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CHRISTIAN SAEHRENDT
STEEN T. KITTL

Ist das Kunst
oder
kann das weg?

Als Kind habe ich immer davon geträumt, einer der Helden in der Geschichte von Robin Hood zu werden, wenn ich groß bin. Ich hätte niemals gedacht, dass ich am Ende nur eine der Goldmünzen sein würde.

Banksy

VORWORT

Was ist der wahre Wert der Kunst?

Vor zehn Jahren, auf dem ersten Höhepunkt des noch immer anhaltenden Kunstmarkthypes, erschien unser Buch Das kann ich auch! Gebrauchsanweisung für moderne Kunst. Dieser Band nun liefert die notwendige Fortsetzung. Denn am Ende der Gebrauchsanweisung stand die bange Frage: Was wird die Kunst von morgen sein, wie wird sie in 100, 200 Jahren aussehen? Und wie kann ich Kunst überhaupt noch von anderen Bereichen, die ebenso bunt, glänzend und durchdesignt sind, unterscheiden? Diese Fragen stellen sich heute drängender denn je, da sich einerseits das Kunstuniversum immer weiter ausdehnt und andererseits keine klaren Unterscheidungskriterien mehr existieren zu den heutigen Erlebniswelten des Tourismus, der Eventkultur und kulturell orientierten Markeninszenierungen. Kunst kann offenbar heute überall sein – doch vielleicht ist sie gerade deshalb auch nirgends mehr wirklich wahrnehmbar oder gar begehrt. Was ist heute Kunst und was nicht? In dem sarkastischen Gag »Ist das Kunst oder kann das weg?« schwingt die gespielte Sorge mit, man könne aus Versehen etwas sehr Wertvolles wegwerfen, weil es sich nicht mehr auf den ersten Blick von Abfall unterscheiden lässt. Allerdings klingt darin manchmal auch eine mühsam kaschierte Aggression an, wenn so vorgegeben wird, Kunst nicht zu erkennen und sie auf diese Weise zu Abfall abzuwerten. Diese Aggression ist keineswegs nur kunstfernen Schichten zu eigen. Manche wollen auch einfach ihren Unmut über die Beliebigkeit zeitgenössischer Kunst zum Ausdruck bringen. Auch im akademisch gebildeten Kunstbetrieb begegnet einem hinter vorgehaltener Hand und mit einem Augenzwinkern vorgetragen diese Form unkorrekter Widerspenstigkeit gegenüber den immer neuen Volten künstlerischer Artikulation.

Doch in dieser Abwertung, die Kunst generell mit Müll gleichsetzt, schwingt immerhin auch eine beruhigende Botschaft mit: In der Regel wird ja Kunst auch heute nicht einfach so weggeworfen – und wenn es doch einmal passiert, wird meistens ein Skandal daraus gemacht. In jedem Fall geht der Spruch »Ist das Kunst oder kann das weg?« auf Kosten der Kunst, denn er bringt zum Ausdruck, dass Kunst gar nicht mehr als etwas begriffen wird, das einen persönlich betreffen könnte. Es geht praktisch nur noch darum, irgendein Ding mit einem Label zu versehen, das seinen (oft unbegreiflich hohen) Warenwert rechtfertigt.

Ein unscheinbares, simples, aus billigen Materialien oder gar gleich aus Abfall hergestelltes Objekt, das im Handel als ›Kunst‹ einen sehr hohen Preis erzielt – das gilt weiten Teilen der Bevölkerung noch immer (und vielen Insidern des Kunstbetriebs stillschweigend ebenso) als Obszönität. Obwohl wir gelernt haben, die Vielfalt der Geschmäcker und Kunstauffassungen zu tolerieren, und die Geschichte der oftmals provokativen Avantgarden kennen, staunen wir immer wieder über die absurd hohen Summen, die für Dinge ausgegeben werden, die weder geistig originell noch handwerklich-technisch avanciert sind und erst recht keinen hohen Materialwert haben.

Überspitzt könnte man sagen, dass in der Frage »Ist das Kunst oder kann das weg?« eine gesellschaftliche Grundhaltung zur zeitgenössischen Kunst zum Ausdruck kommt. Der alte alchemistische Wunschtraum, aus »Scheiße« Gold machen zu können, hat sich auf dem Kunstmarkt erfüllt, was Außenstehende zu ebenso grenzenloser Bewunderung wie abgrundtiefer Wut verführt – und nicht selten schwankt man zwischen diesen beiden Emotionen hin und her. Genauso widersprüchlich und vielschichtig gestaltet sich heute die Wahrnehmung, die Rezeption von Kunst. Die Medienberichterstattung ist vor allem geprägt vom Staunen über Preisrekorde oder vom Skandalisieren von Tatbeständen wie Fälschung, Kunstraub oder Vandalismus. Zahlen spielen dabei eine herausgehobene Rolle, vor allem im Positiven, bei den erzielten Preisen, weit seltener im Negativen, wenn es um Schäden und Verluste geht – darüber wird später noch genauer zu sprechen sein. Gleichzeitig sind Begriffe wie ›Kommerz‹ und ›Konsum‹ nach wie vor Reizwörter, wenn über die Kunst und die Bedeutung der Kultur für die Allgemeinheit geredet wird. Kunst soll vor allem als symbolischer Wert wahrgenommen werden, nicht als ökonomischer – das wünschen sich noch immer viele Zeitgenossen. Kunst wie andere Luxusgüter zu konsumieren, gilt Idealisten als Widerspruch in sich, und doch ist der Umgang mit ihr, ganz gleich, ob beim Laien oder beim Kunstkenner, von konsumorientiertem Verhalten geprägt. Kunst und Markt lassen sich in der Realität kaum voneinander trennen, und vielleicht sind beide Bereiche mittlerweile sogar identisch – ein Dilemma, auf das wir in diesem Band noch mehrfach zu sprechen kommen werden, doch soll uns zunächst folgender Fall darüber Aufschluss geben.

