gibt, sofern nicht der Hohe Rücken, diese ausgehungerte Hügelkette hinter Praam, neuerdings als solches durchgeht.

Doch Hohn beiseite, es ist schon ganz schön, was hier passiert. Wie wir mit den Mücken und dem Sarg in der trügerischen Oktoberwärme in der Nachmittagssonne um die Kirche herumgelaufen sind, wie akkurat die Veteranen jetzt intonieren und wie vorsichtig die Gebirgsbläser tönen, obwohl mein Vater weder im Krieg noch im Gebirge war. Wie wir jetzt da stehen und meine Schwester ihre Hand in meine hineindrückt, genau auf den Finger mit dem Mückenstich. Es ist schon lustig. So gut in Praam integriert wie jetzt hätte er zu Lebzeiten nie sein können.

Ich mag Beerdigungen. Man redet ja oft von Momenten, in denen die Zeit scheinbar stillsteht, aber eine Beerdigung ist der einzige, an dem sie tatsächlich stehen bleibt. Wo nichts passiert und nichts notwendig ist, wo keiner telefoniert und niemand organisiert. Ein Moment, in dem man ungestraft in sich zusammenfallen darf, ohne zu überlegen, was nachher kommt. Ein kurzer lebensnotwendiger Verschnaufer, bevor man die Sanduhr bis zur nächsten Beerdigung umdreht.

Ich wollte ja eigentlich nichts mehr wissen von meiner Jugend hier. Ich hatte schon länger keine Fragen mehr an sie und sie auch keine an mich. Und doch hat mich so spät noch einmal die Wut gepackt. Jetzt, wo ich hier stehe und die Veteranen so exakt die Töne treffen, merke ich, dass ich nicht verschnaufen kann wie auf den anderen Beerdigungen, sondern trotz der schönen Zeremonie immer wütender werde. Immer wütender, weil ich jetzt plötzlich wieder an sie, die blasse Erscheinung, denken muss. Sie, das fürchterliche Gespenst, das sich einfach zu uns gestellt hat, als ob es nichts Besseres vorhätte. Dabei hat sie still und heimlich das ganze Dorf abgerissen. Wie sie diese monströsen Entwicklungen erst ermöglicht und sich dann aus allem herausgehalten hat, war eine Unverschämtheit. Eine brutale Unverschämtheit. Und mich hat sie dann mit diesen monströsen Entwicklungen alleine gelassen. Bis heute. Ohne sie hätte es das Wasserschloss als solches doch gar nicht gegeben, hätte sich nicht dieser Krater gebildet, dort, wo früher mein Heimatort stand.

Ich kann nicht sagen, warum es gerade diese Beerdigung ist, auf der diese irrationale Wut kommt. Es gab andere vorher, wo sie hätte sein können.

»’s ist Feierabend, ’s ist Feierabend, das Tagwerk ist vollbracht, ’s geht alles seiner Heimat zu. Leis zieht herauf die Nacht«, singen die Veteranen, und die Gebirgsbläser hauchen das Lied mit einem letzten langen Dur-Akkord aus.

1

KREUZWEG

Das erste Mal traf ich sie auf dem Kreuzweg, der Via Dolorosa, dem Weg der Schmerzen, wie es in der Kirchengeschichte heißt. Ich erinnere mich, wie gelblich und warm das Wetter an jenem Karfreitag war und wie es seit Tagen nicht geregnet hatte. Wäre da nicht schon morgens das erbarmungslose Hämmern der Holzschlaberln von draußen gekommen, man hätte nach dem Aufwachen aus dem Fenster auf die stille und sonnige Praamer Hauptstraße geschaut und eher die Sommer- als die Osterferien vermutet.

Der Karfreitag war aber per Definition alles andere als ein idyllischer Tag in Praam an der Schwarzen Laaber. Er war der Höhepunkt der Fastenzeit, es gab im gesamten Ort nichts zu essen, noch nicht einmal bei uns im Gasthaus Wolff. Meinen Eltern fehlte zwar die letzte Demut gegenüber den kirchlichen Gebräuchen, aber selbst sie hätten sich nicht getraut, die Wirtsstube aufzusperren. Sie kochten noch nicht einmal etwas Warmes für mich und meine Schwester. Während wir Kinder also hungerten oder in weiser Voraussicht schon eine Dose mit eingelegten Mirabellen ins Zimmer geschmuggelt hatten, lärmten den ganzen Vormittag die Ministranten mit den Holzklappen durch den Ort und peitschten die Leute so auf das Grande Finale der Fastenzeit ein. Am Abend das Hochamt, wenn die Altäre wieder enthüllt wurden, aber noch wichtiger: der Kreuzweg um die Mittagszeit, an dem sich der Pfarrer Parzefall besonders delektierte und der fast zwei Stunden dauerte.

Für mich hatte der Karfreitag etwas Magisches an sich. Die Kreuzigung von Jesus hatte natürlich mit siebzehn längst an Faszination eingebüßt, aber dieser Moment des Innehaltens vor der Auferstehung hat mir immer imponiert.

Diese Verpflichtung zu einem Tag Trauer und Nichtstun, bevor am Samstag wieder alle ins Leben zurückkehren, war jedes Jahr eine kurze Erlösung von meinem schlechten Gewissen, denn plötzlich fand man sich mit seiner miesen Laune mitten im Mainstream wieder. Mein vorherrschendes Lebensgefühl war ohnehin ein Davonausgehen, dass nichts ein gutes Ende nimmt, ein permanentes Karfreitagsgefühl, wenn man so will. Deshalb kam mir diese programmatische Tristesse über dem gesamten tiefen Süden sehr entgegen. Es war ein spiegelverkehrter Fasching, ein schwarzer Maskenball, die Eleganz der hängenden Köpfe. Jeder, der einem am Karfreitag in Praam begegnete, brachte kaum ein stilles Nicken zustande, und endlich konnte man grußlos durch den Ort gehen, ohne dass die Nichtgegrüßten sich bei den Eltern beschwerten. Und nie waren die Leute in Praam besser gekleidet. Ein ganzer Tag, ein ganzer Landstrich ging in Schwarz. Wie eine gigantische Beerdigung auf siebzigtausend Quadratkilometern. Es war undenkbar, dass am Karfreitag irgendetwas Angenehmes passierte.

