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Dr. Craig Malkin

            

DER NARZISSTEN-TEST

Wie man übergroße Egos erkennt … und überraschend gute Dinge von ihnen lernt

Aus dem Amerikanischen von
Harald Stadler

 

 

Für Julie Malkin

 

 

EINLEITUNG

Meine Mutter war die wunderbarste und zugleich unausstehlichste Person, die ich je kannte: Sie war ein Narzisst.

Mir war das lange nicht bewusst, bis ich mich im College mit einem Einführungstext zur Psychologie befasste. Da stand, direkt unter der Abbildung des jungen Griechen Narziss, der in einem Gewässer auf sein Spiegelbild starrt, in großen Lettern das Wort »Narzissmus«. Als ich die begleitende Erläuterung las, war ich gleichzeitig erleichtert und entsetzt. Der Begriff brachte das paradoxe Wesen meiner Mutter vollkommen auf den Punkt.

Sie war die strahlende Gestalt meiner Kindheit – unbezähmbar aus sich herausgehend, ansteckend witzig und wunderbar fürsorglich. Die ganze Welt schien sich um sie zu drehen. Sie war blond und auffallend groß, sprach mit unüberhörbar britischem Akzent, weil sie in England aufgewachsen war, und schien überall Anschluss zu finden – im Lebensmittelgeschäft, im Café und im Friseursalon. Für Freunde opferte sie sich auf; sie stand jedem bei, der krank oder in Schwierigkeiten war. Auch in der Gemeinde engagierte sie sich, egal ob es darum ging, einen Spielplatz zu säubern oder für eine Wohltätigkeitsveranstaltung zu backen. Für ihren Mann und ihre Kinder – meinen Bruder und mich – war sie immer da. Wir alle spürten ihr großes Herz und schätzten ihren Rat.

Mit zunehmendem Alter verblasste ihr Glanz jedoch allmählich. Sie schien ichbezogener zu werden. Sie prahlte mit ihren Leistungen als junge Balletttänzerin und unterstrich dies zuweilen, indem sie – höchst ungelenk – ein Plié oder einen Spagat vorführte. Sie versuchte, Eindruck zu machen, indem sie die Namen berühmter Leute fallen ließ, die sie angeblich kennengelernt hatte, wobei ich nie genau wusste, ob die Begegnungen real oder nur eingebildet waren. Sie fixierte sich immer mehr auf ihr Äußeres, registrierte fieberhaft jede neue Falte, suchte ihren Körper nach Hautflecken ab und hungerte, um schlank zu bleiben. Sie unterbrach andere Menschen mitten im Satz, selbst wenn diese über ihre Sorgen und Nöte sprachen. Als ich einmal versuchte, ihr mein Herz über meinen Liebeskummer auszuschütten, murmelte sie versonnen: »Ich hatte nie Probleme, Jungs zum Ausgehen zu finden.« Ich war verdutzt über diese Äußerung, mit der sie überhaupt nicht auf mich einging.

Was war mit meiner Mutter geschehen? Am College hatte ich das Wort »Narzissmus« gelernt, aber ich begriff überhaupt nicht, was es bedeutete. So viele Fragen stellten sich mir: War meine Mutter schon immer narzisstisch gewesen und ich hatte es bloß nicht bemerkt? Wurde sie durch die Umstände, nämlich ihr Älterwerden, plötzlich dahin gedrängt? Konnte ich irgendetwas tun, um die liebevolle, selbstlose Mutter, die ich von meiner Kindheit kannte, wiederzubekommen?

Ich setzte alles daran, Antworten zu finden. In der Bibliothek vertiefte ich mich in Bücher und Aufsätze, angefangen bei Sigmund Freud. Während meiner Ausbildung zum Psychologen absolvierte ich ein Praktikum bei einem der führenden Experten für Narzissmus. Nach meiner Promotion erhielt ich ein Forschungsstipendium zur Behandlung von Patienten mit Persönlichkeitsstörungen – in der Hoffnung, die Narzisstische Persönlichkeitsstörung (NPS), die ausgeprägteste Form von Narzissmus, besser zu begreifen. Aber obwohl ich in jenen Jahren sehr viel lernte, kam mir mein Verständnis immer noch recht lückenhaft vor. Doch dann erlebte ich eines Tages etwas, das meine Ansichten über Narzissmus – bei meiner Mutter, bei meinen Klienten und mir selbst – dauerhaft veränderte.

Kurz nachdem mein Vater gestorben war, übernahmen meine Frau, Jennifer, und ich die mühsame Aufgabe, den Umzug meiner Mutter aus ihrem großen Haus in ein kleines Apartment in unserer Nähe zu bewerkstelligen. Die beengten Räumlichkeiten, in denen sich meine Mutter nun wiederfand, verstörten sie vollends. »Hübsches Heim, das ihr mir da besorgt habt«, knurrte sie sarkastisch.

Jene erste Nacht verbrachte sie in einem nahe gelegenen Hotel. Am folgenden Nachmittag ließ sie sich von einem Taxi bei der Wohnung absetzen, wo wir auf sie warteten. Wir machten uns wieder daran, ihre Sachen auszupacken, größtenteils schweigend und weitgehend ohne ihre Hilfe. Es dauerte nicht lange, bis meine Mutter wieder mit dem Taxi davonrauschte, diesmal, um riesige Summen für »Dekorationen« auszugeben.

So ging es eine Woche lang – die Nächte verbrachte meine Mutter im Hotel und tagsüber ging sie einkaufen. Eines späten Abends erklärte sie mit einem übertriebenen Seufzen: »Ich muss es mir bequem machen!« Sie verschwand im Schlafzimmer, wo wir sie mit Kartons rascheln hörten. Kurz darauf kam sie wieder – in Schuhen mit zehn Zentimeter hohen Absätzen, von Manolo Blahnik, wie sie uns stolz wissen ließ. »So, jetzt kann ich mich entspannen«, seufzte sie. »Zumindest meine Schuhe machen mehr her als diese Wohnung.« Die Schuhe gaben ihr anscheinend das Gefühl, etwas Besonderes zu sein.