Sommeridylle in New York

An einem Septembersonntag im Jahr 2013 steht ein älterer Herr im Central Park und bietet kleine Leinwandbilder zu sechzig Dollar das Stück an. Doch das Geschäft läuft zäh, weder Touristen noch Einheimische beißen an, vielleicht liegt es an den Schablonen-Graffiti-Motiven, die weder hübsch noch witzig sind? Der glücklose Verkäufer beginnt den Passanten Leid zu tun, nach Stunden erbarmt sich eine Frau und kauft zwei winzige Bildchen für ihre Kinder, nicht ohne den Preis zuvor auf die Hälfte herunterzuhandeln. Was weder die Käuferin noch die Passanten wussten: Die Werke stammten von dem britischen Street Artist Banksy, einem Liebling des Kunstmarktes. Hier hätte sich ein Schnäppchen sondergleichen angeboten! Denn gewöhnlich gehen Banksy-Werke unter Sammlern weg wie warme Semmeln – für mehr als 40.000 US-Dollar. Der Künstler, der die Aktion filmen ließ, war trotzdem zufrieden, obwohl man es auch als peinliche Blamage interpretieren könnte, wenn ein Liebling des High-Art-Kunstmarktes auf dem Flohmarkt, vor einem Alltagspublikum keinerlei Beachtung findet. Der seit einigen Jahren weltweit zu Ruhm gelangte Banksy hat mittlerweile ein Identitätsproblem. Sein Markenzeichen sind witzige, sozialkritische Graffiti und andere illegale optische Eingriffe in den städtischen Raum. Nun werden seine Werke aber zu hohen Preisen gehandelt und im Auftrag gieriger Sammler von den Hausfassaden gestemmt, um sie museumstauglich zu konservieren. Trotzdem schien Banksy, der sich ein paar Monate in New York aufhielt, nun auf den Geschmack gekommen zu sein, seinen eigenen Marktwert durch demonstrative Aktionen zu sabotieren und gleichzeitig das Preisgefüge und die Strukturen des Kunstmarkts damit zu kritisieren. Das klingt mutig und folgt dennoch brav der Logik des Marktes, schließlich sorgte die Meldung vom Banksy-Flohmarkt im Central Garden doch für weltweite Aufmerksamkeit und Sympathie – und damit auch für die weiter steigende Reputation des »Anti-Künstlers« (und natürlich die Preise, die für seine Werke aufgerufen werden).

Banksy, The Banality of the Banality of Evil, 2013 [1]

Banksy setzte sein kokettes Spiel mit den Mechanismen des Kunstmarktes fort. Würde es ihm jetzt gelingen, die Regeln des Marktes zu entlarven und als kritischer Künstler glaubwürdig zu bleiben? Mit einem nächsten Streich rief er allerdings ein geteiltes Echo hervor. Banksy hatte ein zuckersüßes Naturidyll mit Seenlandschaft und sanft geschwungenen Bergketten in einem Laden von Housing Works gekauft, einer gemeinnützigen Einrichtung, die Hilfe für Obdachlose, Arme und Kranke in New York leistet. Das 50-Dollar-Bild überarbeitete Banksy anschließend; was an sich nichts Neues ist – die Übermalung von älteren Werken anonymer Künstler stellt ein Subgenre dar, das schon in den 1960er-Jahren erprobt wurde, etwa vom dänischen Künstler Asger Jorn, der seine mit groben Pinselstrichen übermalten Flohmarkt-Kitschbilder zu »Monumenten zu Ehren der schlechten Malerei« erklärte. Darum allerdings wird es Banksy über fünfzig Jahre später nicht gegangen sein, denn in den Vordergrund jenes Rocky-Mountain-Landschaftsbildes setzte er einen Offizier mit Hakenkreuzbinde, der von einer Bank aus andächtig die Herbstlandschaft genießt. Zur Legende dieses nunmehr neuen Bildes mit dem Titel The Banality of the Banality of Evil gehört, dass es Banksy nach der Übermalung wieder in den Trödelladen zurückgeschmuggelt habe, aus dem es stammte. Die Betreiber sollen dann, nachdem sie Banksys Signatur auf dem Bild entdeckten (Sensation!), die Leinwand in eine hauseigene Auktion gegeben haben, deren Gewinn vollständig den Projekten von Housing Works zugute kam. Zu vermuten ist, dass die Aktion von vornherein mit der sozialen Einrichtung abgesprochen war. Am Ende der Versteigerung wurde der Zuschlag für den »Original Banksy« bei 615.000 Dollar erteilt. Das ist die Summe, die weltweit in den Medien Verbreitung fand. Nachdem sich die mediale Aufmerksamkeit um die Versteigerung gelegt hatte, wurde bekannt, dass das Werk nach dem Rückzug des Höchstbietenden für eine unbekannte Summe an einen der anderen Teilnehmer der Auktion ging.