Mir gefiel auch das Verhüllen der drei Kirchenaltäre und das Verstummen der Glocken. Ich stellte mir dann immer vor, jemand hätte von einem Tag auf den anderen den Katholizismus verboten. Staatlich verboten, ab sofort. Polizei kommt und sperrt die Kirche zu, verhängt die Ikonen. Das hätte augenblicklich die Auflösung der Praamer Eliten eingeläutet. Dieser Ort definierte sich ja fast ausschließlich über sein Verhältnis zur Kirche. Handelte es sich bei dem Verhältnis eher um eine flüchtige Bekanntschaft ohne große Verpflichtungen wie bei meinen Eltern, musste man als Kind mit dem Argwohn der Praamer leben, außer man entspannte die Lage durch eine Tätigkeit als Ministrant, was aber für mich wegen der ungnädigen Aufstehzeiten an einem Sonntag nicht infrage gekommen wäre.

Ein Katholizismusverbot hätte die gesellschaftliche Ordnung auf jeden Fall vollkommen auf den Kopf gestellt, es gab ja seit der Gebietsreform keinen Bürgermeister mehr, und wer hätte der Gemeinde voranschreiten sollen, wenn nicht der Pfarrer Parzefall. Der Großbauer Schranner oder der Fabrikbesitzer Reichelt waren dafür viel zu obrigkeitsfeindlich, das waren die reinsten Anarchisten. Die Religion und der Staat standen ihren wirtschaftlichen Bemühungen immer nur im Weg. Sie machten sich ihre eigenen Regeln und gingen eher als formelle und nicht ganz ernst gemeinte Entschuldigung am Sonntag in die Kirche. Den vollen Respekt der Praamer genoss wirklich nur der Parzefall. Danach kam mit großem Abstand der Vorstand vom Schützenverein.

Doch das von Rom aus verordnete Stimmungstief und die verstummten Glocken erinnerten zusammen mit dem Klappern der Holzschlaberln den ganzen Tag nur noch mehr daran, dass die Kirche für immer die Deutungshoheit in Praam an der Schwarzen Laaber besaß. Und das gemeine Hämmern schien zu morsen: Was auch immer du am Karfreitag vorhast, das dir Freude machen könnte, lass es. Und wehe, du isst was.

Auf jenem Kreuzweg Ende März 1986, am mildesten Karfreitag, den ich bis heute erlebt habe, verspürte ich bereits bei der fünften Station einen unbändigen Hunger und musste zudem dringend aufs Klo, weil ich zuhause eine ganze Flasche von der grünen Waldmeisterlimonade ausgetrunken hatte, die in der gesamten Fastenzeit niemand bei uns in der Wirtschaft kaufte. Die Limonade hatte erst wieder ab Ostersonntag Konjunktur. Ausgelassen sprudelndes grünes Getränk: vorher undenkbar.

An der fünften Station las der Pfarrer Parzefall über ein Mikrofon aus dem Matthäus-Evangelium. Aus dem tragbaren, einem Megafon ähnelnden Lautsprecher, den der Chefministrant transportierte, klang seine Stimme blechern wie die Durchsagen des Bademeisters im Schyrener Freibad:

»Auf dem Weg trafen sie einen Mann aus Zyrene namens Simon. Ihn zwangen sie, Jesus das Kreuz zu tragen. Und zum hundertsten Mal: nicht vom Beckenrand springen! Herrgott, wie oft habe ich euch Bagage das schon gesagt!«

Nun wurde es umständlich, denn der Pfarrer gab sein Mikro an einen anderen Ministranten ab, nahm dafür ein mannshohes braunes Holzkreuz entgegen und schulterte es. Danach setzte sich der Zug aus etwa dreißig Andächtigen wieder in Bewegung, und wir warteten, bis wir uns ganz hinten einreihen konnten, um nicht weiter aufzufallen. Der Andi Radlmeier, ein schon reichlich kaputter Mensch für seine knapp neunzehn Jahre, zündete sich einen Zigarillo an und haute mir im Vorbeigehen mit der flachen Hand in den Nacken. Ich ignorierte ihn.

Am Kreuzweg nahmen nie alle Praamer teil. Gut die Hälfte der Gemeinde war bereits um halb fünf Uhr früh zu Fuß zu einer Wallfahrt nach Altötting aufgebrochen. Das war ein Gewaltmarsch, bei dem man nach einer Übernachtung in Massing an der Rott am Samstagnachmittag seltsam glückserfüllt in Altötting ankam, nur um dort sofort wieder in die Kirche zu gehen und auf ein Wunder der Schwarzen Madonna zu hoffen. Es musste am Sauerstoffmangel liegen.

Ein einziges Mal war ich dabei gewesen, obwohl mich niemand gezwungen hatte. Überhaupt schickten mich meine Eltern schon seit ein paar Jahren nicht mehr in die Messe. Leider war der Sonntagsgottesdienst das alleinige wöchentliche Großereignis, bei dem alle Mädchen aus Praam auf einem Fleck versammelt waren, während sie bei der Oblaten-Verteilung an einem vorbeihuschten, in vollendeter Beherrschung ihres sakralen Laufstegs durch die Mitte des Kirchenschiffs hin zum Parzefall mit seinem Kelch und wieder zurück zum Platz. Nur deshalb ging ich freiwillig hin.

Wenn man es schlau anstellte, informierte man sich bereits längst vorm Karfreitag beim Organisten Werner über die Teilnehmerliste der Karfreitagswallfahrt und konnte so planen, welches Mädchen man auf der Wanderung näher kennenlernen wollte, immerhin hatte man beinahe zwei Tage Zeit, sofern man sie vorübergehend von den Eltern oder Großeltern isolieren konnte. Bei meiner bis dato einzigen Wallfahrt war ich leider umsonst mitgefahren, denn Karin Zellmair war kurzfristig krank geworden, und ich hatte es erst nach zwei Kilometern realisiert.

