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Rasha Khayat

Weil wir längst
woanders sind

Roman

 

 

Für Hayat

 

With so many dissonances in my life I have learned actually to prefer being not quite right and out of place.

Edward W. Said, ›Out of Place‹

Schnee

Eines Tages ist er einfach da. Über Nacht, ganz leise und unbemerkt. Er liegt dort, als wäre es nie anders gewesen, völlig selbstverständlich. Ich ziehe die Gardine im Wohnzimmer auf wie jeden Morgen. Und da steht es fest, so einfach, eine Tatsache.

Wir hatten noch nie echten Schnee gesehen. Schnee kannten wir bisher nur aus Kinderbüchern oder von den deutschen Fernsehsendungen, die unsere Großeltern uns auf VHS-Kassetten aufgenommen und in großen Paketen nach Hause geschickt hatten, zusammen mit Lebkuchen zu Weihnachten oder Schokoladenhasen zu Ostern. Und von Bildern kannten wir ihn, den Schnee. Von Kinderfotos meiner Mutter, wo Barbara, eingehüllt in einen roten Skianzug, auf einem hölzernen Schlitten sitzt und sich von ihrem Bruder über einen Weg oder eine Wiese, eine weiße Decke ziehen lässt.

Und nun liegt er da, auf unserem Balkon, in den Blumenkästen mit den abgeschnittenen Rosen und auf den seit Monaten unbenutzten Plastikstühlen.

Ich stehe und starre, eine Hand noch an der Gardinenschnur, im Schlafanzug, mit nackten Füßen, und kann es nicht glauben. Der Himmel ist in dichtes Grau verkleidet, und die Wolken hängen so tief, dass ich fürchte, sie könnten jeden Moment an der bunten Windmühle hängen bleiben, die Layla im Sommer in einen der Blumenkästen gesteckt hat. Eine pechschwarze Amsel sitzt am Rand des Blumenkastens und pickt suchend in dem eingeschneiten Rosenstrauch.

Hinter mir höre ich, wie Layla mit leisen, tapsenden Schritten ins Zimmer kommt. Sie bleibt ganz dicht neben mir stehen, barfuß und im Nachthemd. In der rechten Hand hält sie ihren Stoffhasen, für den sie mit ihren sieben Jahren eigentlich schon zu alt ist, der aber seit einigen Monaten wieder mit in ihrem Bett schläft. Ihre linke Hand greift nach meiner Rechten und umklammert sie ganz fest. Sie schaut hoch zu mir, als suche sie nach einer Vergewisserung.

Ich lasse die Gardinenschnur los und öffne die Tür. Zusammen treten wir auf den bestäubten Balkon. Die Luft ist kalt, und es riecht nach Regen und Abgasen. Vorsichtig treten wir auf, unsere Füße drücken die dünne Schicht nieder und reißen kleine Löcher in die weiße Decke. Ich zucke zusammen unter der feuchten Kälte an den Füßen und bücke mich, um auch mit der Hand zu fühlen, ob sich das feine Puder tatsächlich unter unseren Berührungen auflöst. Laylas Arme und Beine sind von einer Gänsehaut überzogen. Sie zittert ganz leicht. Der Schnee gibt dem sanften Druck meiner Handflächen sofort nach, zwei- oder dreimal spreize ich alle zehn Finger und ziehe sie wieder zusammen, schiebe kleine Schneehäufchen zur Seite und verteile sie auf dem Boden, bis meine Hände in einer kleinen Pfütze liegen.

Ich richte mich auf, schüttle die nassen Finger aus und lege Layla den Arm um die Schulter. Sie hat ihren Hasen sorgsam auf dem Wohnzimmerboden abgelegt und zerreibt nun bedächtig eine Handvoll Schnee zwischen den Fingern. Schließlich ist auch davon nur noch Wasser übrig, und sie wischt ihre kleinen Hände erleichtert an dem rosafarbenen Nachthemd ab.

Unter unserem Balkon fegt jemand den Bordstein, und auf dem Supermarktparkplatz wischt eine Frau mit einem Stück Pappe die Windschutzscheibe ihres Autos frei.

»Kann man es essen?«, flüstert Layla, fast nur für sich. »Bei Ronja Räubertochter lutschen sie auch Schnee. Basil, lass uns den Schnee probieren.« Sie schaut mich mit ihren großen schwarzen Augen an. Ihre Locken sind noch ungekämmt, und sie sieht selbst ein bisschen aus wie eine Räubertochter.

