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SASCHA MACHT

DER KRIEG
IM GARTEN
DES KÖNIGS
DER TOTEN

Roman

 

Für meine Freunde

Ein Mann aus Skagafjörðr
träumte, er käme in ein großes
Haus, in dem zwei Frauen sich
wiegten. Sie waren blutbedeckt,
und Blut regnete gegen die Fenster.
 
Eliot Weinberger,
Eine Archäologie der Träume

DIE INSEL, AUF DER ICH GEBOREN WURDE,

erhob sich während der 1940er Jahre aus den kalten, finsteren Tiefen des Ozeans. Vulkanische Aktivitäten und tektonische Erschütterungen, ausgelöst durch die Atomwaffentests des US-amerikanischen Militärs, brachten innerhalb kurzer Zeit an einem vergessenen Ende der Welt neues Land hervor, leuchtende Berge, öde Ebenen, flüsternde Steilküsten und bunte Sümpfe. Gras begann zu wuchern, Bäumchen kringelten sich in den Himmel, Sträucher breiteten sich aus. Weiße Bienen, fleischfressende Laufvögel und schwimmfähige Säugetiere bewohnten diese Insel bereits, als der erste Mensch seinen Fuß auf sie setzte, ein moderner Pirat vielleicht, ein verrückt gewordener Ornithologe, ein desertierter Soldat oder ein europäischer Oligarchenspross auf Irrfahrt mit seiner Jacht. Ein altes, seltsames Stück Erde war aus den Wassern getaucht, die es vor Millionen von Jahren verschluckt hatten, eine fadenscheinige Republik wurde errichtet und wieder zerstört, der Wind wehte über den Strand, ein Flughund schrie, jemand griff nach der Hand eines anderen.

Zu jener Zeit, als meiner Insel erneut der Untergang bevorstand, war ich gerade siebzehn geworden und hatte entschieden, mein bisschen Zukunft einzig und allein den Horrorfilmen zu widmen, die mir den Atem, den Schlaf und unaufhaltsam auch den Verstand raubten. Ich war ein großer Bewunderer des schmalen Werkes von Marcel Kürten, das eine Reihe furchterregender Episodenfilme bildete, in denen Tiere, Pflanzen und Gegenstände durch kosmische Einflüsse menschliche Form annehmen und ihre Umwelt zugrunde richten. Auch nach den Arbeiten der israelischen Regisseurin Jael Guldenburg war ich verrückt, die allesamt in ziemlich unwirtlichen Gegenden spielen, am Grunde des Toten Meeres, auf einem fernen, finsteren Planeten aus blank poliertem Metall, im verzweigten Kellersystem eines Hochhauses mitten in der Wüste, auf einem Kreuzfahrtschiff, das in der Unendlichkeit des Pazifischen Ozeans verschollen ist, am Rande einer Eislandschaft, bewohnt von pelzigen Riesen mit roten Augen, oder in der entzündeten Bauchhöhle eines Sterbenden. Regelrecht schwindlig machten mich auch die kurzen Streifen Roberto Madrigals, Neuinterpretationen japanischer Gespenstergeschichten, in denen Gruppen einfacher Leute zufällig aufeinandertreffen und sich unheimlicher Gestalten erwehren müssen, die sich aus einer uralten Natur geschält haben, aus singenden Bächen, dichten Waldstücken, dem hohlen Inneren grüner Hügel oder feuchten Erdmulden.

All diese Filme besaß ich und noch viele mehr, hatte die VHS-Kassetten in einem Regal geordnet und sah sie mir immer und immer wieder an, am Morgen nach dem Aufstehen, beim Mittagessen, an heißen Nachmittagen oder tief in der Nacht, wenn ich nicht einschlafen konnte. Hin und wieder schaute ich beim Schönen Hans vorbei, Inhaber einer winzigen Filiale der Ladenkette Schönheit & Hoffnung, der neben Körperpflegeprodukten aus sowjetischen Beständen, Staubmänteln, bulgarischen Zigaretten, Konservendosen, alten Fernsehzeitschriften und Haarteilen eben auch Videokassetten verkaufte, Hollywoodklassiker, Pornos, lateinamerikanische TV-Serien, Animes und Horrorfilme. Lastwagen westlicher Hilfsorganisationen brachten die Waren auf die Insel, bewaffnete Banditen aus den umliegenden Hügeln und Wäldern überfielen die Konvois und verscherbelten das Zeug weiter an Leute wie den Schönen Hans, der es in seinem Laden lagerte. Meistens schenkte er mir die Filme, die ich gerne haben wollte, war ich doch sowieso der Einzige, der sich dafür interessierte.

Bruno, sagte er dann, nimm den Scheiß und geh, ich will ihn nicht länger in meinen Regalen haben.

Das Dorf, in dem ich aufwuchs, trug den Namen Kajagoogoo und war 1989, als im Rest der Welt das fahle Kerzenlicht des Kommunismus zu erlöschen begann, von meinen Eltern und einer Handvoll ihrer Freunde gegründet worden als eine Art New-Age-Zuflucht am Ende der Geschichte. Dies war die Zeit, als auch auf meiner Insel die Regierungen halbjährlich wechselten, die Nationalisten von den Sozialisten, die Sozialisten von den Liberalen, die Liberalen von den letzten Kommunisten und die letzten Kommunisten wiederum von den Nationalisten abgelöst wurden. Niemand in der nahen Provinzhauptstadt Savannah oder in der fernen Hauptstadt unserer Republik scherte sich darum, dass irgendwo in der Einöde ein Dorf gegründet worden war, und genau deshalb gelang es meinen Eltern, weitgehend unbehelligt am Rande der Großen Savanne zu überleben, dem toten Auge eines Orkans, den die Politiker unserer Insel in den folgenden Jahren gehörig wirbeln ließen.