Bei Station sechs sah ich Rosa zum ersten Mal. Station sechs war die Stelle, an der sich die heilige Veronika aus der Menge der Schaulustigen löst und einem geschundenen Jesus ein Schweißtuch reicht. Der Pfarrer ließ sich an dieser Stelle einen großen weißen Schnäuzlappen von seinem Mesner geben, mit dem er sich das Gesicht abtupfte. Der Mesner war der sich fast im Krebsgang vorwärts bewegende Ehrenpräsident vom Veteranenverein Gerd Jolisch. Der Jolisch sah so alt und zerbrechlich aus, dass man gar nicht hinschauen konnte, wenn er am Sonntag in der Messe mit seiner Löschstange die Kerzen ausmachte, an die man sonst nicht herankam. Als könne er jeden Moment in mehrere Teile zerspringen.

Der Praamer Kreuzweg war nicht besonders lang, er erstreckte sich lediglich von der St. Ignatius Kirche und dem riesigen Schranner-Hof mit der Taubenburg die Hauptstraße über den ehemaligen Marktplatz, wo sich der Gasthof Hauner – unsere schärfste Konkurrenz – und der Bäcker befanden, bis hinunter zu Ziegelei und Sägewerk. Station sechs lag genau dazwischen, vor dem Ausstellungshof von Ford Sedlec. Während die jungen Männer sich die Autos anschauten, darunter ein in der Sonne schwarz blitzender Ford Capri, den der Bogdan Sedlec selbst fuhr, blickte ich hinüber zum Kriegerdenkmal. Vor der Mauer des alten Wasserschlosses stand ein blass schimmerndes Wesen mit dunkelbraunen, kompliziert geflochtenen Haaren und starrte stumm auf unseren Zug.

Weil sie sich keinen Millimeter bewegte, wirkte sie mit ihrer vorwurfsvollen Blässe geradewegs wie in den Ort hineingesetzt. Ein Fremdkörper, eine Geistererscheinung. Erst als der Zug sich in Bewegung setzte und Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen anstimmte, wandte sie den Blick langsam ab und setzte ihren Weg in die Gegenrichtung am Bach entlang fort. Es war nicht so, dass mich sofort ihre besondere Schönheit ergriffen hätte, auch fand ich sie nicht besonders ansprechend gekleidet, mit ihrer weinroten Strickjacke und der weißen Bügelfaltenhose. Mich ergriff, wie sie in ihrer Fremdhaftigkeit herausleuchtete aus dem Praamer Karfreitagsschwarz. Es war nicht nur ihre Blässe oder die mutmaßlich papierdünne Haut, es war diese Mischung aus überheblicher Teilnahmslosigkeit und spöttischer Neugier auf unsere Riten.

Sie konnte nicht aus der Gegend sein, denn hier starrte niemand einfach so einen Kreuzweg an, die heiligste Prozession des Kirchenjahres. Entweder man nahm daran teil, oder man versteckte sich schuldbewusst zuhause und öffnete niemandem die Tür.

Jetzt schlich sie davon in Richtung Fischerviertel, war schnell hinter der alten Schule verschwunden, als wäre sie nie da gewesen.

»Hast du das Mädchen drüben beim Kriegerdenkmal gesehen?«, fragte ich leise den Böhmi, während das Herzliebster-Jesu-Lied bereits bei der dritten Strophe angelangt war.

»Was ist die Ursach’ aller solcher Plagen? Ach, meine Sünden haben dich geschlagen!«

»Die taugt dir, oder?«, sagte der Böhmi viel zu laut.

»Geht’s noch lauter?«, sagte ich.

Der Böhmi tastete sich demonstrativ am Oberkörper nach Zigaretten ab.

»Ist vor zwei Wochen erst hergezogen«, sagte er noch lauter. »Wohnt auf dem roten Berg.« Der Architekt Zankl drehte sich zu uns um und lächelte, als wäre er unser Kumpel.

Der rote Berg hatte anfangs noch Werkvolkssiedlung geheißen, wurde aber zum roten Berg, als dort in den Fünfzigern die Arbeiter aus dem Sägewerk eine Neubausiedlung errichteten und angeblich alle von ihnen die SPD wählten. Erzählte zumindest mein Vater mit einer Ehrfurcht, als handle es sich um eine Spukgeschichte aus dem Mittelalter. Mittlerweile galt es unter den jüngeren Leuten, die es sich leisten konnten, nicht bei ihren Eltern anzubauen, als schick, auf dem roten Berg ein Grundstück zu kaufen. Die Arbeiter aus dem Sägewerk kamen ohnehin längst aus der gesamten Region, nur zwei oder drei alte Arbeiterfamilien wohnten noch dort. Die meisten Praamer Männer arbeiteten auch nicht mehr im Sägewerk, sondern fuhren mit den großen blauen Pendlerbussen, die jeden Morgen den gesamten Landkreis durchkämmten, die siebzig Kilometer in eins der großen Herstellerwerke. Eine örtliche SPD gab es schon ewig nicht mehr.

»Wo auf dem roten Berg?«, fragte ich.

»Zwischen Winkler und Berghammer, im Rondell«, sagte der Böhmi.

»Pscht«, kam es drohend plosiv aus einer der Reihen vor uns.

»Also bei der Ida Meyer, der Lehrerin?«, fragte ich.

»Genau, das ist ihre Tante.« Der Böhmi hatte inzwischen seine Zigaretten gefunden und steckte sich eine hinters Ohr.

»Jetzt reißt’s euch z’sam, dahinten«, sagte jemand. Der Architekt Zankl zwinkerte uns anbiedernd zu. Jetzt drehte sich auch seine Frau Josefine um. Sie lächelte sanft. Gegen ein sanftes Lächeln von der Frau Josefine Zankl hatte keiner von uns was einzuwenden. Das war eine schöne Frau, die oft Lederröcke und hautfarbene Strumpfhosen trug. Wäre der Gedanke nicht so kokett gewesen, man hätte meinen können, sie interessiere sich für uns Jüngere.