Ich nehme etwas Schnee von der Lehne des Plastikstuhls und gebe Layla die Hälfte in die Hand. Vorsichtig lecken wir erst ein bisschen an unseren Schneekugeln und stecken sie uns dann hastig in den Mund, schnell und hektisch, rein damit, wie eine Pille oder ein Schluck Hustensaft. Layla verzieht ihr Gesicht, ich kaue langsam und höre es knirschen zwischen meinen Zähnen. Der Schnee schmeckt nach nichts, und an Laylas Blick sehe ich, dass sie ein wenig enttäuscht ist, genau wie ich, auch wenn wir beide nicht wissen, was wir vielleicht erwartet haben.

Hinter uns in der Wohnung höre ich die Tür zum Badezimmer zufallen. Kurz darauf wird die Dusche aufgedreht. Schnell schiebe ich Layla zurück ins Wohnzimmer und schließe die Balkontür.

Später in der Woche nehmen uns meine Großeltern mit in den Stadtpark. Der Teich dort sei zugefroren, sagt meine Oma, wir könnten mit den anderen Kindern aus der Schule Schlittschuh laufen. Mein Opa hat zwei Paar Kinderschlittschuhe eingepackt und meine Großmutter Kakao in einer blauen Thermosflasche und eine Tüte belegter Brötchen. Mein Großvater parkt seinen roten Wagen an der Straße, in einer langen Reihe anderer Autos. Eltern und Großeltern strömen in den Park, die Kinder lachen und werfen Schneebälle, viele tragen ihre Schlittschuhe zusammengebunden über der Schulter.

Layla zupft an ihrer roten Wollmütze, die zu klein ist für den dichten Lockenkopf und immer wieder zu Boden fällt. Meine Großmutter nimmt ihr die Mütze ab, dreht die Locken zu einem Knoten ein und zieht Layla die Mütze wieder auf, bis sie knapp über den Augen sitzt. Meine Schwester schaut mich fragend an, ich zucke nur mit den Schultern. Auf meiner Mütze, die meine Oma mir zusammen mit einem türkisfarbenen Fleecepulli vor ein paar Tagen mitgebracht hat, ist das Wappen eines Fußballvereins aufgestickt, den ich nicht kenne.

Ich steige aus dem Auto, in jeder Hand einen Schlittschuh, und schaue den anderen Kindern hinterher. Es hat den ganzen Vormittag geschneit. Neben dem Eingang zum Park baut eine Gruppe kleiner Mädchen einen Schneemann. Auf der Wiese am Teich entdecke ich Stefan und Patrick aus meiner Klasse. Auch sie haben Schlittschuhe dabei, schwarze, glänzende, und Hockeyschläger. Sie treten aufs Eis und fahren sofort los, gleiten, verfolgen sich, schneiden enge Kurven um ein paar Mädchen aus der Parallelklasse und schlagen Schneebälle mit den Schlägern über die glitzernde Fläche. Als sie in unsere Richtung schauen, blicke ich auf den Boden, schiebe einen kleinen Schneeberg mit meinen Stiefelspitzen zusammen.

»Na los, Kinder, wollt ihr nicht auch mitmachen?«, fragt meine Großmutter, kniet sich vor Layla hin und beginnt, ihr die Schlittschuhe anzuziehen. Meine Großmutter trägt nie Hosen. Sie trägt Kleider, meist mit Blumen oder Streifen, auch heute, unter ihrem braunen Wollmantel, und ihre hautfarbene Strumpfhose saugt sich mit Schneewasser voll. An den Knien zeichnet sich schnell ein Fleck ab. Wie kleine Flüsse, kleine Adern wandert das Wasser über den Unterschenkel und bis in den Pelzbesatz ihrer Stiefel.

»Ich kann das doch gar nicht«, sagt Layla leise und zieht langsam ihren rechten Fuß weg.

»Ach, da ist doch nichts dabei«, sagt meine Oma. »Ihr lauft einfach los. Sogar die Kinder aus der ersten Klasse können Eislaufen. Das klappt schon. Schau mal, was die für einen Spaß haben.« Zögerlich hält Layla ihr den Fuß wieder hin und lässt sich die weißen Eislaufstiefel schnüren.