Da wurde es mir schlagartig klar. Sich als etwas Besonderes vorzukommen, diente meiner Mutter als Krücke, auf die sie sich stützte, wenn sie sich verunsichert, traurig oder einsam fühlte. Anstatt sich an mich, an meinen Bruder, an Jennifer oder irgendjemanden zu wenden, um darüber zu reden, wie sehr sie das Alleinsein ängstigte, setzte sie darauf, sich besser als andere Menschen zu fühlen. (Auf ihren Edelstilettos stand sie förmlich über den meisten anderen.) Als sie jünger war, schien es nicht so wichtig zu sein, sich als etwas Besonderes zu fühlen; dieses Gefühl vermittelten ihr damals andere Menschen durch Zuwendung und Komplimente. Aber als sie älter wurde und ihr strahlendes Aussehen – aus dem sie sehr viel Selbstvertrauen ableitete – verblasste, glaubte sie immer mehr, sie habe sehr wenig zu bieten, und zog sich aus dem gesellschaftlichen Leben zurück. Und so musste sie andere Wege finden, sich herauszuheben und sich selbst zu beweisen, dass sie etwas Besonderes war.

Diese Sichtweise des Narzissmus – als menschliche Angewohnheit, sich selbst aufzurichten – eröffnete mir einen viel klareren, einfacheren Weg, mit meiner Mutter zurechtzukommen. Ich konnte erkennen, welche Faktoren ihren Narzissmus verstärkten beziehungsweise entschärften. Ich konnte feststellen, wie und warum ihr Narzissmus destruktiv wurde. Ich kam sogar dahinter, wie ich ihr helfen konnte, ihren Narzissmus abzulegen und offen über ihren Kummer zu sprechen.

Diese Bemühungen, meine Mutter zu verstehen, verhalfen mir noch zu einer weiteren Erkenntnis: Narzissmus ist nicht immer nur negativ. Genau genommen sind einige Formen des Narzissmus gut, ja sogar notwendig, um ein glückliches und erfülltes Leben führen zu können. Eines konnte ich immer wieder feststellen: Das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, kann den Menschen kreativer machen und ihm außergewöhnliche Eigenschaften verleihen – in einer Beziehung, im Familienleben, bei öffentlichen Aufgaben und den unterschiedlichsten Herausforderungen, die Mut und Unerschrockenheit erfordern. Und es kann sogar dafür sorgen, dass man länger lebt.

Zahlreiche Studien bestätigten einen Großteil dessen, was ich in meiner Kindheit und Jugend mitbekam. Die Charakterzüge, die ich an meiner Mutter einst so bewundert hatte – ihre Herzlichkeit, ihre Lebensbejahung und ihre Dynamik –, wurden weitgehend durch ihren Narzissmus genährt und verstärkt. Ihr Gefühl, etwas Besonderes zu sein, verlieh ihr Selbstvertrauen und Schneid. Es gab ihr die Überzeugung, sie könne durch ihre Klugheit die Welt verändern und so gut wie alles verwirklichen, was sie sich nur vornahm; und es gab ihr die Courage, ihre Pläne auch tatsächlich anzupacken. Ihr Narzissmus war für sie gleichsam ein Sprungbrett. Er machte sie zu einer treusorgenden Mutter und einem tatkräftigen Gemeindemitglied. Und er befähigte sie, nicht nur an sich selbst zu glauben, sondern auch an andere – was jeder spürte.

Als ich sieben Jahre alt war, unterhielt sie sich mit einem verzweifelten Geschäftsmann, der kurz davor stand, seinen Laden aufzugeben. »Wir brauchen Sie«, sagte meine Mutter freudestrahlend. »Ich brauche Sie. Wo sonst würde ich so leckere Lebensmittel und so geistreiche Gespräche kriegen?« Sie stülpte ihre Lippen zu einem übertriebenen Schmollmund auf. »Das geht nicht!«, erklärte sie mit einem Fußstampfen. »Sie können nicht dichtmachen – das lasse ich nicht zu!« Während ich an einem Keks knabberte, sah ich, wie sich das betrübte Gesicht des Mannes aufhellte. Solche Fähigkeiten besaß meine Mutter: Sie kam sich als etwas Besonderes vor und gab auch anderen das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Das Geschäft des Mannes blieb noch für Jahre in Betrieb.

Dass dieses Gefühl, etwas Besonderes zu sein, vorteilhaft, aber auch schädlich sein kann, ist nur eine der überraschenden Erkenntnisse, die ich machte, während ich dem Rätsel des Narzissmus auf den Grund ging. Auf den folgenden Seiten beschreibe ich viele weitere Beobachtungen und Erkenntnisse, die das gängige Meinungsbild infrage stellen. Meine Schlussfolgerungen stützen sich auf umfassende Recherchen und Forschungsarbeiten, die größtenteils in den letzten Jahren durchgeführt wurden. Darüber hinaus konnte ich auf meine Erfahrung als klinischer Psychologe zurückgreifen; meine therapeutische Arbeit mit Einzelpersonen und Paaren lieferte anschauliche Beispiele für Narzissmus in seiner schlimmsten und seiner besten Form sowie in all seinen feinen Abstufungen. (Sämtliche Beispiele setzen sich aus Menschen zusammen, die bei mir in Therapie waren; persönliche Daten wurden zum Schutz ihrer Privatsphäre abgeändert.)

Dieses Buch soll dazu beitragen, dass Sie nicht nur mit Ihren Mitmenschen, etwa Angehörigen oder Arbeitskollegen, leichter zurechtkommen, sondern auch sich selber besser verstehen. Mir selbst ist meine wissenschaftliche und therapeutische Arbeit auf jeden Fall zugutegekommen.

Wie so viele andere Kinder von Narzissten erlaubte ich es mir früher überhaupt nicht, mich als etwas Besonderes zu fühlen. Ich hatte sogar Angst davor, es auch nur zu versuchen. Komplimente verunsicherten mich; ich wies sie zurück oder tat sie ab. Egal was ich auch leistete – es war nicht gut genug.

Als ich in späteren Jahren als junger Erwachsener darum rang, meine eigene Stimme zu finden, schlug ich in die entgegengesetzte Richtung aus; ich beherrschte Gespräche mit ein bisschen zu viel Gewitzel oder großtuerischen Sprüchen, bloß um zu beweisen, dass ich etwas Interessantes zu sagen hatte. Erst allmählich erkannte ich, dass keine der beiden Grundhaltungen – ständige Selbstzweifel beziehungsweise andauernde Prahlerei – ein wirklich erfüllendes Leben garantierten; beide gaben mir das Gefühl, allein und unverstanden zu sein.