»Wenn sie dir gefällt, kannst du ja am Montag um rote Eier bei ihr klingeln«, sagte der Böhmi.

»So wie die ausschaut, kennt die keine roten Eier«, sagte ich.

Mittlerweile hatten wir die Station Jesus fällt zum zweitem Mal am Kreuz hinter uns gelassen, und die Leute sangen die bei uns Jugendlichen berühmteste Strophe vom Herzliebster-Jesu-Lied.

»Doch ist noch etwas, das dir angenehme: Wenn ich des Fleisches Lüste dämpf’ und zähme, dass sie aufs Neu’ mein Herze nicht entzünden mit alten Sünden.«

»Die kommt garantiert aus der Stadt«, sagte der Böhmi, und eine flache Hand flog in sein Gesicht, dass es ihm den Kopf zur Seite riss.

»Saukrüppel, dich hört man bis nach vorn zum Pfarrer«, sagte Roland Böhm senior, zog seinen Sohn am Kragen von mir weg und pflügte mit ihm durch die Reihen zu sich nach ganz vorne. Fast hätte er dabei den einbeinigen Karl Roider von seinen Krücken gefegt. Der Andi Radlmeier lachte mit Zigarillo im Mund.

Der Zogo war Gott sei Dank auf Wallfahrt, sonst hätte er mich sicher auch zur Räson gerufen. Zogo nannte ich den Großvater mütterlicherseits, das stand für »Zorn Gottes«. Der Zogo war nach dem Pfarrer der kirchentreuste Mensch in ganz Praam, und es war ein Lebensschock für ihn, dass meine Mutter ausgerechnet in einen gastronomischen Betrieb eingeheiratet hatte, den Inbegriff gottlosen Handwerks gleich nach der Prostitution und der Jazzmusik. Er war auch einer der engsten Freunde vom Pfarrer Parzefall, wenn es so etwas wie Freundschaft mit Würdenträgern der katholischen Kirche überhaupt geben konnte. Dreimal in der Woche spielte der Pfarrer Parzefall mit ihm und meiner Großmutter Canasta in der Villa Zogici.

An der nächsten Station las der Parzefall weiter in sein Mikrofon, über dessen Kabel zum portablen Lautsprecher gerade erst wieder ein Jungministrant gestolpert war und es herausgerissen hatte. Der Chefministrant steckte es wieder in den Lautsprecher.

»Und Jesus wandte sich zu ihnen um und sagte: Ihr Frauen von Jerusalem, weint nicht über mich; weint über euch und eure Kinder! Denn es kommen Tage, da wird man sagen: Wohl den Frauen, die unfruchtbar sind, die nicht geboren und nicht gestillt haben«, las der Parzefall.

Bis heute habe ich nicht genau verstanden, was das bedeuten sollte. Es klang auf jeden Fall irgendwie apokalyptisch. Vielleicht war es so ähnlich gemeint wie die qualvoll oft wiederholte Warnung meiner Mutter: »Wenn du erwachsen bist, gehen erst die richtigen Probleme los.«

Ich bewunderte jedes Jahr wieder die resistenten alten Leute auf dem Kreuzweg. An allen Stationen musste man niederknien, und meine Knie fühlten sich nach Station neun – Jesus fällt zum dritten Mal – schon wie kurz vorm Meniskusriss an. Auf dem Weg zur zehnten Station kam der Böhmi zurück und sagte laut: »Selten blöder Wixer. Dem versteck ich seinen Kirsch, dem Wixer.« Jetzt schaute selbst Josefine Zankl pikiert.

»Hauen wir ab«, sagte der Böhmi nun leiser.

Ich kniff die Augen zusammen, weil ich Angst davor hatte, dass jemand mein Fehlen bemerken könnte und sich deswegen beim Zogo beschwerte. Der Zogo verfügte über ein ausgeklügeltes System an Informanten, musste man wissen.

Es roch nach Weihwasser, als wir als Letzte am Marktplatz und damit bei Station zehn eintrafen.

»Dann kamen sie an den Ort, der Golgotha genannt wird, das heißt Schädelhöhe. Und sie gaben ihm Wein zu trinken, der mit Galle vermischt war; als er aber davon gekostet hatte, wollte er ihn nicht trinken. Nachdem sie ihn gekreuzigt hatten, warfen sie das Los und verteilten seine Kleider unter sich«, sprach der Parzefall in sein Wandermikrofon, und während zum zehnten Mal alle bis auf den einbeinigen Karl Roider auf die Knie fielen, stieß mich der Böhmi in die Seite.

»Jetzt«, sagte er.

»Es ist doch eh bald aus«, sagte ich.

»Egal. Wir gehen aus Prinzip.«

Er zog mich am Ärmel des schwarzen Sakkos, das meinem Vater gehörte, zur Seite, aus der Menge heraus, den Ranken hinunter zum Bach.

Der Bach war ein Ausfluss der Schwarzen Laaber, die das Praamer Moos außerhalb des Orts durchschnitt. Im Sommer führte er oft gar kein Wasser, im Frühjahr viel zu viel. Unten am Bach warteten wir geduckt, bis der Kreuzzug weiter in Richtung Sägewerk vorangekommen war. Dann kletterten wir den Abhang hinauf, liefen die Hauptstraße zurück und bogen gleich hinter Ford Sedlec in eine kurze Seitenstraße ein. Sie war deshalb so kurz, weil sie eigentlich nur die Zufahrt zu vier Häusern bildete, bevor aus der geteerten Straße ein Feldweg hoch zum Jägerberg wurde, gesäumt von ein paar Heustadeln und zahlreichen Nutzfeldern, an deren Rand regungslose Traktoren auf das Ende der Feiertage warteten. Es war, als hätte man vergessen, Praam hier weiterzubauen.