Meine Schlittschuhe sind am Spann zu eng, und das Auftreten auf der weißen Wiese tut weh.

»Na also, nun seht ihr aus wie die anderen Kinder. Basil, nimm deine Schwester mit, lauft mal los. Wir bleiben hier stehen. Keine Angst. Los, los, macht schon.«

Layla vergräbt ihre Hand in meinem Fäustling, und wir staksen gemeinsam auf das Eis. Sie rutscht sofort aus und reißt mich mit zu Boden. Ihr Schlittschuh verfängt sich in ihrem Anorak. Meine Knie zittern von der Kälte und vor Schreck, vorsichtig hangle ich mich an einem Baumstamm wieder hoch und helfe Layla aufzustehen. Mit weit ausgestreckten Armen und unglücklichem Gesicht macht sie drei Trippelschritte auf der Eisfläche. Um uns herum fliegen Schneebälle, und ein kleiner roter Dackel rennt so dicht an mir vorbei, dass ich ihn beinahe getreten hätte. Er trägt einen Stock im Maul und wirft mir einen vorwurfsvollen Blick hinterher. Layla rührt sich keinen Zentimeter und schaut mir zu, wie ich mich langsam auf sie zubewege. Unter mir knackt das Eis, und die Kufen bleiben immer wieder an kleinen Löchern oder Furchen hängen. Auch der Hund lässt mich nicht aus den Augen und geht nun langsam neben mir her. »Komm schon, du schaffst das«, scheint er sagen zu wollen. »Ich kann’s ja auch, und ich kann sogar noch Stöckchen tragen dabei.«

Ich atme tief durch. Die Luft ist kalt und brennt in der Lunge. Mit zusammengekniffenen Lippen versuche ich, die Gleitbewegung der anderen Kinder nachzuahmen. Oberkörper nach vorn, Arme leicht zur Seite. Der Hund steht nun neben Layla, und die beiden sehen mir erwartungsvoll zu.

»Ach Kinder, stellt euch doch nicht so an«, höre ich meinen Opa von hinten rufen. »Mutti, komm, wir zeigen den beiden mal, wie die Profis das machen.«

Meine Großmutter kommt nicht mehr dazu zu protestieren. Opa packt sie bei der Hand, zieht sie aufs Eis, umfasst ihre Taille mit seinem rechten Arm und gleitet in einen Tanzschritt.

»Jetzt mach doch keinen Quatsch, Vatter«, sagt meine Oma und lacht dabei. Es kommt nicht oft vor, dass sie lacht.

Zusammen bewegen sich die beiden immer weiter auf die Eisfläche. Sie tragen keine Schlittschuhe, nur ihre Winterstiefel, und mein Opa wiegt sich und hüpft und singt dazu: »Rosamunde, schenk mir dein Herz und sag Ja. Rosamunde, frag doch nicht erst die Mama.«

Um sie herum versammeln sich nun immer mehr Leute, klatschen und lachen. Mein Großvater gleitet schneller und schneller und dreht meine Oma mit sich, Drehung um Drehung, leichte Schritte, noch eine Strophe. Der Dackel mit dem Stöckchen hat die Aufregung gewittert, seinen Wachposten neben Layla verlassen und springt nun um meine tanzenden Großeltern herum. Meine Oma wirft den Kopf in den Nacken, die dunkle Dauerwelle wippt im Takt. Auf den Knien sind noch immer die Wasserflecken zu sehen.

Layla nimmt mich bei der Hand und lächelt. Mit der anderen Hand zieht sie sich die Mütze wieder vom Kopf und wirft sie aufs Eis. Sie schüttelt ihre Locken aus, genau wie unsere tanzende Großmutter, summt leise die Melodie mit, wippt im Takt. Die tückischen Schlittschuhe an ihren Füßen hat sie offenbar vergessen.

Als wir später zurück zum Auto gehen, beginnt es zu schneien. Das grautrübe Licht verwolkt sich immer mehr, und die surrenden Laternen im Park scheinen ihr sandiges Gelb in die Flocken. Stefan und Patrick haben mich nun doch gesehen und kommen kurz zu uns herübergelaufen. »Hey, nächstes Mal musst du mit uns Hockey spielen! Mein Vater hat noch Schläger in der Garage.« Ich nicke und verabschiede mich hastig, meine Schlittschuhe in der Hand.