Zum Glück ist es mir gelungen, mich zu ändern und ein dankbares Gleichgewicht zu finden. Und ich habe vielen anderen Menschen geholfen, ein gesundes Mittelmaß zu erlangen. Als Therapeut bin ich fest davon überzeugt, dass Wachstum und Entwicklung jedem offenstehen, ob er nun zu wenig oder zu viel Narzissmus in sich birgt. Erfreulicherweise wird dieses Fazit durch Indizien bestätigt, wie wir sehen werden.

Einige Jahre nachdem ich begonnen hatte, für dieses Buch zu recherchieren, starb meine Mutter. Mein Bruder und ich waren an ihrer Seite. Inzwischen hatte ich gelernt, ihren Narzissmus in einem anderen, differenzierteren Licht zu sehen. Ohne diese neue Sichtweise wäre ich bestimmt nicht imstande gewesen, mich in Liebe von ihr zu verabschieden.

Mit diesem Buch möchte ich die Klarheit und Zuversicht, die ich erlangt habe, auch in Ihr Leben bringen. Möge es dazu beitragen, dass Sie die negativen Seiten der Selbstverliebtheit überwinden und die positiven bewusst bejahen.

 

 

DER MYTHOS DES NARZISS

Im antiken Griechenland lebte dem Mythos zufolge einst ein Knabe namens Narziss; er war der Sohn des Flussgottes Cephisus und der Quellnymphe Liriope. Aufgrund seiner Abstammung war er mit göttlicher Schönheit gesegnet. Goldene Locken fielen über seine Stirn und sein Körper war wohlgestaltet, gestählt von der Jagd nach Wild und Vögeln.

Narziss wurde von allen Seiten umworben; Jung und Alt, Männer und Frauen verfielen seinen Reizen. Immer wenn er die Wälder durchstreifte oder einem Bachlauf folgte, lockte er eine Schar von Nymphen an, die einen Blick auf ihn erhaschen wollten.

Narziss gewöhnte sich an diese Bewunderung, blieb jedoch ungerührt und verschmähte sämtliche Verehrer. Schon bald war sein kalter Stolz ebenso legendär wie seine Schönheit. Jeder Verehrer wurde herzlos abgewiesen. Narziss schien zu glauben, er stehe über der Liebe und der Welt der Menschen – ja sogar über den Göttern.

Eines Tages entbrannte auch das Herz der Bergnymphe Echo für den stolzen Jüngling. Während die Sonne durch die Bäume des Waldes fiel, erblickte sie Narziss auf seiner täglichen Jagd. Sie konnte den Blick nicht von ihm abwenden und folgte ihm, zunächst heimlich und leise. Überwältigt von ihrer Leidenschaft, wurde sie kühner und trat lauter auf. Da merkte Narziss, dass ihm jemand folgte.

»Wer ist da?«, rief er.

Echo wollte antworten, aber sie hatte keine eigene Stimme – ein Fluch der Göttin Hera hatte ihr diese geraubt. (Hera hatte die sonst so redselige Echo dafür bestraft, dass jene ihre Nymphenschwestern gewarnt hatte, mit denen sich Heras Gatte Zeus vergnügte.) Sie wollte antworten, konnte aber nur die Worte des Narziss wiederholen.

»Wer ist da?«, erwiderte sie hoffnungsvoll.

»Komm sofort heraus!«, verlangte Narziss.

»Heraus«, gab Echo betrübt zurück.

Narziss wurde wütend. Er fühlte sich verspottet und rief: »Zeige dich!«

»Dich!«, greinte Echo und sprang hinter den Büschen hervor. Sie streckte die Hände nach ihm aus und schlang ihre Arme um seinen Hals.

Narziss blieb jedoch kaltherzig. »Geh weg!«, brüllte er. Während er weglief, schrie er über seine Schulter: »Eher möchte ich sterben, als dass ich der Deine würde!«

»Der Deine würde!«, gab Echo zurück. Gedemütigt und mit gebrochenem Herzen verschwand sie im Dickicht des Waldes. Der Kummer verzehrte ihren Leib, sie erstarrte zu Stein und nur ihr Echo blieb.

Auch ein Mann namens Ameinios empfand die Zurückweisung durch Narziss so schmerzlich, dass er sich in ein Schwert stürzte, nicht aber ohne zuvor die Rachegöttin Nemesis anzurufen. Und so verhängte Nemesis einen Fluch über Narziss, der jener Grausamkeit entsprach, die Narziss anderen zugefügt hatte. Narziss sollte selbst den Schmerz erleiden, den unerwiderte Liebe gebiert.

Eines Nachmittags ließ er sich erschöpft von der Jagd an einem abgelegenen Teich nieder. Das Wasser war so still, dass es einem Spiegel glich. Um seinen Durst zu löschen, beugte sich Narziss dicht über das Nass, in dem er ein berückendes Antlitz erblickte. Er erkannte gar nicht, dass er sein Spiegelbild anstarrte, so geblendet war er vom Fluch der Nemesis. Sein Herz pochte vor Leidenschaft. Solch tiefes Verlangen, solche Freude über die Gegenwart eines anderen hatte er noch nie empfunden. Konnte dies Liebe sein?

»Wer du auch seist, tritt hervor!«, rief er.

Stille.

»Warum antwortest du mir nicht?«, brüllte er, während er sein Spiegelbild anstarrte. »Verschmähst du mich?«

Er beugte sich hinab, um das Gesicht zu küssen. Das Gesicht schien für kurze Zeit zu entschwinden.

»Komm zurück!«, flehte der Liebestolle und versuchte erneut, sich der Gestalt zu nähern, sie zu berühren, ihre Umarmung zu spüren. Doch immer wieder schien das Antlitz zurückzuweichen und in die Tiefe der Quelle zu entschwinden.

Stunden vergingen, Tage, bis Narziss endlich aufstand und sich fasste. Endlich wusste er, was er zu tun hatte.

»Ich komme zu dir!«, rief er in die Wellen. »So sind wir vereint!«

Damit stürzte er sich in den Teich, tauchte in die Tiefe, immer weiter hinab, bis er gänzlich verschwunden war, für alle Zeit.

Kurz darauf sprießte am Saum des Gewässers eine hinreißende Blume mit einem Kranz von weißen Blättern um eine leuchtend gelbe Glocke. Die Blüte beugte sich über den Teich und starrte immerdar ins Wasser.

TEIL I

WAS IST NARZISSMUS?

1.