Der Jägerberg war natürlich kein richtiger Berg, sondern nur eine Erhöhung, auf deren höchstem Punkt eine Sandgrube lag, dahinter ging es weniger steil bergab, als es vorne bergauf gegangen war. Dort fingen die unbestellten Wiesen und Waldflächen südlich des Orts an, oder wie wir das nannten: der Praam Canyon.

Die Seitenstraße hatte keinen Namen, denn keine Straße in Praam hatte einen. Auf Briefe schrieb man lediglich Praam und die Hausnummer. Wir tauften sie Hämorrhoiden-Weg, weil an ihrem Ende das Haus von Georg Mansfeld stand, der im Ort nur Hämorrhoiden-Schorsch genannt wurde. Er ging nie unter Leute, ich wusste noch nicht einmal, wie er aussah, alles, was ich wusste, war, dass er alleine wohnte und man ihn in der Wohnung schreien hörte, wenn man nur lang genug wartete.

»Das sind die Hämorrhoiden, die bringen ihn irgendwann um«, hatte uns die Frau Nowak vom Edeka-Laden vorne neben der Kirche erzählt, als sie uns beim Lauschen beobachtet hatte. Doch ausgerechnet am Karfreitag, dem Tag des Leidens, war der Mansfeld verstummt. Oder er war wirklich an seinen Hämorrhoiden gestorben.

Wir nahmen den Feldweg hoch zum Jägerberg und öffneten das Schiebetor eines heruntergekommenen Heustadels. Er gehörte mit Sicherheit einem der fünf Bauern in Praam. Der Stadel war einer unserer Treffpunkte, wir hatten hier einen schwedischen Likör mit dreiundvierzig Prozent im Stroh versteckt, der grausig süß schmeckte, wie ein überzuckerter Hustensaft. Der Böhmi hatte ihn von seinem Vater aus dem Schnapsregal gestohlen, wo der Schwede bereits seit zwei Jahren unberührt hinter dem Sherry vor sich hin gestaubt hatte. Es war eine Qual, ihn zu trinken, aber er machte in kürzester Zeit unglaublich betrunken.

Vor zwei Tagen waren wir das letzte Mal hier gewesen. Karin Zellmair, ihre beste Freundin Moni, der Böhmi und ich waren zusammen mit dem Schweden hergekommen und hatten Flaschendrehen gespielt. Jedes Mal, wenn sich ein Paar gefunden hatte, musste es am Schweden nippen und dann nach draußen vor den Schuppen gehen, um beim Zungenkuss von den anderen nicht gesehen zu werden, was die Idee der Mädchen war und sich im Nachhinein als ausgesprochen blöd für mich herausstellte. Ich erwischte anfangs gleich zweimal Moni, die sehr freundlich war, aber eine feste Zahnspange trug und nicht mit Zunge küssen wollte. Bei Karin Zellmair, die ich so schön fand mit ihren schmalen Fesseln, den kupferfarbenen Haaren und den dazugehörigen Sommersprossen, gab es überhaupt keinen Kuss. Sie sagte, wir sollten eine Minute warten, dann wieder hineingehen und uns nichts anmerken lassen. Meine Hoffnung war, dass sie es aus Prinzip so handhabte, aber der Böhmi hatte wohl bessere Karten bei ihr, wie er auf dem Heimweg andeutete. Es deprimierte mich.

»Du wolltest doch noch mal von der Karin erzählen«, sagte ich und reichte dem Böhmi den Schweden aus dem Heu.

»Ein Gentleman schweigt und genießt«, sagte er. Schraubte ihn auf.

»Du bist aber kein Gentleman«, sagte ich.

»Ich erzähl’s nur, wenn du mich nicht gleich anfällst.« Er trank.

»Warum soll ich dich anfallen?«

»Weil du auf die Karin spinnst«, sagte der Böhmi und rückte vorsichtshalber einen Zentimeter von mir weg.

»Alle drei Runden mit Zunge?«, fragte ich, obwohl ich Angst vor der Antwort hatte.

»Jedes Mal«, sagte der Böhmi. Hielt mir die Flasche hin.

»Seid ihr jetzt zusammen?« Mir wurde heiß im Nacken.

»Nicht, dass ich wüsste«, und ich nahm einen langen Schluck vom Schweden.

»Hast du Feuer?«, fragte ich. Er warf mir wortlos sein Sturmfeuerzeug hin. Normalerweise führte er den Trick vor, bei dem er den Verschluss aufschnippte und gleichzeitig die Flamme anzündete. Diesmal zündete ich die Zigarette selbst an.

Ich rauchte gerne. Der Tabak, der Filter, der Rauch, all das war mit seiner Würze wie ein kleiner Imbiss, wie eine dieser Fertigsalamis, die es an der Tankstelle gab. Und das, obwohl mir als Kind andauernd schlecht gewesen war von dem kalten Rauch, der meinen Vater auf Schritt und Tritt verfolgte. Am schlimmsten war es auf den achtstündigen Autofahrten an die Adria gewesen, als wir noch in Urlaub gefahren waren. Acht unendliche Stunden, erfüllt mit dem Geruch von verbrannten Holzspänen seiner filterlosen Zigaretten. Spätestens wenn der alte Brennerpass anfing, mit den Serpentinen hinauf in die Ewigkeit und den engen Tunneln durch zersprengte Bergkämme, bei denen ich mich immer fragte, was wohl passierte, wenn man hier mitten im lichtlosen Tunnel liegen blieb, musste ich früher oder später raus aus dem Scirocco und mich übergeben. Du bist reisekrank, Konstantin, sagte meine Mutter, und ich glaubte ihr.

Der Böhmi rauchte jetzt auch. Inhalierte übertrieben.

»Habt ihr morgen ein Spiel?«, fragte ich.

»Ettenkofen«, sagte er.

»Sind die gut?«, fragte ich. Aus Höflichkeit.