Banksy spielte mit seiner Übermalungsaktion die »Nazi-Karte«. Der Einsatz von Naziemblemen, das Spiel mit der Nazi-Aura oder mit düster-braunen Assoziationen sorgt auch in der Kunst zuverlässig für ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit und ist dem kommerziellen Erfolg in der Regel durchaus eher zuträglich. Hinzu kommt offenbar eine spezifisch britische NS-Obsession, mit der auch schon Banksys Landsleute Jake und Dinos Chapman Erfolg hatten, als sie 13 Aquarelle Adolf Hitlers erwarben und diese bar jeder Virtuosität gemalten Landschaften und Stadtansichten »überarbeiteten«. Hitler hatte sich bekanntlich in jungen Jahren erfolglos um die Aufnahme an der Wiener Kunstakademie beworben und musste sich anschließend mit dem Malen von Stadtansichten über Wasser halten. Bereits im »Dritten Reich« wurden seine Werke, die vormals im Wien Touristen angeboten wurden, zu derartig hohen Preisen gehandelt, dass es angeblich Hitler selbst peinlich gewesen sein soll. Doch nun, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, wurden sie noch teurer. Mit fröhlichen Smiley-Köpfen, Herzen und Flowerpower-Mustern versehen, verkaufte man sie auf der Art Basel für einen Dollar-Millionenbetrag. »Wenn es die Hölle gibt und wenn Hitler sich dort befindet, wird er durchdrehen: Es ist nun nicht mehr sein Werk, es ist jetzt unseres«, rechtfertigte der Hitler-Sammler Jake Chapman seine Strategie, den »bösen« Aquarellen die Aura zu nehmen.

Banksy hatte es immerhin geschafft, eine spießig-kitschige Landschaftsmalerei mit einem kleinen Zusatz ins Monströse und Skandalöse zu verwandeln. So schnell wird aus harmloser Kunst, die sich selbst genügt, ein gefährliches Ungeheuer, wird aus einer Idylle die Ruhezone reaktionären Terrors. Banksys gemalter Sonntagsnazi wirkt wie eine Edelvariante des einfachsten aller Polit-Graffitis – des denunziatorischen Hitlerbärtchens, rasch und mühelos in die Wahlplakatgesichter der Kandidaten gezaubert, ebenso billig und banal wie effektiv: Auf diese Weise wird jeder lächerlich oder unmöglich gemacht.

Die Vermutung, dass sein Bild für viel Geld an jemanden verkauft werden würde, der sich weniger für Inhalte interessiert, sondern eher dafür, ein Werk eines gehypten Künstlers zu ergattern, könnte Banksy zusätzlich zu diesem despektierlichen Gemälde motiviert haben – einen vergleichsweise wenig originellen Eingriff auf dem Flohmarktschinken vorzunehmen. Wer sich den »Sonntagsnazi« wirklich ins Loft hängte, wird doppelt bestraft: Für viel Geld hat er ein hässliches und politisch kontaminiertes Werk erworben, eine miese Landschaftsmalerei im Paket mit einem gestiefelten Nazi. »Ich kann nicht glauben, dass ihr Schwachköpfe diesen Scheiß tatsächlich kauft«, betitelte Banksy einmal einen seiner Cartoons, der eine leere, zur Versteigerung stehende Leinwand abbildete. Banksy hat hier aus Kunst- und Motivschrott, also aus Mist, Gold gemacht. Und dieses Gold kommt einer sozialen Hilfsorganisation zugute. Der gute Banksy – nun ist er doch so etwas wie Robin Hood und gleichzeitig zum Goldstück geworden. So kann er mit seinen Werken die Absurditäten der Suche nach dem »wahren Wert der Kunst« aufspießen; der Verwertungslogik des Marktes entkommt er dabei jedoch auch nicht.

Der wa(h)re Wert der Kunst

Aber, fragt man sich, was ist denn nun der »wahre Wert« der Kunst? Wenn man ihm auf die Spur kommen will, sollte man sich von der Idee verabschieden, dass Kunst mit dem großen Geld zu tun haben muss; die Haltung des gierigen Schatzsuchers, der in jedem Kehrichthaufen ein Goldstück vermutet, immer neuen Trends nachjagt und Besitzen mit Verstehen gleichsetzt, ist der sichere Weg an dem vorbei, was Kunst eigentlich ausmacht. Kunst ist mehr wert als Gold oder Geld und gleichzeitig nur das wert, was wir bereit sind, ihr an Aufmerksamkeit, also an Lebensenergie und Lebenszeit, zu spenden.