            

NARZISSMUS NEU BETRACHTET

Alte Thesen, neue Sichtweisen

Der heimliche Killer bei allen erfolgreichen Männern und Frauen – besonders bei Männern, ich weiß nicht warum, vielleicht wegen des Testosterons – ist wohl Narzissmus. Sogar mehr als Arroganz. Auch bei Frauen. Narzissmus ist der Killer.

Ben Affleck

Narzissmus. Das Wort ist in jüngster Zeit so ungeheuer populär geworden, dass sogar Narziss selbst vor Stolz erröten würde. Man muss nur eine Zeitung oder Zeitschrift aufschlagen, die Abendnachrichten oder eine Talkshow im Fernsehen verfolgen, Pendler bei ihren Handygesprächen belauschen oder mit einem Nachbarn plaudern – immer wieder taucht dieses Wort auf. Jeder verwendet es: Normalbürger, Schauspieler, Gesellschaftskritiker, Psychotherapeuten, ein Richter am Obersten US-Gerichtshof, sogar der Papst. Berücksichtigt man zudem, dass wir angeblich mitten in einer »Narzissmusepidemie« stecken, so wird leicht ersichtlich, warum das Wort in aller Munde ist. Kaum etwas beherrscht die Gesprächsthemen so sehr wie eine sich ausbreitende Krankheit, besonders wenn sie – wie Ben Affleck zu fürchten scheint – letal ist.

Was aber bedeutet Narzissmus eigentlich genau? Dafür, dass dieses Wort so häufig und so besorgt geäußert wird, erscheint dessen Definition beunruhigend vage. In der Umgangssprache ist es inzwischen kaum mehr als eine gängige Beleidigung, die auf ein übersteigertes Ego verweist – Selbstbewunderung, Selbstverliebtheit, Selbstgefälligkeit und Selbstsucht. Die Presse neigt dazu, dieses Etikett jedem Promi oder Politiker anzuheften, dessen Werbegags oder Selfie-Gewohnheiten ausarten.

Aber ist Narzissmus nichts weiter als das: Eitelkeit oder Aufmerksamkeitssucht? Der Sprachgebrauch der Psychologen ist nicht minder verwirrend. Narzissmus wird zum einen als unausstehlicher, aber weitverbreiteter Charakterzug und zum anderen als seltene und gefährliche Geistesstörung betrachtet. In der Psychiatrie setzt sich jedoch allmählich die Ansicht durch, dass Narzissmus keineswegs als Krankheit angesehen werden sollte.

So diffus und vage all diese Sichtweisen zu sein scheinen, so liegt ihnen doch allen eine gemeinsame Annahme zugrunde: Narzissmus sei durchweg destruktiv.

Nur dumm, dass dies nicht stimmt.

Gewiss, Narzissmus kann schädlich sein. Das Internet ist voller Artikel und Blogs von Menschen, die unter extrem narzisstischen Liebhabern, Ehegatten, Eltern, Geschwistern, Freunden und Kollegen zu leiden haben. Ihre Schilderungen sind ebenso herzzerreißend wie beängstigend. Dies stellt jedoch nicht das ganze Bild dar, sondern nur einen kleinen Ausschnitt dessen, was unter Narzissmus zu fassen ist. Und bevor nicht alle Puzzleteile am richten Platz liegen, sind wir kaum in der Lage zu verstehen, wie und warum Narzissmus zerstörerisch wird, und schon gar nicht, uns im Ernstfall zu schützen.

Inzwischen setzt sich jedoch eine überraschend neue Sichtweise durch, die auch mögliche Vorteile des Narzissmus in den Blick nimmt. Sie schürt sogar Hoffnung auf »Heilung«, wenn ein geliebter Mensch – genau wie Narziss – Gefahr läuft, für immer in sich selbst abzutauchen.

Narzissmus ist mehr als nur eine hartnäckige Macke, eine ernste Geistesstörung oder eine rasch um sich greifende Kulturkrankheit, die durch soziale Medien übertragen wird. Es ist ebenso wenig plausibel, bei Narzissmus von einem Defekt zu sprechen, wie bei Puls, Blutdruck oder Körpertemperatur, denn es handelt sich dabei um ein ganz normales, überall zu beobachtendes menschliches Phänomen – den Drang, sich als etwas Besonderes vorzukommen.

In den vergangenen fünfundzwanzig Jahren haben Psychologen zahlreiche Belege dafür gesammelt, dass die meisten Menschen davon überzeugt zu sein scheinen, so gut wie jeden anderen zu übertreffen. Diese Masse an Forschungsergebnissen kann nur zu einer Schlussfolgerung führen: Der Wunsch, sich als etwas Besonderes zu fühlen, ist nicht nur arroganten Deppen oder Soziopathen vorbehalten.

Betrachten wir beispielsweise, was die Auswertung eines häufig verwendeten Fragebogens zur Selbsteinschätzung ergab, mit dem anhand einer Skala ein unrealistisch positives Selbstbild gemessen wird. Die Probanden sollen sich dabei in Bezug auf verschiedene Wesensmerkmale einstufen, darunter Freundlichkeit, Humor, Unsicherheit und Aggressivität. Das Frageschema lautet so: »Sehen Sie sich selbst im Durchschnitt oder unter den oberen 25, 15 oder 10 Prozent?« In einer Studie nach der anderen, in den unterschiedlichsten Ländern, geben die allermeisten Teilnehmer an, mehr bewundernswerte und weniger widerliche Eigenschaften zu besitzen als achtzig Prozent ihrer Umgebung. Der Psychologe Jonathan Brown von der University of Washington hat die Ergebnisse aus mehreren Jahrzehnten ausgewertet und dabei folgendes Fazit gezogen: »Anstatt sich selbst als durchschnittlich oder gewöhnlich anzusehen, betrachten sich die meisten Menschen als etwas Besonderes und Einzigartiges.« Dieses verbreitete Phänomen wird als »Einstufung über dem Durchschnitt« bezeichnet.

Damit Sie nicht etwa fürchten, diese Ergebnisse belegten eine globale gesellschaftliche Seuche, sei Ihnen versichert, dass ein geringfügig übersteigertes Ego durchaus Vorteile birgt. In zahlreichen Studien hat sich gezeigt, dass Menschen, die sich für überdurchschnittlich halten, glücklicher, geselliger und häufig auch gesünder sind als bescheidenere Zeitgenossen. Ihr großtuerisches Gebaren geht mit vielen positiven Eigenschaften einher, darunter Kreativität, Führungsstärke und Selbstbewusstsein, die auch den Erfolg bei der Arbeit steigern können. Das rosige Selbstbild dieser Menschen erfüllt sie mit Selbstvertrauen und hilft ihnen, Nöte und Beschwernisse durchzustehen, selbst nach vernichtenden Misserfolgen oder schrecklichen Verlusten.