»Null. Das sind Arschlöcher.« Er holte seinen kopierten Zettel vom Kreuzweg aus der Hosentasche. Dort waren in beinahe unlesbar kleiner Schrift die Texte der Lieder abgedruckt, die bei der Prozession gesungen wurden. Manchmal kopierte der Zogo diese Zettel für den Pfarrer bei uns im Büro, weil wir als Einzige im Ort einen Kopierer hatten. Mein Vater schenkte ihm die Kopien, dafür verzichtete der Parzefall darauf, ihn zu rügen, weil er nicht in die Messe ging.

Der Böhmi zündete den Liederzettel an und warf ihn auf einen Heuballen.

»Pass auf. Das brennt«, sagte ich. Wusste natürlich, dass der Böhmi wollte, dass es brennt.

»Arschlöcher«, seufzte er und lehnte sich in das Stroh zurück.

Das Feuer entwickelte sich nicht so schnell, wie ich befürchtet hatte, aber der Rauch vernebelte bald den Schuppen. Ich stand auf und schob die Tür auf. Draußen schien die Sonne, wie sie das ganze Jahr noch nicht geschienen hatte. Das Heu war noch klamm vom Winter. Ziemlich sicher würde das Feuer noch nicht einmal auf die Scheune übergreifen, sondern im feuchten Heu ersticken.

»Komm jetzt!«, rief ich. »Sonst sieht uns jemand.«

»Entspann dich«, sagte der Böhmi. »Sind doch alle auf dem Kreuzweg oder auf der Wallfahrt.« Dann kam er mit seiner Zigarette im Mund und dem Feuerzeug in der Hand aus dem Heustadel wie Clint Eastwood. Ihm folgte eine hellgraue Rauchschwade.

»Der Kreuzweg ist aber gleich aus. Beim Abschlussgebet sitzen wir wieder mit in der Kirche. Dann fällt nicht auf, dass wir weg waren.«

»Nicht blöd, Schwarzer«, sagte der Böhmi, der mich Schwarzer nannte, weil ich ausschließlich schwarz gekleidet war. Ich besaß sogar schwarze Tennisschuhe, die sehr selten waren. Wir liefen den Feldweg hinunter zurück in den Hämorrhoiden-Weg und spähten vorsichtig beim Ford Sedlec auf die Hauptstraße hinaus. Der Zug verschwand gerade in der blassroten St. Ignatius Kirche mit ihrer infamen Zwiebelspitze. Die Leute sangen dem Parzefall ein Vater unser nach, und wir reihten uns an seinem Ende ein, ohne dass sich jemand nach uns umdrehte.

In der Kirche nahmen wir die Treppe hoch zur Empore, die normalerweise dem Chor der Veteranen vorbehalten war, in dem auch der Zogo sang. Doch der Chor war geschlossen auf Wallfahrt, und so blieben die meisten Plätze auf der Empore leer. Hinter uns ruhte die riesige Orgel, von der ich mich immer fragte, wie sie überhaupt in die Kirche hineingekommen war. Durch den Haupteingang hätte sie nicht gepasst. Niemand spielte Orgel am Karfreitag, das war natürlich verboten.

Während der Parzefall die letzte Station vorlas, studierte ich den linken Altar, meinen Lieblingsaltar. Der Hauptaltar von St. Ignatius wurde von zwei Nebenaltären flankiert, zumindest wirkte es von hier oben aus so. In Wirklichkeit befand sich der Hauptaltar in der Apsis, und die beiden kleineren Altäre standen links und rechts an der Wand vom Kirchenschiff. Die Figur des heiligen Sebastian auf der linken Altarseite war an einen Baumstumpf gefesselt, der wie ein verkohlter Wolf aussah. Um die goldenen Pfeile in seiner Brust waren kleine Eintrittswunden mit possierlichen Blutströpfchen gemalt. Ein Pfeil steckte in seinem linken Unterarm, vermutlich deshalb, weil Sebastian die linke Hand mahnend erhoben und so seine Angriffsfläche unnötig vergrößert hatte. Wer mahnt auch so gestenreich, während er mit Pfeilen beschossen wird?

»Jesus aber schrie noch einmal laut auf. Dann hauchte er seinen Geist aus«, sagte der Parzefall jetzt wieder in sein normales Mikrofon vorne an seinem Rednerpult. Ich dachte an das weiße Mädchen beim Kriegerdenkmal vor dem Schloss. Ich sah den Böhmi an, der die Augen geschlossen hatte, als würde er schlafen. Ich nahm ihm das mit der Karin eigentlich nicht übel, dachte ich.

Der Parzefall erhob die Stimme. »Da riss der Vorhang im Tempel von oben bis unten entzwei. Die Erde bebte, und die Felsen spalteten sich. Die Gräber öffneten sich, und die Leiber vieler Heiligen, die entschlafen waren, wurden auferweckt.«

Der Böhmi riss die Augen auf. »Wo hast du eigentlich den Schweden hin?«

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KRIEGERDENKMAL

Bei uns daheim stand eine Tankstelle. Es war nur eine einzige Zapfsäule mit Diesel, sie hatte aber trotzdem einigen Ärger verursacht. Installiert hatte sie mein Großvater Johann Wolff, also nicht der Zogo, sondern der Vater meines Vaters. Sie stammte aus einer Zeit, als die Wolffs noch ihr eigenes naturtrübes Bier, auch Zwickel genannt, gebraut hatten und es mit einem Siebenkommafünftonner durch den gesamten Landkreis fuhren, denn das Praamer Zwickel war eine kulinarische Besonderheit. Der Großvater hatte sich ausgerechnet, dass es ihn billiger käme, eine eigene Zapfsäule für seinen kleinen Lkw anzuschaffen und den Rest des Diesels für Preise, die unter denen in Schyren lagen, auch den befreundeten Bauern und Fahrern vom Sägewerk im Ort anzubieten. Doch schon beim Großvater Johann hatte der Missbrauch angefangen. Nachts waren wildfremde Leute auf die kurze Teerbahn neben unserem Haus gefahren und hatten getankt, ohne zu bezahlen. Daraufhin hatte der Großvater ein Schloss anbringen lassen, das er allerdings tagsüber abnahm. Weil er kein Personal beschäftigen wollte, das die Tankenden abkassierte, verließ er sich auf den Anstand der Leute. Den Fahrern, die immer seltener aus Praam stammten, war der Anstand egal, sie befüllten nach der Schicht ihre Privatautos und ließen es aufs Sägewerk schreiben. Der Fabrikant Reichelt weigerte sich irgendwann, die ausstehenden Rechnungen zu bezahlen, weshalb mein Vater die Zapfsäule trockenlegte und bald darauf auch die Herstellung und den Vertrieb vom Praamer Zwickel einstellte. Seitdem stand sie nutzlos neben unserem Haus herum, und das Gras rankte sich immer weiter an ihr hinauf.