Dieses Buch widmet sich einer Kunstauffassung jenseits des Luxussegments, jenseits der großen Finanzströme des Auktionshandels, der Sponsoringkonzepte von Unternehmen, der Prachtsammlungen von Milliardären und Oligarchen. Aber bei der allgegenwärtigen Fixierung auf Geld und Wertsteigerung ist es alles andere als leicht, zu erkennen, was den Wert der Kunst jenseits des Marktes ausmacht, welchen persönlichen, emotionalen Wert Kunst für den Einzelnen haben kann; welchen sozialen Wert Kunst für die Gesellschaft hat. Zugleich resultieren aus dieser Suche Fragen zum Umgang des Einzelnen und der Gesellschaft mit Kunst. Und mit der Frage »Was ist uns die Kunst wert?« erreichen wir zudem auch das Feld der Kulturpolitik. Es ist ein unüberschaubares Feld: Es gibt immer mehr Kunst, immer mehr Künstler und Museen, und das auf der ganzen Welt. Auf den ersten Blick scheint diese Expansion eine erfreuliche Tatsache zu sein, doch die Kehrseite besteht in der bangen Frage: Wohin mit all diesen Schätzen? Kunstproduktion und Kulturindustrie wachsen unentwegt, doch die Speicherkapazität ist begrenzt. Schon werden die ersten Debatten laut und polarisieren die Öffentlichkeit, Debatten um die Frage, ob Museen Kunst verkaufen dürfen? Dürfen sie gar Kunst wegwerfen? Darf man Museen schließen oder zusammenlegen? Ist das Museum überhaupt noch der Ort, an dem Kunst rezipiert wird? Ist die Ausstellung als das traditionelle Format, Kunst und Publikum zusammenzubringen, noch zeitgemäß? Sind staatlich finanzierte Akademien, an denen Künstler ausgebildet werden, praxisfremd und letztlich überflüssig? Wird falsch gefördert? Wird zu viel Kunst gefördert? Gibt es zu viele Künstler? Und wie kann man mit Kunst leben, ohne sie kaufen, sammeln, besitzen zu müssen? Wie kann man heute Kunst machen oder Kunst genießen, ohne viel Geld in der Tasche zu haben?

Viele Kritiker und Künstler haben in den letzten Jahren das »Ende der Kunst« beschworen – erstickt vom vielen Geld. Ein Beispiel dieser Untergangsliteratur lieferten Markus Metz und Georg Seeßlen mit ihrem Pamphlet: »Geld frisst Kunst, Kunst frisst Geld«, in dem sie schreiben: »Nicht nur frisst der absurde Reichtum der oberen 0,1 Prozent die Kunst auf, die keine Chance mehr hat, sich in die Gesellschaft hinein zu entwickeln, sondern umgekehrt frisst die Kunst auch diesen absurden Reichtum, der im Kern nicht wirklich weiß, wohin mit sich. So neutralisieren zwei volkswirtschaftlich unproduktive Größen sich nicht nur kulturell, sondern auch wirtschaftlich.« Showdown zwischen Kunst und Geld – wer wird hier auf der Strecke bleiben? So sticht aus all den Fragen, die man sich rund um die Kunst stellen kann, eine hervor, die aber so gut wie nie gestellt wird: Hat die Kunst eine Zukunft?

EINS

Hat die Kunst eine Zukunft?

Oft ist schon das Ende der Kunst verkündet worden – ob von großmäuligen Avantgardekünstlern oder von kulturpessimistischen Theoretikern. Meist stand hier das Ende einer linearen Entwicklung der avantgardistischen Kunststile im Mittelpunkt des Jammers. An ihrer Stelle beklagte man eine unübersichtliche Zersplitterung der Kunstszenen und Ideen in der Postmoderne.

Aber trotz allen Untergangsgeredes ist die Erfolgsgeschichte der Kunst stets weitergegangen: Immer mehr Museen, Künstler, Sammler, immer höhere Besucherzahlen bei kulturellen Großveranstaltungen und immer neue Auktionsrekorde sind zu vermelden. Diese Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Warum also sollte die Kunst ausgerechnet jetzt am Ende sein? Vielleicht weil sie nicht mit einem krachenden Spektakel zu Ende geht, sondern in leisem, stetigem Wandel. Denn nicht die Theoriepostulate und Künstlermanifeste entscheiden über unseren Kunstbegriff, sondern unser alltägliches Verhalten. Letztlich wird die Frage nach dem Ende der Kunst schleichend, aber dennoch wirksam entschieden, vom Publikum, vom Theaterabonnenten, vom Steuerzahler, von uns allen. Die Kunst kann auch unmerklich an Wert und Wertschätzung verlieren, sie muss nicht mit einem großen Knall verschwinden.