Überlebende des Bosnienkrieges liefern ein plastisches Beispiel. Psychologen und Sozialpädagogen, die eine Gruppe von Kriegstraumatisierten auf Depressionen sowie soziale und andere psychische Probleme hin untersuchten, fanden heraus, dass Menschen, die sich für überdurchschnittlich hielten, in besserer Verfassung waren als solche, die sich realistischer einschätzten. Ein ähnliches Muster zeichnete sich bei Überlebenden der Anschläge vom 11. September 2001 ab. Sich als etwas Besonderes vorzukommen, scheint Überlebende von Katastrophen zu befähigen, der Zukunft mit weniger Furcht und größerer Zuversicht entgegenzusehen.

Auch der Umkehrschluss scheint zuzutreffen: Menschen, die sich nicht als etwas Besonderes sehen, leiden häufiger unter Depression und Angststörung; und sie neigen weniger dazu, ihren Partner zu bewundern. Das heißt nicht, dass sie die Welt »falsch« sehen; in den meisten Fällen ist ihre Wahrnehmung zutreffender als die von Menschen mit positivem Selbstbild. Doch sie opfern ihr Glücksgefühl eben jenem Realismus; sie sehen sich selbst, ihren Partner und die Welt insgesamt in einem etwas düstereren Licht. Diese Koppelung von Enttäuschung und Realitätsgewinn trifft sehr gut die Formel »betrübter, aber klüger«.

Diese Phänomene erscheinen irgendwie paradox und offenbaren genau das Gegenteil dessen, was uns über Narzissmus vermittelt wurde. Es ist nicht schlecht, sondern gut, sich etwas positiver als die Mitmenschen zu sehen und sich als etwas Besonderes vorzukommen. Vielleicht ist dies sogar nötig. Ob Narzissmus schadet oder nützt, gesund ist oder ungesund, hängt gänzlich davon ab, in welchem Grad man sich überdurchschnittlich fühlt.

Narzissmus tritt, wie sich also zeigt, in einer Stufenskala auf. In gemäßigter Form kann er den eigenen Erfahrungshorizont und das Gespür für das eigene Potenzial erweitern, indem er die Fantasie beflügelt und Begeisterung für das Leben weckt. Er kann sogar die Liebe zu Angehörigen, Freunden und Partnern vertiefen. Der bei Weitem stärkste Erfolgsgarant in Liebesbeziehungen ist die Neigung, den Partner positiver zu sehen, als er wirklich ist. Wer glaubt, mit einem besonderen Menschen liiert zu sein, fühlt sich auch selbst wichtig und außergewöhnlich.

Die Psychologen Benjamin Le vom Haverford College und Natalie Dove von der Eastern Michigan University sichteten vor Kurzem mehr als einhundert Studien mit nahezu vierzigtausend Menschen in Liebesbeziehungen und fanden dabei Folgendes heraus: Ob ein Paar länger als ein paar Wochen oder Monate zusammenblieb, hing nicht von der Persönlichkeit oder ihrem Gefühl der Nähe ab. Am entscheidendsten war die Frage, ob einer oder beide positive Illusionen hatten – das heißt, ob sie den Partner als klüger, begabter und attraktiver beurteilten, als dieser nach objektiven Maßstäben tatsächlich war. Der Glaube, mit dem Partner einen Glückstreffer gelandet zu haben, verleiht einem das Gefühl, auch selbst etwas Besonderes zu sein.

Während maßvoller Narzissmus die Liebe zu verstärken vermag, kann zu viel davon diese verringern oder sogar zerstören. Wird jemand von seinem vermeintlichen Sonderstatus abhängig, dann wird er überheblich und dünkelhaft. Er wird seinen Partner nicht mehr als den besten oder wichtigsten Menschen in seinem Leben ansehen, weil er diesen Rang selbst beanspruchen muss. Und er kann die Welt nur noch aus seinem eigenen Blickpunkt wahrnehmen. Das sind die wahren Narzissten, die im schlimmsten Fall auch zwei weitere Züge der sogenannten »Dunklen Triade« offenbaren – einen absoluten Mangel an Reue und einen Hang zum Manipulieren.

Erstaunlicherweise kann auch zu wenig Narzissmus schädlich sein. Erinnern wir uns an die Nymphe Echo. Sie bildet jenen Teil des Mythos, den wir gewöhnlich vergessen. Sie hat keine eigene Stimme. Sie verleugnet sich selbst und bleibt unsichtbar. Je weniger sich jemand für etwas Besseres hält, desto stärker nimmt er sich selbst zurück, bis er schließlich ein so geringes Selbstwertgefühl besitzt, dass er sich wertlos und machtlos vorkommt. Diesen Typus bezeichne ich als »Echoisten«.

Gefahr lauert also an beiden Enden des Narzissmusspektrums. Nur in der Mitte, wo das Verlangen, sich aus sieben Milliarden anderen Menschen herauszuheben, nicht blind macht für die Bedürfnisse und Gefühle anderer, liegen Glück und Gesundheit.

Eine weitere Vorstellung, mit der wir uns irrigerweise angefreundet haben, ist die, dass der Grad an Narzissmus während des gesamten Lebens unveränderlich ist. Tatsache ist jedoch, dass sogar gesunder Narzissmus normalerweise schwankt, das heißt nachlässt oder sich verstärkt, abhängig von Alter und Lebensumständen. So bewegt sich etwa ein Kranker in der Regel im Spektrum nach oben; er glaubt, mehr Zuwendung zu verdienen, ja sogar beanspruchen zu können, als ein Gesunder. Ähnlich verhält es sich bei der Arbeit; mit dem Wunsch nach Anerkennung, Wertschätzung und Bestätigung, etwa im Streben nach einer Beförderung, steigt auch der Narzissmus. Es gibt auch ganz besondere Lebensabschnitte, in denen es wichtig ist, sich als etwas Besonderes vorzukommen, etwa in der Pubertät und während einer Schwangerschaft. In anderen Phasen hingegen bewegen wir uns an jenes Ende des Spektrums, das von Echo markiert wird, beispielsweise beim Umsorgen eines Neugeborenen oder beim Verzicht auf die eigenen Träume, um den Partner in seinem beruflichen Streben zu unterstützen. Solche Situationen erfordern es, das eigene Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Applaus zurückzuschrauben.