Wie oft, wenn ich auf den Böhmi oder den Bartl wartete, saß ich auf der Zapfsäule und schaute über die Hauptstraße hinweg hinauf zum Jägerberg. Der Heustadel war nicht niedergebrannt. Aber immerhin war die freiwillige Feuerwehr da gewesen und hatte nasse Decken auf das schwelende Heu geworfen, wie meine Mutter beim Metzger erfahren hatte. Der Hämorrhoiden-Schorsch hatte den Rauch gesehen und sie gerufen. Ob er auch uns gesehen hatte, war noch nicht heraus. Auch nicht, ob jemand den Schweden gefunden und auf Fingerabdrücke untersucht hatte. Nun war Ostermontag, und seit Karfreitag hatte ich nicht mehr mit dem Böhmi gesprochen.

Wir waren mit dem Bartl verabredet, um gemeinsam »um rote Eier« zu gehen. Ich weiß bis heute nicht, woher dieser Brauch überhaupt stammte, beziehungsweise, ob es überhaupt ein echter Brauch war. So viel stand fest: Es war einer der besten Tage des Jahres. Der einzige Tag, an dem die Praamer Gesellschaft die Kombination von Schnaps und Hausbesuchen bei noch nicht volljährigen Mädchen zu hundert Prozent tolerierte, wenn nicht sogar unterstützte.

Am Ostermontag diktierte dieser merkwürdige Brauch, dass die jungen und unverheirateten Männer bei den unverheirateten Frauen klingelten und um rot gefärbte hart gekochte Eier baten. Zu den roten Eiern bekamen sie in der Regel ein Gläschen Schnaps dazu, gelegentlich eine Brotzeit und was am allerwichtigsten war: eine Audienz und gegebenenfalls ein Küsschen der Tochter des Hauses. Das war alleine deshalb so besonders erwähnenswert, weil es sich überhaupt nicht gehörte, ein Mädchen zuhause aufzusuchen, das noch bei seinen Eltern wohnte. Da die Mädchen in Praam aber in der Regel entweder für immer zuhause wohnten oder heirateten und umgehend bei den Schwiegereltern anbauten, fragte ich mich, wie man jemals mit einem Mädchen aus Praam schlafen sollte, wenn man sich nicht gegenseitig besuchen durfte. Selbst meine Eltern missbilligten das Mitbringen von Mädchen aus Praam oder Nachbarorten, weniger wegen der Moral, sondern wegen des Geredes der Leute, wie meine Mutter betonte.

Der Ostermontag befreite uns einen Tag lang zumindest im Ansatz von diesen Fesseln. Ein Höhepunkt unseres Kalenderjahres, an dem wir vollkommen legitim Mädchen unserer Wahl besuchen konnten, auch solche, die uns mit dem Arsch nicht anschauten. Vom Brauchtum geschützt zogen wir durch ihre Vorgärten und wurden mit jedem Stopp betrunkener.

Der Böhmi war der ideale Kompagnon auf dieser Mission. Niemand konnte so ungekünstelt und schnell mit Mädchen ins Gespräch kommen wie er, und das obwohl er nur einen Monat älter war als ich und die Schultern hochzog wie ein Gorilla, wenn er mit Mädchen redete. Der Böhmi war ein ladies’ man, sagen wir’s, wie’s ist. Die Irritation in unserer Ostermontagskonstellation war der Bartl.

Der Bartl hieß Bartl, weil er als Einziger von uns schon mit siebzehn einen Vollbart trug. Einen dichten schwarzen Vollbart, wie er männlicher nicht ausschauen konnte, und den er schon mit fünfzehn hatte. Das war aber auch schon das Männlichste an ihm. Der Bartl war höchstens einen Meter sechzig groß, roch immer ein bisschen nach Rost und wusch nie seine langen, algenartigen Haare. Er trug jeden Tag dieselben weißen Turnschuhe mit Klettverschluss, eine graue Jeans und einen grünbraunen Pullover mit einem Muster wie eine Jagdzimmertapete. Wenn es etwas wärmer war, zog der Bartl diesen Pullover aus und hatte darunter ein T-Shirt der Band Rush an, genauer gesagt des Covers der LP Power Windows, auf der ein Mensch mit seltsamer Frisur vor einem Fenster sitzt, während hinter ihm ein paar futuristisch wirkende Fernseher stehen. Der Bartl hörte Rush, Saga, Marillion und Yes. Der Böhmi schimpfte ihn einen Popper.

Der Bartl würde als Erster von uns achtzehn werden. Er nahm bereits Fahrstunden und freute sich auf sein Geologie-Studium. Nicht, dass ich nicht auch aus Praam rauswollte, aber so ganz geheuer war mir die Volljährigkeit dann doch nicht. Woran meine Mutter wohl nicht so ganz unschuldig war. Ich weiß noch, wie ich in der fünften Klasse das erste Mal Liebeskummer hatte und den Fehler beging, es daheim zu erzählen. Sie hatte ihre Gabel weggelegt und gesagt: »Das stört dich vielleicht jetzt ganz enorm, aber es ist in Wirklichkeit nichts Schlimmes. Die richtigen Probleme kommen erst, wenn du erwachsen bist.« Das hatte sich eingebrannt.