Layla geht einige Meter vor mir, an der Hand meiner Großmutter. Mein Großvater singt noch immer den Refrain von Rosamunde, als er den Wagen aufschließt. Layla schaut in den Himmel, öffnet den Mund und versucht, mit der Zunge ein paar Schneeflocken zu fangen. Ich fahre ihr durch die dunklen Haare, die nun weiß gepunktet und schneedurchzogen sind.

»Komm, steig schnell ein, nicht, dass du dich noch erkältest«, sage ich, und sie krabbelt auf die Rückbank.

Auf der Fahrt legt sie ihren feuchten Kopf an meine Schulter.

»Basil, meinst du, wir fahren bald nach Hause?«

 

»Erinnerst du dich, Layla?«
»Natürlich erinnere ich mich, ya akhi.«

Aufbruch

Der Spender mit den Papiertüchern ist leer. Ich wische mir die nassen Hände an der Hose ab und schaue in den beschlagenen Spiegel. Vielleicht hätte ich mich doch noch rasieren sollen. Ich fahre mit den Fingern über die dunklen Bartstoppeln und durchs Haar. Der Mann im Spiegel sieht müde aus und älter, als ich mich fühle. Das macht vielleicht aber auch das grelle Licht. Ein Businesstyp in Anzug betritt die Toilette und hält mir die Tür auf. Ich überlege, ob ich noch schnell eine Zigarette rauchen soll, aber die nächste Raucherzone ist am anderen Ende des Terminals.

Im Wartebereich stehen die letzten Passagiere vor dem Eingang zum Gateway Schlange. Ich könnte noch umdrehen. Noch ist es nicht zu spät, ich könnte einfach rausmarschieren aus dem Flughafen, mich in den Zug zurück nach Hamburg setzen und morgen zur Arbeit gehen oder vielleicht mal wieder zur Uni. Mein Koffer würde allein nach Kairo und dann nach Jeddah fliegen. Er würde so lange auf dem Gepäckband im Kreis fahren, bis ihn jemand herunterfischt, in eine Abstellkammer trägt und versucht, den Besitzer zu ermitteln. Vermutlich würden sie den Koffer öffnen und sich an den Sachen bedienen, die sie interessieren. Die neuen Turnschuhe, T-Shirts, ein dunkler Anzug. Barbara hatte darauf bestanden, dass ich ihn einpacke.

»Passagiere nach Kairo? Noch jemand nach Kairo?«, ruft ein Flughafenmitarbeiter mit schmaler schwarzer Polyesterkrawatte.

Ich ziehe meine Bordkarte aus der Jackentasche, gehe mit schnellen Schritten auf ihn zu und halte ihm meinen Pass und das Ticket hin. Er zieht es über den Scanner, den Pass ignoriert er. Ein synthetisches Lächeln. »Guten Flug.«

Ich bin der letzte, der die Maschine betritt, hinter mir wird das Gate geschlossen. An der Tür zum Flieger begrüßt mich eine Stewardess trotzdem freundlich, als hätte ich den Betrieb kein bisschen aufgehalten, und bringt mich zu meinem Platz in der First Class. Sie haben alles für mich arrangiert. Das ist gut gemeint und völlig selbstverständlich. In der Economy Class eingepfercht zu sein, das können sie sich nicht vorstellen, ein geradezu absurder Gedanke, so zu reisen. Außerdem wollen sie mir wohl einfach etwas Gutes tun. Viel Gelegenheit dazu gebe ich ihnen schließlich nicht.

Der Platz neben mir ist frei, was mir ganz recht ist. Ich räume die Wolldecke, das frische weiße Kissen und die kleine Kulturtasche mit dem Airline-Label auf den Nebensitz, schnalle mich an und schaue aus dem Fenster. Es ist viertel nach zwei, draußen regnet es, und ein Flugloste in leuchtend gelber Jacke fährt mit einem kleinen Transporter an unserer Maschine vorbei.