Zugegeben, »das Ende der Kunst« schreckt nicht gerade die Massen auf, weit dramatischeres Potenzial hat die in einer Vielzahl von Büchern ausgebreitete Frage, ob kurz- oder mittelfristig das Ende des Kapitalismus zu erwarten sei. Hier wird allerdings oft übersehen, dass das globale Kunstsystem und der Kapitalismus aus dem gleichen Ei stammen, sie sind Zwillinge, ja sogar siamesische Zwillinge. Ohne den Kapitalismus könnte der Kunstmarkt nicht leben. Deutet die Krise der Kunst auch das Ende des Kapitalismus an? Manche Experten und Expertinnen wie die Journalistin und Wirtschaftshistorikerin Ulrike Herrmann sehen zwar theoretisch rettende Alternativen zum Kollaps unserer Wirtschaftsform, aber wenig realistische Umsetzungsmöglichkeiten: »Wir fahren vor die Wand und keiner erforscht den Bremsweg.« Und nach dem Crash, so die düstere Perspektive, drohen Szenarien neofeudaler Systeme, die mit Gewalt und vielleicht auch Religion stabilisiert werden, eine quasi mittelalterliche Welt. Heute sehen wir dies bereits bei gescheiterten Staaten, morgen vielleicht selbst dort, wo es noch demokratisch und sozial abgefedert zugeht. Herrmann malt dieses dunkle Bild in Anlehnung an den Kulturschock am Ende des Römischen Reiches. Dessen zivilisatorischen Errungenschaften konnten die anschließend herrschenden, gerade eingewanderten Volksstämme mangels Wissen und Organisationsniveau nicht halten. Aquädukte, Thermalbäder wurden als Steinbrüche verwendet. Man wusste sonst nichts mit ihnen anzufangen. »Die Leute werden noch wissen, was ein Computer war. Aber sie werden ihn nicht mehr gebrauchen können. Sie wissen noch, was eine Autobahn war, aber sie werden nicht mehr die Energie haben, sie zu benutzen.« Werden sie noch wissen, was ein Picasso ist? Oder ein Banksy-Graffito? Laptops als Dachschindeln für Hütten in Elendsquartieren und Autowracks, umfunktioniert zu Gewächshäusern, Plastikflaschen als Bauelemente für Wasserfahrzeuge – das kommt uns doch bekannt vor! In diversen Ausstellungen mit zeitgenössischer Kunst dürfen wir solche Bricolagen (Basteleien) und Improvisationen immer wieder bestaunen. Schon sind wir wieder bei der Kunst. Zivilisationsmüll, der seine eigentliche Bestimmung verloren hat und gewissermaßen »arbeitslos« geworden ist, gewinnt neues Potenzial auf der symbolischen Ebene. Das belegen auch Klassiker wie die bittere Komödie Der zerbrochne Krug von Heinrich von Kleist, die ihren Siegeszug auf den Theaterbühnen vor bald zweihundert Jahren begann und selbst wiederum einem Dichterwettstreit entsprungen ist, den von Kleist und einige Dichterkollegen um einen Kupferstich veranstaltet hatten. Bei Kleist ist die zerstörte Titelrequisite nicht nur Sinnbild für die mutmaßlich geraubte Unschuld einer jungen Frau, sondern Ausgangspunkt einer Reflexion über Schuld, Sünde und menschliche Abgründe. Im Kaputten, im Abgelegten, im Müll, könnte man überspitzt formulieren, steckt Wahrheit. Und deshalb ist er ein Stoff, der heute erste Wahl ist, wenn die bildende Kunst brutalen Realismus und Fantasie miteinander ringen lassen will. Das gilt auch und besonders für populäre Medien wie TV-Serien und Spielfilme; hier finden Inszenierungen einer kaputten Welt nach dem Ende der Zivilisation ein großes Publikum. Hollywood inszeniert mit enormem Aufwand (und hohem Verschleiß energetischer Ressourcen) eine Dystopie nach der anderen.

Für jene, die das gegenwärtige Kunstgeschehen in die Verzweiflung treibt, könnte Hermanns Zukunftsszenario von neofeudalen Verhältnissen wie eine gute Nachricht klingen; wenngleich es dann mit der Freiheit der Künste – eben wie zu Zeiten der Alten Meister – nicht mehr weit her sein dürfte. Dann stünden wieder repräsentative Auftragsarbeiten zur Huldigung weltlicher und geistlicher Macht auf dem Programm. »Der Glanz der Kronen ist das Licht, welches das Gedeihen der Künste vorzüglich beförderte« – so brachte der Schriftsteller Wilhelm Heinrich Wackenroder, Mitbegründer der Deutschen Romantik, im Jahre 1796 diesen Gedanken auf den Punkt. Liegt die Zukunft der Kunst in einer ›Kunst der Lobhudelei‹? Wird es also in fünfzig oder hundert Jahren noch Kunst in der Vielfalt geben, wie wir sie heute kennen? Oder wird unsere schöne, bunte, teure (kritische und kluge) Gegenwartskunst in den nächsten Jahrzehnten einen langsamen Tod sterben – so wie unzählige Werke, die schon heute in den Depots verrotten? Werden die Menschen in hundert Jahren überhaupt noch in Museen gehen, um sich die historischen oder gar zeitgenössischen Originale anzusehen? Schon heute sieht die digital sozialisierte Generation immer weniger Gründe dafür. Viele Kunsthäuser haben ohne Zusatzevents große Mühe, mit ihren Dauerausstellungen und Sammlungsbeständen Publikum anzulocken. Besucherströme werden fast nur noch mit spektakulären Sonderausstellungen generiert, für die ein nicht unbeträchtlicher Teil des Budgets in Werbemaßnahmen fließt.

Gut möglich also, dass eine zukünftige Gesellschaft, in der niemand mehr einen Sinn in physischen Begegnungen mit Kunst, in der persönlichen Zwiesprache mit einem Werk sieht, den Museen, wie wir sie kennen, nach und nach die finanziellen Mittel entzieht, die Sammlungen aus Kostengründen schließt oder zu kulturellen Mehrzweckhallen umfunktioniert. Museen könnten dann in absehbarer Zukunft stärker noch als heute multifunktionale Event-Arenen zur Unterhaltung eines möglichst breiten Publikums sein, in denen vielleicht anstrengende, individuell zu rezipierende Kunstwerke erst immer weniger, dann schließlich gar keinen Platz mehr haben; möglicherweise auch, weil sich die Menschen wieder mehr dem rituellem Ursprung der Kunst annähern und in Festen und Spielen – Events – das Rätsel des Daseins beschwören, statt rätselhafte Objekte zu studieren. Mit ein wenig Glück wird man dann vielleicht auch etwas von der ekstatischen Verzückung spüren, die jene kultischen Feste aus den Kindertagen menschlicher Kultur bei den Teilnehmern erzeugten. Die Beliebtheit der Performance deutet diese Entwicklung heute schon an.