Als ich vierzehn war, bekam ich von meinem Vater einen Camcorder geschenkt, den er einem norwegischen Rucksacktouristen gestohlen hatte, der durch unser Dorf gekommen war. Es war ein einfaches Ding mit flachem, aufklappbarem Bildschirm und Minikassetten, die ich erst auf unserem Fernseher abspielen konnte, als in Hans’ Laden ein spezieller Videorekorder aufgetaucht war, den er mir überließ, nachdem ich ein Jahr lang für ihn geschuftet hatte. Filme schneiden konnte ich dann, nachdem ein weiterer Tourist, ein Spanier, Chilene oder Argentinier (so genau wusste das niemand), eine einsame Nacht in unserem Dorf verbracht hatte und ohne seinen Laptop weiterziehen musste. Von da an war ich nicht mehr zu halten: Ich filmte die Landschaft rund um das Dorf, die Sonnenauf-, die Sonnenuntergänge, den Wind, der die Sträucher schüttelte, das Vieh auf den Weiden, die Hasen und Rehe im Wald, die Fische im Fluss und die Schwalben am Himmel, nahm die Dorfbewohner bei ihrer Arbeit auf, die Autos, die in der Ferne die Nationalstraße entlangfuhren, die Müllhaufen, die überall aufgetürmt waren und in denen die Ratten wühlten. Abends dann unterlegte ich am Laptop die Bilder mit meiner Stimme, die von dem erzählte, was mir in der letzten Zeit passiert war, ohne dass es etwas mit dem Gefilmten zu tun gehabt hätte. Später ließ ich den Ton ganz weg, denn die Bilder erschienen mir zunehmend fremd und undeutlich, und ich war mir unsicher, ob sie wirklich das abbildeten, was ich gesehen hatte, obwohl es ja das alltägliche Leben in unserem Dorf zu sein schien, was sie zeigten. So führte ich mehr ein filmisches Tagebuch, als mich wirklich mit dem Filmemachen zu beschäftigen. Meine Faszination für den Horror entwickelte ich erst, nachdem meine Eltern verschwunden waren.

Die Nacht, in der meine Eltern nicht mehr nach Kajagoogoo zurückkehrten, war die Nacht vor meinem sechzehnten Geburtstag. Ab und zu fuhren die beiden morgens mit dem Bus in die Provinzhauptstadt, um irgendwelche Dinge zu erledigen, den Kopf freizubekommen, Zeit miteinander zu verbringen, doch immer waren sie am frühen Abend wieder da, mit einem kleinen Geschenk für mich. Nichts deutete an diesem Tag darauf hin, dass sie nicht wieder zurückkommen würden: Meine Mutter bereitete den Reiseproviant vor, während mein Vater mir erklärte, dass ich die Hühner einfangen solle, wenn es dunkel wurde, aber wahrscheinlich seien sie beide bis dahin eh längst zurück. Ich filmte sie, als sie unser Haus verließen und sich auf den Weg zur Bushaltestelle machten, meine Mutter in ihrem langen, grauen Kleid, mein Vater mit Strohhut auf dem Kopf und einem Einkaufsbeutel in der Hand, wie sie die staubige, von der Sonne beschienene Straße hinuntergingen, am Brunnen, am Laden des Schönen Hans und am Bauwagenplatz vorbei. Als ich sie nicht mehr sah, ging ich ins Haus zurück, legte mich in mein Bett und nahm mich zum ersten Mal beim Masturbieren auf, ein merkwürdiges, nervöses Gefühl, gemischt aus Neugier, Übermut und Scham. Den Rest des Tages brachte ich damit zu, im Haus zu filmen, und abends saß ich vor dem Laptop und erkannte nichts auf den Bildern wieder, die über das Display flimmerten. Gegen zwei Uhr ging ich ins Bett, freute mich auf meinen Geburtstag und wunderte mich, dass meine Eltern noch nicht zurück waren. Auch am Morgen fand ich keine Spur von ihnen im Haus. Die Hühner waren ebenfalls nicht mehr da, weil ich vergessen hatte, sie in ihr Gatter zu sperren. Ich aß zum Frühstück eine Banane, trank Kaffee und blickte zum Fenster hinaus. Ein paar Dorfbewohner waren unterwegs, verräumten Gerümpel, fegten vor ihren Haustüren oder standen starr am Straßenrand und blickten zu Boden. Ich filmte sie durch die schmutzige Fensterscheibe, dann ging ich hinunter ins Dorf, um nach dem Verbleib des letzten Busses zu fragen.

Der ist gestern vorgefahren, sagte der Schöne Hans, zur Abwechslung sogar mal pünktlich.

Ich erklärte ihm, dass meine Eltern nicht nach Hause gekommen seien.

Der Schöne Hans zuckte mit den Schultern und meinte, ich solle mich entspannen, meine Eltern seien im Grunde ihrer Herzen unerschrockene Hippies, die sicher noch irgendwo Arm in Arm mit ein paar anderen nackten Leuten in einem großen Bett lägen und ihren Rausch ausschliefen.

Ich fragte Hans, ob er das noch einmal wiederholen könne und ich ihn dabei filmen dürfe, doch er jagte mich davon.