Ich fliege in ein Land, gegen dessen politische Zustände ich alle paar Wochen Onlinepetitionen unterzeichne. Genauso wie vermutlich neunzig Prozent meiner Nachbarn in St. Pauli. Keiner von ihnen wird jemals dorthin reisen, selbst wenn es ihnen möglich wäre. Warum sollten sie auch? Layla wird dort nicht Auto fahren dürfen, denke ich, aber sie wird einen Fahrer haben. Sie wird nicht ins Kino gehen können, obwohl sie das immer so geliebt hat. Denn da, wo sie jetzt lebt, gibt es keine Kinos.

Das mit dem Kino tut mir aufrichtig leid. All die anderen Gedanken sind mir im Moment zu schwierig. Wenn ich an Jeddah denke, fallen mir nur die Pakete mit den Granatäpfeln ein und dem trocken gewordenen Fladenbrot, die sie uns früher immer geschickt haben, damit wir in Deutschland nicht verhungern.

Die Stewardessen verteilen Getränke, Zeitungen und heiße, feuchte Tücher an die vier Gäste der ersten Klasse und ziehen den Vorhang zur Economy zu.

Auf dem Display vor mir wird der Clip mit den Sicherheitshinweisen abgespielt. Die Maschine setzt sich langsam in Bewegung, und ich warte auf den Moment, in dem sie beschleunigt und ich in den Sitz gedrückt werde. Dabei versuche ich, an Layla zu denken, und an meinen Vater. Oder versuche, sie zu vergessen und mir lieber um meine Topfpflanzen Gedanken zu machen, die vermutlich verdurstet sind, bis ich zurückkomme. Aber während der animierte kleine Mann vor mir seine Schwimmweste anlegt und den Aufblasschlauch in den Mund nimmt, kommt mir lediglich die Titelmelodie der Captain-Majid-Cartoons in den Sinn, die wir so gerne geschaut haben, während die Klimaanlage im Wohnzimmer leise rappelte. Layla und ich konnten damals jede Folge auswendig mitsprechen.

Das Anschnallzeichen über mir erlischt. Der Mann auf der anderen Seite des Gangs zieht seine Schuhe aus, setzt sich eine Schlafmaske auf und stellt die Sitzlehne zurück. Ich weiß nicht, ob ich aufgeregt bin oder einfach nur hundemüde von den letzten Wochen und den Telefonaten mit Barbara, die mir ständig die Fragen gestellt hat, die sie lieber ihrer Tochter stellen sollte. Ich überlege, auf die Toilette zu gehen und mir etwas Wasser ins Gesicht zu spritzen, aber da verteilen die Stewardessen schon die Speisekarten für das Mittagessen. »Today, we have a choice of beef, fish or vegetarian meals for you, sir. Together with salads, fruit and some sweets, arabic and european. Enjoy your flight.«

Mein Magen knurrt tatsächlich, ich habe nicht gefrühstückt, obwohl Barbara es nicht leiden kann, wenn ich ohne Frühstück aus dem Haus gehe. Das war schon immer so, egal, wie alt wir waren oder wie lange wir schon nicht mehr bei ihr wohnten. Ohne Frühstück geht man nicht aus dem Haus, auch wenn das für sie selbst nicht gilt. Sie trinkt nur Kaffee und raucht zwei Zigaretten. Aber Kinder müssen essen.

Sie hatte mich gestern Mittag mit dem Auto am Bahnhof abgeholt. Natürlich hätte ich genauso gut von Hamburg aus fliegen können. Ohne Umweg oder Schleife, mit einer anderen Verbindung, die kaum mehr Zeit in Anspruch genommen hätte. Aber es war ein ungeschriebenes Gesetz. Jede größere Reise, die wir antraten, hatte am Düsseldorfer Flughafen zu beginnen, sodass wir den Abend davor bei ihr verbringen konnten.

Ich hatte meinen Cousin ganz selbstverständlich gebeten, diese Route zu buchen, wohl aber auch, weil ich gehofft hatte, dass Barbara mir noch irgendwas mitgeben wollte, eine Nachricht für Layla oder dass sie im letzten Augenblick doch noch entschieden hatte mitzukommen. Das war natürlich völliger Blödsinn, denn sie ist kein Mensch, der für Überraschungen gut wäre.

Wir hatten den ganzen Nachmittag am Küchentisch gesessen, geraucht und Kaffee getrunken. Barbara raucht viel, sie sagt, das sei die Arbeit im Krankenhaus, da käme man nicht umhin, das sei alles wahnsinnig stressig.