Es kann schon sein, dass es noch Pilgerstätten geben wird, an denen die Leonardos, Rembrandts und Picassos zu sehen sein werden. Aber schon jetzt handelt es sich hier eher um touristische Attraktionen, die als Hintergrund für Selfies geschätzt werden, weniger um kunsthistorische Werke, mit denen man sich ernsthaft auseinandersetzt. Ihr Zauber rührt daher, dass es sich um seltene Zeugnisse und Überbleibsel vergangener Epochen und historischer Persönlichkeiten handelt, deren Geschichten unserer Gegenwart eine gefühlte Tiefe verleihen. Diese Pilgerstätten sind schon heute auf größte Effizienz getrimmt und entwickeln sich zu Orten, an denen die Meisterwerke nur mehr den Rahmen für metropolitane Betriebsamkeit, Shoppingerlebnisse und Leistungsnachweise abgeben.

Wohl tun vor diesem Hintergrund Orte wie die Gemäldegalerie am Berliner Kulturforum mit einer der wichtigsten Sammlungen europäischer Malerei. Ihre meist leeren Hallen bieten dem Kunstfreund ein kontemplatives Erlebnis, Stille und Abgeschiedenheit für die Begegnung mit Kunst – allerdings unfreiwillig, weil eine städtebauliche Fehlplanung. Wenn auch der ein oder andere »Masterplan« aus Kostengründen vorläufig vom Tisch sein mag, werden die Stimmen nicht schweigen, die diese Meisterwerke direkt ins Zentrum der Touristenströme, auf die Museumsinsel, schieben wollen, weil sie dort die Berliner Kunst als louvremäßigen Blockbuster präsentieren können, um im Sinne des Städtemarketings mit Kalibern wie New York, London, Paris und Dubai zu konkurrieren.

Kunst kommt von Kopfschütteln

Wer sich heute für Kunst interessiert, sich gerne damit befasst oder gar – auch das gibt es – Kunst liebt, wird auf eine harte Probe gestellt. Da fällt es manchmal schon schwer, sich die Neugier zu bewahren und nicht in einen tristen Kulturpessimismus zu versinken, im Angesicht all der kriminellen Finanzgeschäfte im Kunstmarkt, der Verflechtung von Kunst und Kommerz, der medialen Übermacht von Großveranstaltungen und Sponsorenevents.

Stellvertretend für einen großen Teil der Kunstfreunde kommentierte ein Leserbrief in der Zeitschrift Art Damien Hirsts Kunst: »Es ist ein Jammer, wie irgendwelche Neureiche den Begriff Kunst verhöhnen, indem sie für eingelegte Tierkadaver Millionen hinblättern.« Und selbst Kunsthändler wie der Berliner Galerist Volker Diehl stellen mittlerweile öffentlich fest: »Das System ist pervertiert und absurd. Die Menge an fragwürdiger Kunst, die über uns schwappt, macht mich krank.« Die Profis des Kunstbetriebs sind besorgt. So fürchtet Brigitte Franzen, Direktorin am Ludwig Forum für internationale Kunst Aachen, die Reaktion von »Volkes Stimme« auf den Kunstmarkthype: »Kunst ist nur noch ein Privatvergnügen für die Superreichen. Warum sollen wir dann noch öffentliche unabhängige Institutionen fördern und erhalten«, könnten sich Wähler und Politiker fragen – und den Geldhahn zudrehen. Und was sagen die Superstars des Kunstmarktes dazu? Damien Hirst publizierte im britischen Magazin The Idler einmal die ebenso zynische wie treffende Kurzformel für den Kunstbetrieb: »Why Cunts Sell Shit to Fools«.

Nicht nur durch den Dauerlärm der Blockbusterausstellungen, Rekordauktionen und Museumsnachtevents fühlen sich zeitgenössische Kunstfreunde gestört, ebenso irritierend wirkt die Tatsache, dass immer mehr Kunst gar nicht mehr ausgestellt wird, sondern in Zollfreilagern als Kapitalanlage der Reichen, Superreichen, Schieber und betuchten Steuerhinterzieher gebunkert wird – im größten Depot der Schweiz, im Zollfreilager Genf, sollen es nach Schätzungen des Kunstmagazins Connaissance des Arts Werke im Wert von mehr als 1,2 Milliarden Euro sein. Hinzu kommen Zollfreilager in Chiasso und Zürich. Kunstwerke werden zwischen den Verkäufen dort zollfrei geparkt, auch ist die Aufbewahrung möglich, bis eine Straftat verjährt ist. In der Schweiz vermutet man Kunst-Sachwerte in den Freilagern – nicht wenige davon mit gewaschenem oder hinterzogenem Geld erworben – im insgesamt dreistelligen Milliardenbereich. Seit 2009 gibt es eine Auskunftspflicht gegenüber den Zollbehörden zum dort eingelagerten Gut. Deshalb ist eine Abwanderung vieler Objekte nach Singapur Freeport im Gange, wo die Behörden weniger Fragen stellen, ein weiteres Freilager ist in Peking geplant. Kunst gilt laut des Think Tank Basel Institute of Governance mittlerweile als »refuge de valeur«, was bedeutet, dass umso mehr Geld in Kunst investiert wird, je stärker die Finanzmärkte reguliert werden. Es ist nicht zu leugnen, dass in dem Moment, in dem das Bankgeheimnis immer stärker unter Druck gerät, Gelder dubioser Provenienz in andere Sektoren fließen.