Die folgenden Monate vergingen wie im Flug: Menschen verließen das Dorf, um anderswo ihr Glück zu suchen, ein paar Alte starben, ein paar Kinder wurden geboren, es gab manchmal sehr schlechtes Wetter, oft jedoch schien einfach nur die Sonne und nichts geschah. Kurz nach dem Verschwinden meiner Eltern beschäftigte ich mich einige Wochen lang mit den Nachrichten aus anderen Teilen der Insel, hörte Radio oder las die anarchistische Tageszeitung Lampion. So erfuhr ich vom Sturz des zwölfjährigen Staatsoberhauptes Immanuel Sullus durch seine Vizepräsidentin Emmy Jaeger, der es gelungen war, das Militär auf ihre Seite zu ziehen, von der überraschenden Unabhängigkeitserklärung der nordwestlichen Bergprovinz, die von der Zentralregierung nicht anerkannt wurde, und vom Bröckeln unserer republikanischen Gesellschaft, das eigentlich kein Bröckeln mehr war, sondern ein ausgewachsener Zusammensturz, wie manche Kommentatoren zu wissen meinten. Nicht nur schien es sehr reiche Leute in der Republik zu geben, deren Zahl konstant niedrig war, es gab auch sehr viele arme Leute, deren Zahl sprunghaft anstieg; und neben diesen armen und reichen Leuten gab es ein paar abtrünnige Gouverneure, die gemeinsame Sache mit der organisierten Kriminalität auf dem Land machten und wie verrückt gewordene Kriegsfürsten die Befehlsgewalt über kleine Teile der verschiedenen Provinzen an sich gerissen hatten. Als ich eines Tages davon hörte, dass auch Expräsident Sullus unauffindbar verschwunden sei, gab ich es auf, mich weiter mit meiner Insel und ihrer arglistigen Politik zu beschäftigen, da ich begriffen zu haben glaubte, dass das Verschwinden meiner Eltern und das Verschwinden von Expräsident Sullus einer schwarzen Lagune glichen, auf deren Grund man nicht zu blicken vermochte, einzig und allein, weil die Revolutionäre aus den Bergen, die republikanischen Politiker, die Gangsterbosse in den verrotteten Dörfern oder wer auch immer Abertausende Tonnen Scheiße in ihr Wasser gekippt hatten. Außerdem hörte ich auf, meine Umgebung zu filmen und mit meinem Schweigen zu garnieren, denn ich hatte keine Lust mehr, die Wirklichkeit kommentarlos abzubilden – dazu war sie viel zu eitel und undurchsichtig. Wenn ich weiterhin filmen wollte, und das wollte ich, mehr als alles andere, dann musste ich etwas finden, um dieser Wirklichkeit beizukommen, sie in ihre Schranken zu weisen, ihr den ganzen Hass und Zorn meiner jugendlichen Existenz entgegenzuschleudern in der Hoffnung, dass sie zerbrechen und etwas anderes hinter ihr zum Vorschein kommen würde. In diesen Tagen litt ich wie ein Hund, konnte nicht schlafen, heulte und schrie einsam in meinem Haus und zerschlug die Einrichtung. Wenn ich damals nicht in Hans’ Laden auf die Horrorfilme von Marcel Kürten, Jael Guldenburg, Roberto Madrigal, Natalia van Vijfeijken, Jim Wu, Alejandro Filippo Zeissiger, Ferenc Lima oder Terrence Nadongo gestoßen wäre, dann, wer weiß, hätte ich vielleicht, über kurz oder lang, den letzten Lastenaufzug zu den Sternen genommen, wie meine Mutter es ausgedrückt hätte.

Der Schöne Hans bewahrte die Videokassetten in einer Kiste im hinteren Teil seines Ladens auf. Sie waren bei einer Sachspende aus Europa dabei gewesen, einem Container voll mit allem möglichen Zeug. Die Banditen, denen er die Spende abgekauft hatte, bestanden darauf, dass er ihnen alles abnahm, nicht nur die Dinge, die er ganz bestimmt im Dorf loswurde. Bei einem meiner Streifzüge nach Kleidung und etwas Essbarem rief er mich von Weitem zu sich, führte mich in den Abstellraum seines Ladens und zeigte mir die Kiste.

Schau mal, ist das vielleicht was für dich?, fragte er.

Wir knieten uns hin und durchwühlten die Kiste.

Was ist das?, fragte ich und sah Hans mit meinen geröteten Augen an.

Lauter Filme, seltsames Zeug. Die tote Universität. Die Kakerlaken Phrygiens, die Ratten Dalmatiens. 3 Kurzfilme: Kontrabassisten – Ledermenschen – Fleischhauer. Bulbin der Zertrümmerer. SS-Standarte Zombie II. Und so weiter. Sagt dir das was?

Nein.

Mir auch nicht. Sieht nach dem allerletzten Dreck aus. Kannst sie haben, wenn du willst. Ich kriege sicher bald noch mehr rein, fürchte ich.

Ich nickte, hob die Kiste an und trug sie nach draußen.

Hör mal, Bruno, sagte Hans.

Ja?

Nichts. Mach dir keine Sorgen.