Diese Hochs und Tiefs halten im Allgemeinen jedoch nicht ewig an. Die Krise oder Veränderungsphase geht vorüber und der Drang, sich als etwas Besonderes zu fühlen, pendelt sich wieder auf ein gesundes Maß ein. Wer sich vorübergehend mehr dem Echo-Ende des Spektrums angenähert hatte, findet die eigene Stimme wieder. Und selbst jemand, der befördert wurde und sich den Kollegen insgeheim überlegen fühlt, muss sich dies vor sich selbst und anderen nicht unbedingt ständig beweisen. Wer es dennoch tut, befindet sich außerhalb des gesunden Terrains.

Eine weitere gängige – und irrige – Annahme ist die, dass schädliche Narzissten immer leicht auszumachen sind. Gewiss, die lauten, eitlen Selbstverherrlicher, die täglich auf dem Fernsehbildschirm auftauchen und sich in den sozialen Medien tummeln, sind nicht zu übersehen. Sie fallen auf wie bunte Hunde – was wahrscheinlich gut so ist. In Wahrheit entdeckt wohl jeder von uns mehr Narzissten in seinem Lebensumfeld als Echoisten. Und Erstere sind auch eher ein Problem. (Narzissten schaden anderen, während Echoisten vor allem sich selbst schaden.) Aber nicht alle Narzissten stellen sich so frech zur Schau; einige sind sogar nicht einmal besonders extrovertiert und auffällig. Dadurch sind sie umso schwerer zu erkennen.

Es gibt auch unaufdringlichere Narzissten, die häufiger anzutreffen und dabei schwerer auszumachen sind und um einiges destruktiver sein können. Das sind die Menschen, die wir jeden Tag sehen: unsere Beziehungspartner, Angehörigen, Freunde und Vorgesetzten. Ihr ungesunder Narzissmus wird meist von ihrem angenehmen Auftreten maskiert; sie sind oft ruhig und charmant, können auch warmherzig und bisweilen sogar einfühlsam sein. Ihre Kennzeichen sind schwerer festzustellen, treten aber dennoch auf. Und wer mit ihnen vertraut ist, kann die Signale gleichsam herauskitzeln, etwa ihre Neigung, vor Gefühlen zu fliehen – den eigenen und denen anderer Menschen. Im siebten Kapitel gehen wir näher auf Warnhinweise ein, mit denen Sie subtile Narzissten besser erkennen können.

Die Vorstellung, dass der Mensch, mit dem Sie Ihr Bett oder Ihr Büro teilen, ein Narzisst sein könnte, ist schockierend und bedrückend. Noch niederdrückender ist die gängige Auffassung, dass Narzissmus ein unabänderlicher Wesenszug oder Charakterfehler ist, bei dem nichts zu machen ist. Doch auch hier zeichnet sich ein Umdenken ab. Viele extreme Narzissten scheinen tatsächlich untherapierbar (zum Glück sind sie selten – in der US-Bevölkerung beispielsweise geschätzte ein bis drei Prozent). Aber einige, weniger ausgeprägte Narzissten können sich durchaus ändern. Bei ihnen kann man den Narzissmus als eine erlernte Reaktion betrachten, also als eine Angewohnheit, die je nach den Umständen, stärker oder schwächer werden kann.

Narzissten verbergen normale Gefühle wie Angst, Trauer, Vereinsamung und Scham, weil sie fürchten, wegen dieser Gefühle abgelehnt zu werden. Und je größer die Furcht vor Zurückweisung ist, desto stärker schützen sie sich mit dem Glauben, etwas Besonderes zu sein. Ungesunder Narzissmus lässt sich nicht so einfach ablegen, aber die Angewohnheit kann abgemildert werden, indem der Betreffende lernt, die Gefühle, die er üblicherweise verbirgt, zuzulassen und offen zu zeigen. Und Angehörige oder Partner können ihm dabei helfen, in die gesunde Mitte des Spektrums zu rücken, indem sie sich in genau der gleichen Weise öffnen.

Wie so vieles im Leben zeichnet sich gesunder Narzissmus dadurch aus, dass ein richtiges Mittelmaß gefunden wird. Den Kern des Narzissmus bildet ein uraltes Problem: Wie sehr sollten wir uns selbst lieben und wie sehr sollten wir andere lieben? Der pharisäische Gelehrte Hillel fasste das Dilemma so zusammen: »Wenn ich nicht für mich bin, wer ist dann für mich? Solange ich aber nur für mich selber bin, was bin ich dann?« Jeder muss in einem gewissen Maß in sich selbst investieren, um gesund und glücklich zu bleiben. Jeder braucht eine Stimme und eine eigene Präsenz, um Wirkung auf die Welt und die Mitmenschen zu erzielen und nicht, wie Echo, schließlich zu versteinern.

Wir alle changieren zwischen der Scylla auszehrender Selbstverleugnung und der Charybdis seelentötender Selbstgefälligkeit. Genau darum geht es beim Narzissmus. Auf den folgenden Seiten möchte ich zeigen, wie man einen sicheren Kurs steuert. Zunächst müssen wir jedoch einer Frage nachgehen. Wie entstand überhaupt die fixe Idee, Narzissmus sei negativ, wenn es doch nützlich sein kann, sich als etwas Besonderes vorzukommen? Warum sind wir so auf die Tücken des Narzissmus fixiert?

2.

            

KONFUSION UND KONTROVERSE

Wie »Narzissmus« zum Schmähwort wurde und eine Epidemie ausbrach

Vor vielen Jahren rief mich meine enge Freundin Tara an; ein Erlebnis mit ihrem Vater und ihrer zweijährigen Tochter Nina hatte sie beunruhigt. Sie waren im Park spazieren gegangen, doch plötzlich war Nina ausgeflippt; sie heulte und wollte unbedingt nach Hause. Tara versuchte, sie zu beruhigen, aber Nina ließ sich nicht trösten. Nach ungefähr einer halben Stunde sagte Tara zu ihrem Vater: »Tut mir leid, wir müssen gehen.« Ihr Vater sah sie streng an und warnte: »Wenn du jedes Mal nachgibst, sobald sie ausrastet, wird sie glauben, die ganze Welt dreht sich nur um sie!« Wütend feuerte Tara zurück: »Ja, natürlich. Aber ich denke, das ist gut so! Meinst du nicht auch?«

Oberflächlich betrachtet äußerte sich in diesem Disput zwischen Vater und Tochter ein Generationskonflikt über Kindererziehung. Auf einer tieferen Ebene spiegelte die Auseinandersetzung jedoch zwei radikal verschiedene Sichtweisen des menschlichen Wesens wider. Taras Vater schien zu glauben, der Mensch müsse ständig im Zaum gehalten werden, um nicht hoffnungslos egozentrisch zu werden. Tara hingegen ging davon aus, dass wir sogar davon profitieren, gelegentlich ein wenig ichbezogen zu sein. Die erstere Sichtweise macht sich notgedrungen ein recht düsteres Menschenbild zu eigen, die zweite fällt optimistischer aus.