Florentijn Hofman Rubber Duck, ab 2007. »Spreading joy around the world …« [2]

Kunstenthusiasten leiden auch, wenn zum Beispiel die überdimensionalen Quietscheentchen des niederländischen Künstlers Florentijn Hofman weltweite Aufmerksamkeit erlangen, weil sie in allen möglichen Häfen dieser Welt auftauchen und gute Laune verbreiten sollen; sie können nicht verstehen, dass im Frankfurter Bankenviertel eine Stadtmöblierung Ottmar Hörls, weithin bekannter und kommerziell erfolgreicher Eventkünstler, für 60.000 Euro saniert wird. Dessen vierzehn Meter hohes Objekt stellt ein überdimensionales Eurozeichen dar, um das zwölf Sterne gruppiert sind – die Anzahl der Staaten, die damals dem Eurogebiet beitraten. Sie war zur Feier der Euro-Einführung Ende 2001 vor der EZB aufgestellt worden und sollte eigentlich nur ein paar Monate stehen bleiben. Allerdings wurde es im Lauf der Zeit von unzähligen Journalisten, die aus der Finanzmetropole berichteten, so oft abgefilmt, dass es mittlerweile nicht nur Banker lieb gewonnen haben. Die Skulptur Hörls befindet sich auf öffentlichem Grund vor der früheren EZB-Zentrale. Nach dem Umzug der EZB blieb sie ohne konzeptuelle Anbindung an ein Gebäude zurück. Neben anderen hatte der damalige Intendant am Schauspiel Frankfurt, Oliver Reese, schon 2014 gefordert, dieses »Götzenbild des Geldes« abzubauen. Der Künstler verteidigt sein Werk hingegen als allgemein verständliche Plastik, die dennoch anspruchsvoll sei: »Irgendein abstraktes Förmchen zu entwickeln wäre für mich doch viel einfacher gewesen.«

Ottmar Hörl, Eurozeichen, 2001, Frankfurt. nach der teuren Sanierung leuchtet das 14 Meter hohe »Götzenbild des Geldes« in neuem Glanz. Dank LED-Leuchten mit nur noch 20.000 bis 30.000 Euro laufenden Kosten im Jahr. [3]

Ein weiteres Ärgernis selbst für wohlmeinende Kunstinteressierte: Sie fühlen sich moralisch in eine Sackgasse gedrängt, wenn sie beobachten müssen, wie mit durchgeknallten Charity-Kunstauktionen Geld für einen guten Zweck gesammelt wird, gegen den man eigentlich nichts einwenden kann, der aber zugleich klar macht, dass hier vor allem Imagepflege für die Initiatoren und beteiligten Stars betrieben wird. Ein Beispiel: die jährliche Auktion für die Initiative Peace One Day, deren Macher sich für einen Tag weltweiten Waffenstillstand im Jahr einsetzen. Statt für den guten Zweck einfach Geld einzusammeln oder gar vorbildhaft selbst zu spenden, fungiert der Künstler Jake Chapman für die Organisation als Kurator und lädt andere prominente Künstler wie Damien Hirst (Medien schätzen sein Vermögen mittlerweile auf eine Milliarde Dollar), Jeremy Deller, Sarah Lucas, Kate Moss (!) und viele andere ein, um ausrangierte Waffen wie eine AK-47 (»Kalaschnikow«) oder ein M16-Sturmgewehr in Kunstwerke zu verwandeln und diese anschließend für viel Geld beim Auktionshaus Bonhams versteigern zu lassen.

Kate Moss, Untitled (love), 2014 Was Marcel Duchamp kann, kann sie erst recht. Love it. Hate it. Shop it! Kate Moss als Aushängeschild einer Charity-Kunstauktion. [4]

Dass die Künstler Spaß an der Sache haben, sieht man in den PR-Videos zur Aktion. Und Jeremy Deller erzählte The Art Newspaper mit einem Augenzwinkern, »aus egoistischen Gründen dabei« zu sein. »So kann ich auch mal eine Waffe bei mir zu Hause haben.« Hier weiß der Kunstfreund nicht, ob er lachen oder weinen soll. Ist das genial ironisch oder nur abgeschmackt? Manche müssen da an ähnliche Kollaborationen zur Steigerung des Markenappeals, beispielsweise von BMW, denken. Der Autokonzern beauftragt seit vielen Jahren prominente Künstler, eines seiner Autos in ein Kunstwerk zu verwandeln, so möchte er das unvorteilhafte Image als Automarke für Angeber, Möchtegerns und Raser abstreifen und glamouröser und kompatibel für breitere Konsumentenschichten werden. Kulturpessimisten erkennen in diesen Aktionen nur weitere Steinchen im Mosaik der gegenwärtigen Kunstlandschaft, in der es vor allem Aufgüsse und Anhäufungen, aber keine großen Ideen, Utopien oder historisch Bedeutsames zu geben scheint. Früher nannte man das »Epigonentum«. Heute könnte man von totaler Kommerzialisierung sprechen: Die Kunst produziert nur noch konsumierbare Anlässe oder Konsumauslöser für jede Zielgruppe. Das wäre dann die neueste Version der Sage vom »Ende der Kunst«. Aber halt: Wollten wir nicht vermeiden, zu biestigen Kulturpessimisten und rückwärtsgewandten Nostalgikern zu werden?