Die folgenden Tage verbrachte ich damit, das Material zu sichten. Alles davon war entsetzlich schlecht, der Ton unverständlich, das Bild zittrig, die Effekte billig und die Schauspieler unterirdisch. Nicht wenige schienen schwere Alkoholiker zu sein oder unter harten Drogen zu stehen. Meist waren die Filme in Schwarz-Weiß gedreht. Manche brachen mitten im Satz einfach ab, ohne dass es einen erzählerischen Grund dafür gab, ich vermutete aber, dass den Regisseuren schlicht und einfach das Geld ausgegangen war. Und dennoch hinterließen sie bei mir einen tiefen Eindruck, eine Art von Ausblick in eine fremde, bedrohliche Welt, die unabhängig, aber nicht unendlich weit entfernt von meiner alltäglichen Realität aus Essenbesorgen, stundenlangem Grübeln, Schlafenmüssen und kurzen, grauenvollen Träumen existierte, ein schwarzer, gesprungener Spiegel, der all das zeigte, was es nicht gab, vor langer, langer Zeit gegeben hatte oder erst in Zukunft geben würde. Ledermenschen von Marcel Kürten hatte es mir besonders angetan, ich sah ihn mir bestimmt dreißig Mal an: Ein Sonnenblitz führt dazu, dass auf der Erde alle Gegenstände, die aus Leder gefertigt sind, eine menschenähnliche Statur annehmen, zu Wesen mit knittrigen, rechteckigen Köpfen, Reißverschlussmäulern und langen Armen werden, die in spitzen Haken enden; sie sind plötzlich überall, verstecken sich in dunklen Winkeln, stehen tatenlos auf den Straßen herum oder schleichen durch die Wälder, aber niemand kann sich mit ihnen unterhalten oder verstehen, was sie sagen. Ungefährlich sind sie und beinahe mitleiderregend in ihrer Begriffsstutzigkeit, trotzdem beschließen die Menschen, die Wesen in großen Fabriken in ihren Ausgangszustand zurückzuversetzen, aus ihnen wieder Handtaschen, Geldbörsen, Schuhe, Reitsättel, Jacken, Handschuhe oder Fußbälle zu machen; ein großes Töten beginnt, an dessen Ende die Ledermenschen die Oberhand gewinnen und ihrerseits die Körper der menschlichen Bevölkerung zu Dingen des täglichen Gebrauchs umfunktionieren, zu Stühlen, Tischen, Schränken, Häusern und Dekorationselementen.

In der darauffolgenden Zeit dachte ich über viele wichtige Dinge nach: Wie würde meine Zukunft aussehen? Würde ich für immer in Kajagoogoo bleiben? Was war aus Marcel Kürten, Alejandro Filippo Zeissiger, Roberto Madrigal und all den anderen geworden? Gab es außer mir überhaupt jemanden auf dieser Welt, der ihre Filme sah? Was würde der andauernde Konsum dieser schauderhaften, überwiegend ekelerregenden, zynischen und faschistoiden Machwerke mit meiner jungen Seele anrichten? In diesem Moment hatte ich keine Antwort auf nur eine einzige meiner Fragen und besorgte mir erst einmal vier neue Hühner vom Hof der alten Madame Iljuschina, um jeden Morgen frische Eier zu haben.

Bald schon übergab mir der Schöne Hans eine neue Kiste mit Filmen aus einer Schiffsladung, die Hunderte Kilometer ins Landesinnere transportiert worden und kurz vor Erreichen ihres Ziels den Banditen in die Hände gefallen war. Es waren einige Fortsetzungen dabei, Zeissigers Rückkehr in die tote Universität, Nadongos Bulbin mäht sie alle nieder! und Limas SS-Standarte Zombie, Teil III  VII, aber auch Filme einiger Regisseure, die ich noch nicht kannte: Junior Galante, Donata Michalczuk, Sabine Oslow, Eddie from Outer Space, Buster Lee, die Geschwister Bulli und X Wohlff. Es fiel mir schwer, zu bestimmen, aus welchen Jahren die Filme stammten, denn oft waren sie so simpel und dilettantisch, dass sie gut und gerne siebzig, achtzig Jahre auf dem Buckel haben oder erst gestern noch schnell gedreht worden sein konnten. Auch kam mir der Gedanke, zur Abwechslung mal etwas anderes zu schauen, vielleicht so etwas wie Harry und Sally, Gladiator, Star Trek V – Am Rande des Universums, Bodyguard oder Rain Man, die ganz vorne und originalverpackt in Hans’ Videofilmregal standen. Ich sah sie mir alle an, kehrte aber schnell zu meinen quälenden Machwerken zurück, die mir etwas zu geben vermochten, was keiner dieser Produktionen gelang: jenes sprachlos machende Wunder, das die Beschränktheit, finanzieller sowie intellektueller Natur, zuweilen gebiert.

Nebenbei begann ich, wohl zum ersten Mal in meinem Leben, die Menschen um mich herum bewusst wahrzunehmen: Manchmal unterhielt ich mich lange mit dem Schönen Hans, den ich zwar kannte, seit ich denken konnte, für den ich mich aber nie interessiert hatte. Ich erfuhr, dass er früher ein paar Jahre lang in der Republikanischen Hauptstadt gelebt hatte und vorsichtshalber aufs Land gezogen war, nachdem er die Machenschaften des Geheimdienstes am eigenen Leibe erfahren musste.

Ich habe vielen Menschen sehr wehgetan, und viele Menschen haben mir sehr wehgetan, sagte er, blickte lange auf einen Punkt in der Ferne und wollte nicht weiter darüber reden.

Madame Iljuschina brachte mir bei, Tiere zu hüten. Obwohl ich immer noch nur meine vier Hühner besaß, erklärte sie mir, wie man einer Kuh dabei half, ihr Kälbchen auf die Welt zu bringen, wie man Affen zum Stehlen abrichtete, wie man Falken dressierte, um ihnen befehlen zu können, sich auf andere Menschen zu stürzen, wie man Ziegen richtig tötete, um möglichst wenig Blut zu verlieren, was Schweine fraßen (nicht alles, aber von allem ein bisschen), unter welchen Bedingungen sich Gürteltiere wohlfühlten und wie man Schwäne dazu brachte, das zu tun, was man von ihnen verlangte. Ihre Enkeltochter Lissa war in meinem Alter, und zweimal schliefen wir miteinander, einmal auf dem Fußboden in meinem Zimmer, das andere Mal in einem ausgetrockneten Bachbett außerhalb Kajagoogoos, ich verlor aber schnell das Interesse an ihr und sie wohl auch an mir.