Ohne es zu wissen, hatten Tara und ihr Vater die gegensätzlichen Positionen in einer der ältesten Streitfragen der Geschichte eingenommen, die von zentraler Bedeutung für jene Verwirrung ist, die heute um den Begriff »Narzissmus« herrscht.

Erste Überlegungen zum Narzissmus

Lange bevor der Begriff »Narzissmus« geprägt wurde, stritten sich die Philosophen genauso heftig wie Tara und ihr Vater darüber, welchen Stellenwert das Selbst in unseren moralischen Werten einnehmen sollte.

Im Jahr 350 v. Chr. stellte Aristoteles die Frage: »Wen soll der gute Mensch mehr lieben? Sich selbst oder andere?« – und lieferte dazu gleich die Antwort: »Der gute Mensch soll sich selbst lieben, der schlechte darf es nicht.« Auf der anderen Seite der Erdkugel verbreitete Buddha die gegenteilige Ansicht: Das Selbst ist eine Täuschung, eine Illusion, die uns der menschliche Geist eingibt, damit wir glauben, wir seien von Bedeutung. Der Buddhismus lehrt, dass dieses scheinhafte Selbst niemals unser primärer Fokus sein sollte. Und die christliche Lehre fügte ein negatives Motiv hinzu: Zu viel Selbstüberhebung sei eine Sünde, nämlich Hochmut, und führe umgehend in die Hölle. Auch andere sogenannte Todsünden – Trägheit, Geiz, Völlerei und Neid – werden auf ein übersteigertes Selbst zurückgeführt.

Jahrhundertelang wurde über diese Frage hitzig diskutiert. An der Debatte beteiligten sich auch Philosophen wie Thomas Hobbes (1588  1679), Adam Smith (1723  1790) und Jean-Jacques Rousseau (1712  1778). Hobbes zufolge ist Selbstliebe ein Teil der rohen menschlichen Natur. Laut Smith kommt jedes Eigeninteresse letztlich der Gesellschaft zugute. Und Rousseau unterscheidet zwischen gesunder Selbstliebe und egoistischer Eigenliebe. Doch erst Ende des 19. Jahrhunderts schalteten sich Mediziner und Psychologen in die Debatte ein. Erst zu jener Zeit kam der Begriff »Narzissmus« auf. Im Jahr 1898 sprach der wegweisende britische Sexualwissenschaftler Havelock Ellis davon, dass Patienten, die sich buchstäblich in sich selbst verliebten, ihren Körper mit Küssen bedeckten und übermäßig masturbierten, an einer »Narziss-artigen« Krankheit litten. Ein Jahr später schrieb der deutsche Arzt und Psychiater Paul Näcke über ähnliche »sexuelle Perversionen« und prägte den prägnanteren Begriff »Narzissmus«. Richtig berühmt aber machte den Terminus erst der Gründervater der Psychoanalyse, Sigmund Freud, in seiner bahnbrechenden Abhandlung »Zur Einführung des Narzißmus« von 1914. Freud befreite den Begriff von seinen sexuellen Konnotationen (eher ungewöhnlich für ihn) und beschrieb Narzissmus stattdessen als eine notwendige Entwicklungsphase der Kindheit.

Als Kinder, so Freud, sind wir davon überzeugt, dass die Welt ihren Ursprung in uns selbst hat, zumindest ihre spannenden und lustvollen Aspekte. Wir verlieben uns buchstäblich in uns selbst und sind regelrecht trunken ob all der faszinierenden und spannenden Dinge, derer wir fähig zu sein scheinen. Freud bezeichnete diese Phase als »primären Narzissmus« und urteilte, dieser sei nicht nur gesund, sondern sogar wichtig, um tiefere Beziehungen eingehen zu können. Die Leidenschaft für sich selbst verleihe dem Kleinkind die Energie, sich anderen zuzuwenden. Wir müssen die eigene Bedeutung im Universum zunächst überbewerten, bevor wir irgendetwas anderes als bedeutsam ansehen können.

Hingegen wusste Freud nicht so genau, was vom Narzissmus jenseits der frühen Kindheit zu halten sei. Ob Narzissmus für Erwachsene gut oder schlecht sei, konnte er nicht sagen. Zum einen war er der Meinung, dass Narzissmus und Liebe eng verknüpft sind; Verliebte stellen einander häufig auf ein Podest. Er verwies auch auf charismatische Führungspersönlichkeiten und Erneuerer als Beweis dafür, dass jemand, der sich als etwas Besonderes sieht, ungeheuer viel Gutes bewirken kann. Zum anderen hat Freud sich beeilt, den Narzissmus beim Erwachsenen zu verurteilen. Wenn wir die Selbstfaszination der Kindheit nicht aufgeben, so warnte er, kann dies zu Einbildung führen (einer Schwäche, die aus seiner Sicht vor allem Frauen betrifft) und ernsthafte psychische Störungen auslösen, die uns von der Realität abspalten und dem Größenwahn anheimgeben. Freuds duale Sicht des Narzissmus beim Erwachsenen richtete große Verwirrung an und bereitete den Boden für ein lautstarkes Duell, das sich knapp fünfzig Jahre später zwei Größen der Psychiatrie liefern sollten: Heinz Kohut und Otto Kernberg.