Trösten uns Alte Meister oder alte Avantgarden?

Früher war alles besser! Das ist natürlich die bequemste Sichtweise, wobei man noch definieren müsste, welches »früher« am besten gewesen sei: der Ex- oder Impressionismus? Die Renaissance? Oder sicherheitshalber gleich Griechenland (das antike, wohlgemerkt)? Es ist leicht, sich in dieser Stimmung der Vergangenheit zuzuwenden, denn die Vergangenheit ist gut erforscht, abgeschlossen und kann sich letztlich gegen unsere Interpretationen nicht mehr wehren. Aber nostalgische Reflexe entstehen meist aus dem Scheitern an der Gegenwart. Resultiert aus dem Unverständnis für die Gegenwartskunst eine Rückbesinnung etwa auf die Klassische Moderne oder auf die Alten Meister? Bietet sich hier die Möglichkeit, wieder einem engeren, edleren, konzentrierteren Kunstbegriff nachzuhängen? Ist das eine echte Alternative oder eine Wunschvorstellung? Während in der Gegenwartskunst Riesenformate, ausufernde Installationen oder immaterielle Sozialprojekte beliebt sind, ist das Altmeisterkunstwerk leichter als solches zu erkennen (allein schon durch die schweren Goldrahmen). Es ist erkennbar begrenzt, vor allem die malerisch aufwändige Miniatur, das in jedem Detail gestaltete Kleinformat, wirkt heute vergleichsweise exotisch und kostbar. Bislang findet der Massenbetrieb, der Massentourismus der Biennalen und Sonderausstellungen nicht in Galerien Alter Kunst statt, von einzelnen Blockbustern und Top-Museen wie dem Louvre abgesehen – wobei selbst dort nur bestimmte, bekannte Werke frequentiert werden und der große Rest weitgehend unbeachtet bleibt. Was ist, in heutiger Marketingsprache, das Alleinstellungsmerkmal Alter Kunst, was gibt sie uns, was die Gegenwartskunst nicht hat? Kann man hier seinen »Heißhunger auf Landschaft«, auf delikate Aktmalerei und illusionistische Effekte stillen? Hört man sich unter Kunstvermittlerinnen um, so gibt es zwar eine gewisse Ehrfurcht vor dem Alter und der Originalität von Rembrandt und Rubens, es tauchen allerdings im Publikum auch regelmäßig Missverständnisse bei ihrer Rezeption auf. Eine gewisse Grundbildung in Sachen antike Mythen, Malereigeschichte und Religionsgeschichte muss man mitbringen, um die Altmeisterkunst genießen zu können. Andererseits sind die Kunstvermittlerinnen überzeugt, dass eine engagierte Führung auch Bildungsmängel wettmachen kann, etwa wenn der christliche Kontext nicht verstanden wird. Wenn man hingegen allein und ahnungslos durch die Altmeistergalerien streift, kann es schnell langweilig werden, sofern eben keine hochberühmten Werke in Sichtweite sind, deren Aura schon reicht, um Aufregung zu erzeugen. Dann wirken viele Gemälde düster oder schwülstig, und Langeweile kommt durch die Wiederholung der Motive auf: Denn bei den Alten Meistern herrschen bestimmte Schemata vor, ein zeitbedingter Kanon der Themen und bildlichen Umsetzungen. Erst wenn man diesen kennt, kann man die Besonderheit des einzelnen Werks würdigen. Das erfordert zwar Lernbereitschaft, wirkt dann aber oftmals zugänglicher und verständlicher als etwa monochrome Malerei, die auf das Spirituelle, vielleicht sogar auf die Erfahrung der Transzendenz beim Betrachter abzielt, etwa jene legendären schwebenden Farbkörper von Mark Rothko.

War aber früher wirklich alles besser? Vielleicht konnten die Maler besser malen, doch dienen mussten sie oftmals unangenehmen Herrschaften, verstrickt waren sie in die machtpolitischen und religiösen Konflikte ihrer Zeit. Und die künstlerischen Avantgarden des vergangenen Jahrhunderts, die voller Selbstbewusstsein oder im naiven Glauben an die Allmacht der Kunst malten, zeichneten, formten oder ihre Manifeste in die Welt posaunten? Waren deren Werke wirklich so genial? Vielmehr hat es den Anschein, dass in der heute gängigen kunstwissenschaftlichen Rückschau mancher Zwerg zum Riesen gemacht, manches Werk zum »Schlüsselwerk« erklärt wurde, weil er oder es sich gut in eine historische Logik fügt, die im Übrigen veränderlich ist, und dem jeweiligen Zeitgeist, dem jeweiligen Kanon folgt      Abstraktion und Einfühlung