Im Dorf gab es einen anderen Jungen, Perry Hartwig, mit dem ich meine Freizeit verbrachte, wovon ich reichlich besaß. Meistens sah ich ihm dabei zu, wie er mit seinem Luftgewehr um sich schoss, oder hörte mir seine Witze an, die er sich selbst ausgedacht hatte, kurze, langweilige Geschichten ohne Pointen. Perry nahm schreiend Reißaus, nachdem wir uns gemeinsam die erste Viertelstunde von Ferenc Limas Süßes Schlachthaus, mon amour angeschaut hatten. Später entschuldigte er sich bei mir, er habe einen schwachen Magen, sei aber prinzipiell offen für alle Formen von Kunst. Daraufhin zeigte ich ihm Schöne Körper, rote Nächte, blinde Würmer von Donata Michalczuk und musste seine Eltern herbeirufen, die Perrys ohnmächtigen Leib in einer Schubkarre heimfuhren.

Am Haus begann ich, Umbauarbeiten durchzuführen. Ich erneuerte die Regenrinne, ölte die Scharniere der Eingangstür, schmirgelte die Holzplatten der Veranda blank, flickte den altersschwachen Wasserboiler mit verbrannter Reispampe und machte den Garten flott, um den sich meine Eltern nie gekümmert hatten. Im Wald fand ich ein paar gut erhaltene Möbel, zwei Stühle, ein Gästebett, eine Kommode und einen Esstisch, und verteilte sie auf die Zimmer meines Hauses. Außerdem entdeckte ich am Rande der Savanne ein kleines, grünes Auto, das ich aufknackte und zuerst schrottreif fahren wollte, dann aber in der Einfahrt parkte, um damit vielleicht einmal endgültig von hier abzuhauen.

Zaghaft fing ich wieder zu filmen an. Ich konzentrierte mich auf Details, nahm das Aufplatzen der Frühstückseier im kochenden Wasser auf, ein Huhn beim Scheißen, meine Haut unter dem Kinn, aus der die ersten Bartstoppel sprossen, Dreck, der sich in den Zimmerecken sammelte, den tropfenden Wasserhahn in der Küche, eine Mücke, die sich in einem Spinnennetz verheddert hatte. Die Gewissheit, irgendwann meinen eigenen Horrorfilm drehen zu müssen, um nicht verrückt zu werden, saß mir dabei die ganze Zeit über im Hinterkopf als ein misstrauisches, transparentes Gespinst aus schwarzen Seidenfäden.

Eines Nachts saß ich lange im Wohnzimmer herum, und weil ich nicht einschlafen konnte, schaltete ich das Staatsfernsehen ein. Die Nachrichten um halb drei Uhr morgens bestanden aus einem Zusammenschnitt der Urlaubserlebnisse von Präsidentin Emmy Jaeger, der ehemaligen Grundschullehrerin aus dem Süden der Insel, wie sie mit ihrer Familie am Strand spazieren ging, wie sie müde lächelnd einem uralten Elefanten einen Flaschenkürbis ins Maul schob, wie sie als ein vermummtes Phantom in den Ruinen eines Mehrfamilienhauses umherging, das bei einem Terroranschlag zerstört worden war, wie sie mit ausgestrecktem Arm schweigend und streng aufs graue Meer deutete, in Richtung des Sonnenuntergangs, als würde sich dort draußen etwas verbergen, das es zu suchen und zu finden galt, ein im Sturm verloren gegangenes Schiff, ein mythisches Ungeheuer, das imstande wäre, alle Feinde der Republik auf einmal zu verschlingen, oder eine kleine Insel, bewohnt nur von einer Herde stiller Affen, die tagein, tagaus im Schatten eines Sandelholzbaumes sitzen und die Bewegungen der Wellen beobachten.

Die dritte Kiste erhielt ich kurz vor Weihnachten, ein Dreivierteljahr nach dem Verschwinden meiner Eltern. Der Schöne Hans weigerte sich zunächst, sie mir zu überlassen, fürchtete er doch mittlerweile, dass die Filme mich unaufhaltsam in einen Strudel des Wahnsinns hinabziehen und nicht wieder freigeben würden. Ich erklärte ihm mit ernster Stimme, dass ich schon längst am Rande dieses Strudels um mein Leben schwimmen würde und diese Filme das Einzige seien, das mich davon abhalte aufzugeben. Hans erwiderte, dass man den Strudel des Wahns nicht mit dem Strudel der falschen Hoffnung verwechseln dürfe, denn beide führten unweigerlich auf den Grund ein und desselben schweigsamen, leeren Ozeans, aus dem es kein Entrinnen gebe, doch dann mussten wir beide feststellen, dass wir uns leichtfertig in einem Dickicht scheinheiliger Metaphern verrannt hatten, und kopfschüttelnd reichte mir Hans die Kiste. Diesmal waren viele Filme dabei, die ich schon kannte und bereits in meine Sammlung aufgenommen hatte, daneben einige Fortsetzungen und drei Kassetten, von denen ich glaubte, dass ihre Bänder Schaden genommen hatten, zeigten sie doch nur eine schwarze Fläche mit Lichtpunkten darin, durchzogen von weißen, schnurgeraden Streifen, die mal von unten nach oben, mal von oben nach unten über den Bildschirm wanderten. Einzig der Film Sonnenstunde von Adelaide Turner ließ mich über Tage hinweg paralysiert vor dem Fernseher sitzen, ein fünfstündiges Martyrium, das in nahezu völliger Dunkelheit spielt, in der sich Hunderte Gestalten, die weder als Menschen noch als etwas anderes zu erkennen sind, auf die Suche nach einem geheimnisvollen Ding begeben, das sie in ihren schrillen Gesprächen mal als Fluchtstein, mal als Sauren Saft der Hermeneutik, mal als Unbekanntes Geschlecht bezeichnen. Nachdem ich mir den Film zum vierten Mal angesehen hatte, sprang ich in meinem Haus umher, lachte, schrie und trommelte auf den Möbeln herum, denn die plötzliche Erkenntnis, dass ich mich zum ersten Mal verliebt hatte, war mit aller Gewalt über mich hereingebrochen. Dabei war mir egal, dass ich nicht zu sagen wusste, ob ich mich nun in die Regisseurin Adelaide Turner, in ihren Film, in die darin vorkommenden schwatzenden, tapsigen, ratlosen, aber nicht minder mordlüsternen Kreaturen oder in die sie umgebende ewige Finsternis verliebt hatte. Vermutlich einfach in alles zusammen. Ich stellte mir vor, dass Marcel Kürten und Adelaide Turner geheiratet hätten und mich in Kajagoogoo besuchen kämen, um mich zu adoptieren, mit mir durch die endlose Savanne zu spazieren und mich abends mit ihren eiskalten Stimmen in den Schlaf zu singen.