Der Bartl war jedenfalls unser kleines Handicap auf der Rote-Eier-Tour. In Gegenwart von Mädchen verstummte er in der Regel vollständig und fing an, sich an eh schon offenen Hautstellen zu kratzen. Aber er war auch unser Freund, und näher würde er das ganze Jahr über keinem Mädchen kommen als am Ostermontag. Er hatte sich das verdient, an der Haustür vor so einer Unerreichbaren wie der Karin Zellmair zu stehen und mit ihr einen Eierlikör zu trinken.

Für mich war der Besuch bei Karin Zellmair in diesem Jahr ein Tiefpunkt. Sie hatte sich wirklich hervorragend zurechtgemacht, in einem blauen Kleid und einer schwarzen Strumpfhose mit blauen Absatzschuhen. Hatte dafür gesorgt, dass ihre Eltern bei einem Kriminalfilm im Wohnzimmer abgestellt waren. Und doch schien es, als empfinge sie an dem Abend ausschließlich den Böhmi. Noch nicht einmal beim Anstoßen mit dem Eierlikör sah sie mir in die Augen, geschweige denn dem Bartl. Es gab nur den Böhmi. Sie ließ uns auch nicht in die Wohnung. Aber den Böhmi nahm sie mit nach hinten in den Garten, um ihm das neue Schwimmbecken zu zeigen, das ihr Vater jetzt schon aufgestellt hatte, weil sich ein warmer Vorsommer ankündigte. Zudem war das Schwimmbecken beheizbar, schließlich gehörte dem Vater die Sanitärfirma im Ort.

Als der Böhmi wieder zurückkam, standen schon der stockbesoffene Radlmeier und zwei seiner debilen Freunde aus Salching vor dem Haus.

»Zischt’s euch«, sagte der Radlmeier.

»Langsam reiten, Radl«, sagte der Böhmi. Bedeutete uns mit einem Winken, den Rückzug anzutreten. Mit dem Radlmeier war nicht zu spaßen, der hatte erst letzten Monat dem Cousin vom Böhmi auf einer Party eine volle Bierflasche nachgeworfen und ihn am Hinterkopf getroffen. Der Cousin war kurz bewusstlos gewesen, und der Radlmeier hatte sich darauf zufrieden hingelegt und war mitten auf der Party auf einem Biertisch eingeschlafen.

»Das sieht doch gut aus mit der Karin«, sagte der Bartl zum Böhmi, als wir uns von dem langen weißen Haus mit den Ziergiebeln entfernten.

»Mal schauen«, sagte der Böhmi und zog die Schultern noch höher als sonst. »Kein Stress.«

Wir liefen hinauf auf den roten Berg, wo meine letzte Hoffnung für diesen Abend ruhte: das Gespenst vom Kriegerdenkmal, von dem wir noch nicht einmal wirklich sicher sein konnten, ob es da war, ob es den Brauch kannte und akzeptierte. Auf dem höchsten Punkt vom roten Berg gab es eine Sackgasse, die in einem Rondell endete. Vier beinahe identisch aussehende Häuser mit Vorgärten standen dort, aber laut Böhmi musste es das fünfte Haus sein, das zwischen Winkler und Berghammer. Der Bartl wollte unbedingt vorher zur Kerstin Berghammer, dem mit Abstand merkwürdigsten Mädchen im Ort, vermutlich fühlte er sich mit ihr verbunden, weil sie auch fettige Haare hatte. Doch auch der Böhmi war mehr an dem neuen blassen Geschöpf aus dem Meyer-Haus interessiert als daran, einen Kokoslikör mit der immer etwas verwirrt wirkenden Kerstin Berghammer zu trinken und die mindestens drei Jahre alte Schokolade zu essen, die sie uns anbot.

Und so klingelten wir ohne Rücksicht auf den Bartl gleich beim Meyer-Haus, das sich als einziges grundlegend von den umliegenden Häusern im Rondell unterschied. Alle anderen waren weiß gestrichen, mit dunkelroten Spitzdächern, sauber rasierten Vorgärten und Garagen neben dem Hauseingang, das Meyer-Haus hingegen besaß weder eine Garage noch einen Vorgarten. Seine gesamte Gartenfläche befand sich vor dem Haus, weshalb es auch viel weiter von der Straße entfernt lag als die anderen. Das Gebäude selbst war das einzig alte im Rondell und musste hier oben sicher eine Zeit lang alleine gestanden haben. Es wirkte asymmetrisch und trotzig, mit seinem schwarzen, beinahe flachen Dach. Die Fassade schimmerte grünlich in den gerade angegangenen Straßenlaternen, die sich noch nicht ganz gegen das letzte Tageslicht durchsetzen konnten.

Ein schwarzer BMW parkte mitten im ungemähten Rasen.

Ich war mir ganz und gar nicht sicher, ob es angebracht war, hier um rote Eier zu klingeln, aber der Böhmi drückte längst auf den vergoldeten Klingelknopf an der Haustür aus schwerem Dunkelholz. Von drinnen hörten wir eine Art Gong und stellten uns im Reflex wie in Formation auf: ganz vorne der Böhmi, dann ich und hinten der Bartl, der nicht aufhörte, sich hinter dem Ohr zu kratzen, wo er eine Schuppenflechte hatte.

Die Tür ging auf, und vor uns stand ein riesenhafter Mann in einem schwarzen Rollkragenpullover. Seine Arme waren derart lang, dass er damit locker dem Bartl in dritter Reihe eine hätte patzen können. Seine aufsässigen schwarzen Locken versuchte er, mit Gel zu bändigen, was zu merkwürdigen Verwerfungen in der Frisur führte.

Er musterte uns. Fragte dann mit tiefer und dialektfreier Stimme: »Was kann ich für Sie tun?« Das war in unserer mehrjährigen Geschichte des Um-rote-Eier-Laufens definitiv der erste Mensch, der uns siezte.