Beide wurden in Wien geboren und entstammten jüdischen Familien und beide absolvierten neben dem Medizinstudium eine Lehranalyse und betrieben später Psychoanalyse. Doch sie wuchsen unter gänzlich verschiedenen Zeitumständen auf. Kohut, Jahrgang 1913, kannte ein Wien, das von Aufbruch und Wohlstand geprägt war und vor intellektuellem Eifer vibrierte. Mit dem Dritten Reich änderte sich all das. Kurz nach der Annexion Österreichs im Jahr 1938 floh Kohut aus seiner geliebten Heimatstadt nach England und emigrierte 1940 in die Vereinigten Staaten. Otto Kernberg war Jahrgang 1928, also fünfzehn Jahre jünger als Kohut, und wuchs im Schatten des Nationalsozialismus in einer bedrückenden Atmosphäre auf. Als er zehn Jahre alt war, floh seine Familie nach Chile, wo Kernberg aufwuchs (1959 ging er in die Vereinigten Staaten). Die gegensätzlichen Erfahrungen der beiden Männer scheinen ihre Auffassungen von der menschlichen Natur geprägt zu haben. Kernbergs Sicht ist düster, Kohuts hingegen hoffnungsvoll.

Wie der Narzissmus »gesundete«

Als junger Psychoanalytiker machte sich Heinz Kohut, so wie einst Freud, rasch einen Namen als ausgezeichneter Kliniker, Forscher und Dozent. (Er war bekannt dafür, sich ganze Therapieprotokolle zu merken und fesselnde Vorträge ohne jegliche Notizen zu halten.) In den ersten Jahrzehnten seiner Laufbahn war und blieb er einer der treusten Verfechter Freuds. In den 1970er Jahren löste er sich jedoch vom orthodoxen Freudianismus und gründete eine ganz eigene neue Schule, die Selbstpsychologie, die sich unter anderem mit der Frage beschäftigte, wie Menschen ein gesundes (oder ungesundes) Selbstbild entwickeln.

Nach Kohuts Meinung hatte Freud einen Fehler begangen, indem er Sexualität und Aggression ins Zentrum der menschlichen Erfahrung stellte. Nicht unsere niederen Triebe leiten uns, so Kohut, sondern vielmehr das Bedürfnis, ein solides Selbstempfinden zu entwickeln. Und dafür brauchen wir laut Kohut nicht nur andere Menschen als Beziehungspersonen; dafür brauchen wir Narzissmus. Freud hatte die psychische Autonomie beinahe zur Tugend erkoren. Als Erwachsene sollten wir vollkommen autonom sein, erklärte der Meister, und weder Zustimmung noch Bewunderung heischen. Während Freud den Narzissmus als Kennzeichen der Unreife ansah, als kindliche Abhängigkeit, die es zu überwinden gilt, war er für Kohut ein entscheidender Faktor für das eigene Wohlbefinden – zeitlebens. Selbst als Erwachsene müssen wir gelegentlich auf andere ausgerichtet sein – zu jemandem aufblicken, die Bewunderung durch andere genießen sowie Trost und Befriedigung durch andere erfahren.

Kleine Kinder haben nur dann das Gefühl, wichtig zu sein – ja, überhaupt zu existieren –, wenn die Eltern ihnen vermitteln, dass sie etwas Besonderes sind. Eltern, die dem Seelenleben ihrer Kinder Beachtung schenken – deren Hoffnungen und Ängsten, vor allem aber deren Bedürfnis nach Bewunderung –, bieten den »Spiegelmechanismus«, der erforderlich ist, damit das Kind ein gesundes Selbstempfinden entwickeln kann. Und umgekehrt müssen Kleinkinder ihre Eltern vergöttern. Indem sie Mutter und Vater als vollkommen ansehen, können sie die Enttäuschungen verwinden, die selbst in jungen Jahren unabwendbar sind. »Ich bin trotzdem super«, kann man sich trösten, wenn man in der Schule gemobbt wird oder in Mathe durchfällt, »denn meine Eltern glauben das. Und meine Eltern müssen es wissen, denn sie sind perfekt.«

Kohut zufolge lernen Kinder allmählich, dass nichts – und niemand – vollkommen sein kann; und so weicht ihr Bedürfnis nach Selbstvervollkommnung schließlich einem ausgewogeneren Selbstbild. Indem sie mitkriegen, wie gesunde Erwachsene mit ihren eigenen Mängeln und Begrenzungen klarkommen, werden sie zunehmend pragmatischer und kommen ohne Wunschfantasien nach Größe und Vollkommenheit aus. Am Ende der Entwicklung erreichen sie ein Maß an gesundem Narzissmus: echten Stolz und Selbstwert – und sie können träumen, sich einfühlen, bewundern und bewundert werden. Auf diese Weise, so Kohut, entwickelt jeder Mensch ein robustes Selbstempfinden.

Wenn Kinder aber vernachlässigt, missbraucht oder in anderer Weise traumatisiert werden und sich dadurch klein und unbedeutend vorkommen, suchen sie ständig nach Bewunderung oder brauchen jemanden, zu dem sie aufblicken können. Sie werden, so folgerte Kohut, zu Narzissten – innerlich leer und verletzlich, äußerlich arrogant und verächtlich –, um zu kompensieren, wie wertlos sie sich fühlen. Andere Menschen werden für sie zu Narren oder Dienern an ihrem Hof und sind bloß dafür gut, die Wichtigkeit des Narzissten zu bestätigen.

Wenn Eltern ihre Aufgabe gut meistern, legen Kinder ihre Momente der Grandiosität nie ganz ab. Und das sollten sie auch nicht. Nach Kohuts Ansicht war es verrückt, hochfliegende Träume für grundsätzlich schlecht zu erachten. Hehre Visionen verleihen unserer Erfahrung vielmehr Tiefe und Lebendigkeit; sie bestärken unseren Ehrgeiz und regen die Kreativität an. Im Laufe der Geschichte erlebten viele Künstler und Komponisten Momente der Selbstgefälligkeit. Um aber etwas Großes zu schaffen – und es überhaupt zu versuchen –, ist häufig das Gefühl unabdingbar, zu Großem fähig zu sein, und das wäre wohl kaum als Bescheidenheit zu bezeichnen. Kohut wollte einige der größten Schöpfungen der Zivilisation nicht bloß als Ausgeburt des Pathologischen sehen. Anstatt den Narzissmus auszumerzen, sollten wir als Erwachsene seiner Meinung nach lernen, Gefallen daran zu finden. Narzissmus wird nur gefährlich, wenn er ganz und gar Besitz von uns ergreift und in Größenwahn umschlägt, wenn wir uns an dem Gefühl, etwas Besonderes zu sein, krampfhaft festklammern, anstatt gelegentlich damit zu spielen. Alles hängt davon ab, wie sehr wir zulassen, dass Großtuerei und Perfektionismus überhandnehmen.