Die ersten Stunden des Weihnachtsfestes verbrachte ich allein und ging dann später zum Hof von Madame Iljuschina. Auf meiner Insel hatte man eine ganz besondere Vorstellung von der Heiligen Nacht, die darin bestand, sich zwei Tage lang gehörig zu besaufen, Feuerwerk in den Himmel zu jagen und die Müllhaufen anzuzünden, die sich überall im Dorf finden ließen, weshalb man Weihnachten in Kajagoogoo hauptsächlich als Nacht der brennenden Ratte bezeichnete.

Im Frühjahr entdeckte ich die Wunder und Freuden des Internets, als der Schöne Hans mir eines Tages seinen neuen Computer zeigte, dem einzigen mit Netzzugang im ganzen Dorf. Er wolle sich, erklärte er mir, ein zweites Standbein aufbauen, indem er die Hälfte seines Ladens zum Internetcafé umfunktioniere, denn den neuen Technologien gehöre schließlich die Zukunft, das wisse jeder Wasserkopf. Mehrmals in der Woche hing ich nun also bei Hans herum, besuchte Horrorfilmseiten, wühlte mich durch Horrorfilmforen, las Horrorfilmrezensionen und war nach kurzer Zeit ziemlich gut über die Biografien meiner Regisseure und deren Œuvre informiert, fühlte mich aber auch bestärkt darin, nach wie vor der Einzige zu sein, der diesen Werken wirklich etwas abgewinnen konnte. Außerdem begann ich mit den Drehvorbereitungen meines ersten Spielfilms, Die Befürchtung, dessen Buch ich den Winter über geschrieben hatte, fünf lose Blätter nur, die aber, so glaubte ich, alles enthielten, was mir zu dieser Zeit am Herzen lag. Ich wollte den Film gänzlich in der Savanne drehen, nur den Himmel und einen schmalen Horizontstreifen Gras in der Ferne als Hintergrund. Ein andauerndes Wasserrauschen würde über die gesamte Filmlänge hinweg zu hören sein, denn die Protagonisten, ein Kannibalenkind, ein Kannibalenteenager, ein Kannibale mittleren Alters und ein sehr, sehr alter Kannibale, sollten fest davon überzeugt sein, in einer Welt zu leben, die nur aus kilometerhohen Wasserfällen, rauschenden Kaskaden und grenzenlosen Stromschnellen bestand, auf deren engen Felsvorsprüngen und ständig vom Untergang bedrohten Inselchen verschwindend wenige Menschen sich häuslich eingerichtet hatten. Ich erzählte Perry von meinen Plänen, doch er verstand nicht, weshalb ich den Film unbedingt in der Savanne drehen wollte und nicht an einem Fluss oder See oder seinetwegen auch an einer größeren Pfütze.

Weil es ein Film über Irrtümer ist, erklärte ich ihm. Die Kannibalen glauben daran, in einer Welt zu leben, die es eigentlich gar nicht gibt; und außerdem glauben sie daran, einzelne Personen unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Lebenserfahrung und unterschiedlicher Denkweisen zu sein, obwohl sie alle vier nur das Abbild eines einzigen Menschen sind, und dieser Mensch bin ich, Bruno Hidalgo.

Perry hielt mich für verrückt, versprach aber, mir beim Dreh zu helfen, auch wenn er selbst keine Lust hatte, vor der Kamera zu stehen.

So sah ich mich mit dem großen Problem konfrontiert, Darsteller für mein Projekt zu finden, nicht nur geeignete Darsteller, sondern überhaupt irgendwelche Menschen, die bereit wären, aufzutreten. Den Schönen Hans würde ich sicher überzeugen können, da hatte ich gar keine Zweifel. Perry weigerte sich nach wie vor beharrlich. Madame Iljuschina würde ich als alten Kannibalen besetzen können, wenn ich sie dazu überredet bekam, ihre langen, strohigen Haare unter einem riesigen Hut zu verbergen. Ich selbst wollte nicht mitspielen, allerhöchstens in der Endsequenz, wenn die müden Augen der vier Kannibalen zu meinen eigenen Augen werden würden, in denen sich das blutrote Grasmeer der Savanne spiegelte. Lissa hätte sich gut als jugendlicher Kannibale gemacht, aber ich wusste nicht, wie sie zu diesem Zeitpunkt zu mir stand; seit Langem schon glaubte ich, dass sie meine obsessive Sammelleidenschaft inbrünstig hasste, und weil ich nicht damit aufhörte, diese Filme zu gucken, hasste sie wohl mittlerweile auch mich. In einem der Bauwagen lebte ein dürrer, glatzköpfiger Typ namens E. T. der Außerirdische, der einen der älteren Kannibalen hätte übernehmen können, doch im Dorf hieß es, er sei unberechenbar und könne von einer Sekunde auf die andere in einen Blutrausch verfallen, dem niemand standhalte. So kam mir nur noch Perrys Vater Ignacio in den Sinn, der aber saß im Rollstuhl, weil er während eines kurzen Aufenthaltes im Untersuchungsgefängnis der Provinzhauptstadt beide Beine verloren hatte. Alle anderen Bewohner Kajagoogoos kannte ich nicht gut genug oder hielt sie für hinterwäldlerische Hasenfüße, die eher sterben würden, als in einem poetischen Kannibalenfilm mitzuspielen.

Bald zog der Sommer herauf, und mein Vorhaben verlief allmählich im Sand. Hinzu kam, dass das Ersparte meiner Eltern langsam ausging, das sie in einem Schuhkarton im Schlafzimmer versteckt hatten. Ich fragte den Schönen Hans, ob ich eine Zeit lang bei ihm als Aushilfe arbeiten könne, doch er meinte, das Geschäft laufe seit Kurzem so schlecht, dass er ernsthaft überlege, seinen Laden niederzubrennen, um wenigstens noch die kleine Versicherungssumme von der Republikanischen Genossenschaft zu kassieren. Weil ich mir nicht anders zu helfen wusste, richtete ich am Brunnen ein Lager ein, wo ich einige meiner Möbel zum Verkauf anbot. Einmal wäre es mir fast gelungen, mit E. T. dem Außerirdischen ein Geschäft abzuschließen, doch nachdem er minutenlang eine Vase zornig in seinen Händen gedreht und schnaubend in die dunkle Öffnung gestarrt hatte, schenkte ich ihm das Gefäß und bedankte mich für seine Aufmerksamkeit. Drei Tage später brachte ich alles wieder zurück nach Hause, denn im Dorf scherte man sich einen Dreck um mich und die Dinge, die meine Eltern vor ihrem Verschwinden benutzt hatten. Abends saß ich am Küchentisch und zerbrach mir meinen kleinen Kopf darüber, wie ich möglichst schnell an eine große Summe Geld kommen könnte, ohne mir mein restliches Leben zu versauen. Es half wohl nichts: Ich musste mit dem Auto in die Provinzhauptstadt Savannah fahren, wie so viele andere junge Leute, um dort mein Glück zu versuchen.

Die Straße von Kajagoogoo in die Provinzhauptstadt führte durch eine Hügellandschaft, die mit kurzen, kräftigen Gräsern bewachsen war, anders als die Gräser der Savanne, die eher kümmerlich und blass wirkten und nach jedem Gewitter vom Erdboden verschwunden waren. Antilopenherden zogen in der Ferne auf den Ebenen zwischen den Hügeln umher, riesige, aasfressende Vögel kreisten über ihnen, mein grünes Auto wirbelte Sand und Staub auf, die in großen Wolken landeinwärts wehten. Die Sonne schien, Echsen hockten reglos am Fahrbahnrand. Von einem Heißluftballon aus betrachtet, bildeten die Straßen der Provinzhauptstadt zufällig das heilige Kreuz der russisch-orthodoxen Kirche: eine lang gezogene Chaussee mit zwei parallel zueinander verlaufenden Querstraßen und einer kurzen, schräg ausfallenden Gasse. Zwischen ihnen drängten sich unzählige Häuschen, Hütten und Garagen aneinander wie bunte Steine, geworfen auf das Brett eines Spiels, in dem es um Leben und Tod ging.

Am Marktplatz, der voller Menschen war, stellte ich meinen Wagen ab, stieg aus und sah mich um. Vor dem Gouverneurspalast, einer Baracke mit dem Emblem der Savannenprovinz über der Tür – eine weite, grüne Ebene, blauer Himmel und zwei gekreuzte Macheten – pickten ein paar Hühner in einem Schlagloch herum. Einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken, hineinzugehen und um Arbeit zu bitten, doch dann dachte ich an den Schönen Hans und Perrys Vater Ignacio und entschied, eher nach Kajagoogoo zurückzufahren und als Bauer auf einem winzigen, unfruchtbaren Feld meine Gesundheit zu ruinieren, als mich in den Dienst der Regierung zu stellen. Eine Weile schlenderte ich zwischen den Marktständen herum, an denen Früchte, alte Spielkonsolen und Hochzeitskleidung aus chinesischer Produktion feilgeboten wurden. Tagelöhner standen rauchend neben einer abgebrochenen Mauer, telefonierten mit ihren Handys oder unterhielten sich. Ein bisschen hoffte ich, dass ich einem der schlecht gelaunt dreinblickenden Verkäufer ins Auge fiel und er mich zu sich rufen würde, um mich für den Rest des Tages seinen Stand übernehmen zu lassen, während er sich in einer nahen Kneipe die Kante gab, doch nichts dergleichen geschah. Also ging ich selbst in eine Kneipe, jedoch nicht, um dort nach Arbeit zu fragen, sondern weil ich Lust darauf bekommen hatte, mir selbst die Kante zu geben. Auch glaubte ich, dass zwei, drei Gläser Lakritzlikör es mir einfacher machen würden, später auf einen potenziellen Arbeitgeber zuzugehen, doch gleich darauf befürchtete ich, in besoffenem Zustand jeden Scheiß mitzumachen, den man mir auftrug. So beschloss ich, mich einfach nur kurz hinzusetzen, ein Bier zu trinken und dann wieder nach Hause zu fahren, um es am nächsten Tag erneut zu versuchen. In Kajagoogoo hatte sich mein Interesse für Alkohol in Grenzen gehalten; ein paarmal hatten Perry und ich den Palmschnaps seines Vaters getrunken, und Lissa war es einmal gelungen, mich mit tschetschenischem Sekt, Calvados und dem Schwarzgebrannten ihrer Großmutter gefügig zu machen, doch die Vorräte meiner Eltern hatte ich nicht angerührt, nicht einmal zu jener Zeit, als es mir so ungeheuer dreckig ging.

Die Kneipe trug den Namen Herrlichkeit der republikanischen Landschaft und war in einem engen Bretterverschlag untergebracht, in den gerade mal ein kurzer Tresen, zwei Hocker und ein Tisch mit drei Plastikstühlen hineinpassten. Der Ort erinnerte mich an den Film Stern im Nichts von Eddie from Outer Space, einem Regisseur aus Wyoming, der die Hälfte seines Lebens in einer Psychiatrie in den französischen Alpen verbracht hatte: Darin eröffnet der transsexuelle Vampir Hermelin die winzige Bar Hell’s Paradise am Rande einer gänzlich aus Industrieruinen bestehenden Stadt, wartet monatelang vergeblich, dass irgendein Trunkenbold sich zu ihm verirrt, verliert sich in seiner Einsamkeit und seinem Selbstmitleid und will sich, die lähmende Gewissheit im toten Herzen, keinerlei Kraft für jegliche Veränderung mehr aufbringen zu können, am Ende selbst richten, indem er bei geöffneter Türe den Sonnenaufgang erwartet, nur um nach einigen weiteren Monaten festzustellen, dass die Sonne aus unerfindlichen Gründen wohl nicht mehr aufgehen und er notgedrungen in seiner leeren, langsam, aber sicher zu Staub zerfallenden Bar der Ewigkeit entgegendämmern wird.

Hinter dem Tresen stand ein Mädchen, putzte Gläser mit einem fleckigen Fetzen und grüßte mich, als ich eintrat. Ich bestellte ein Bier, das Mädchen fragte nach meinem Alter, ich sagte, dass ich vor ein paar Monaten siebzehn geworden sei, ich würde es aber zu meinem achtzehnten Geburtstag nach Kajagoogoo einladen, ganz bestimmt.

Kajagoogoo?, fragte es. Was zum Teufel soll denn das sein?

Keine Ahnung, sagte ich, nahm mein Getränk und setzte mich an den Tisch in der Ecke.

Erst jetzt bemerkte ich, dass noch jemand in der Bar war, hinter einem Lautsprecher kauerte er, die Beine an den Oberkörper gezogen, das Gesicht blass und verschwitzt.

Was hat der denn?, fragte ich das Mädchen.

Ich weiß auch nicht, antwortete es, vielleicht Malaria. Kam vor ein paar Stunden rein, trank ein paar Gläser Schnaps und verkrümelte sich dann. Hat sich nicht mehr gerührt seitdem, der arme Bursche.

Ich stand auf, ging zu ihm, rüttelte an seiner Schulter und kühlte ihm mit meiner Bierflasche die Stirn.

Alles in Ordnung, compañero?, fragte ich ihn, erhielt aber keine Antwort. Schweißperlen glänzten über seiner Oberlippe.

Ich sah das Mädchen an, und wir zuckten beide zeitgleich mit den Schultern. Da bekam der Typ einen Hustenanfall, schüttelte sich, streckte die Beine aus und kippte zur Seite. Ich gab ihm ein paar Ohrfeigen, rief dem Mädchen zu, es solle ihm ein Glas Wasser bringen, und hievte ihn auf einen der freien Stühle. Nach einigen Minuten schien es ihm wieder etwas besser zu gehen, er öffnete die Augen und bewegte langsam den Kopf hin und her.

Tot ist er schon mal nicht, sagte ich zu dem Mädchen, das sorgenvoll zur Tür hinausblickte. Offenbar befürchtete es, dass jeden Moment ein Polizist hereinspazieren könnte, was uns alle in eine ziemlich missliche Lage bringen würde.

Diese beschissene Hitze, flüsterte der Typ, der fraglos ein Tourist sein musste, der sich auf direktem Weg ins Verderben befand.

Ich stellte mich ihm vor und schwieg, bis er irgendwann nach meiner Hand griff und sie leicht drückte. Da begann ich, ein bisschen was über diese von allen guten Geistern verlassene Gegend zu erzählen, fragte ihn, woher er komme, wie er heiße und was er sich dabei gedacht habe, bei diesem höllischen Wetter zu wenig Wasser zu trinken.

Er nannte sich der Preuße, machte eine Rundreise durch die Republik und kam aus Deutschland, genauer gesagt aus dem äußersten Osten Deutschlands, aus einer flachen, bräunlichen Landschaft namens Oderbruch, von der ich noch niemals etwas gehört hatte. Und dann sagte er, dass er mir eine Geschichte erzählen müsse, eine alte, merkwürdige, grausame Geschichte, und er müsse sie mir jetzt und sofort aus dem einfachen Grund erzählen, weil er sich davor fürchtete einzuschlafen, wenn er nicht spräche, und einzuschlafen, meinte er, würde in seinem Zustand den Tod bedeuten. Ich wollte ihm sagen, dass das großer Quatsch sei, dass er einfach sein Glas Wasser trinken und die Schnauze halten solle, doch er ließ mich nicht zu Wort kommen, und nach mehreren Ansätzen, in denen er das Leben der Menschen im Berlin der Kaiserzeit, die Witterungsbedingungen im äußersten Norden Norwegens und die Tier- und Pflanzenwelt am Grunde des Schwarzen Meeres beschrieben hatte, kam er zum eigentlichen Punkt seiner Erzählung und zu ihren Figuren: einer Gruppe kleiner Beamter, NSDAP