Layla und ich nennen sie unter uns immer nur beim Vornamen. Layla sagt auch manchmal »Die Mutter«, als sagte sie »Der Papst« oder »Die Kanzlerin«. Mit ihren klaren, scharfen Gesichtszügen und ihren langen Fingern wirkt sie jünger als die Frau von siebenundfünfzig Jahren, die sie ist. Ihre Nägel sind immer akkurat gefeilt, ihre Haare sauber getönt und geschnitten, die Augenbrauen lässt sie sich auch beim Friseur zupfen und färben. Die Ärzte im Krankenhaus mögen sie. Sie ist fleißig und verlässlich, nimmt nie ein Blatt vor den Mund und setzt sich immer für die jüngeren Schwestern und Pfleger ein. Layla sagt, sie wäre gern mit dieser Frau aufgewachsen, der Krankenhaus-Barbara, die immer weiß, was sie zu tun hat und so einfach auf Menschen zugehen kann.

Auf dem Küchentisch vor uns lag ein angefangenes Puzzle ausgebreitet. Hunderte kleine Steine, blau und grün und grau und rot, Ecken, Kanten, mit Zacken und kleinen Einbuchtungen. Der Rand des Bildes war zur Hälfte gelegt. Der Deckel der Schachtel zeigte das Tadsch Mahal vor sehr blauem Himmel, mit photogeshoppten Brunnen und menschenleeren Wiesen davor.

Schweigend legten wir eine Weile die Teile aneinander, suchten Stücke vom Himmel, fügten kleine Steine zu Türen und Fenstern zusammen, was mir ziemlich gut gefiel, weil wir so nicht reden mussten.

»Hast du deine Immatrikulationbescheinigung an die Versicherung geschickt?«, fragte sie irgendwann, und ich hatte genickt, und Barbara hatte eine Wolke ergänzt. Dann hatte sie mich angeschaut mit diesem Blick, der sagte, dass sie mir das nicht glaubte, und natürlich hatte sie recht.

Weil ich nicht wusste, was ich sonst noch sagen sollte, war ich aufgestanden, zum Kühlschrank gegangen und hatte mir eine Cola genommen. »Willst du auch was?«

Sie schüttelte den Kopf.

An ihrer Kühlschranktür pinnen Kinderfotos von uns, mit bunten Magneten festgemacht, die Barbara sich manchmal aus ihren Urlauben mitbringt. Ein Leuchtturm, eine Möwe, ein Bild vom Schloss Neuschwanstein. Neuschwanstein hält Layla und mich fest an die Tür geheftet, wie wir im Garten unserer Großeltern sitzen und Waffeln essen. Layla streckt ihre Zunge raus, die ganz rot ist von den Kirschen. Ich sitze neben ihr, wie auf fast allen Kinderfotos, und schaue sie an. Ich versuche, mir den Jungen vorzustellen, was er gedacht hat und was er dem kleinen Kirschmädchen wohl sagen wollte, kann mich aber nicht erinnern.

Dann hatte ich gesagt, dass der Flug morgen erst um vierzehn Uhr ginge, und das Schweigen war noch unangenehmer geworden. Aber ich musste das Thema schließlich ansprechen, es führte kein Weg daran vorbei.

»Du könntest noch einen Flug buchen. Sie haben es immer wieder angeboten.«

»Ich kann nicht weg, die geben mir keinen Urlaub.« Barbara hatte eine kleine Turmspitze zusammengesteckt und an ihrer Zigarette gezogen.

»Ich glaube kaum, dass man dir eine Woche Urlaub verweigert, um zur Hochzeit deiner Tochter zu fliegen.«

»Deine Schwester hat nicht mehr alle Tassen im Schrank, Basil.«

Ich hatte mich zurück an den Tisch gesetzt und den Impuls unterdrückt, sie in den Arm zu nehmen, weil sie plötzlich so zerbrechlich aussah, aber sie hätte das gar nicht gewollt, sie mochte solche Gesten noch nie, ebenso wenig wie ich.

»Ich denke, sie würde sich freuen, ihre Mutter bei ihrer Hochzeit dabeizuhaben«, hatte ich stattdessen gesagt. Und dann hatte sie losgelegt.

»Du glaubst doch nicht, dass sie das ernst meint mit dieser Hochzeit. Eine von ihren Launen ist das, das sag ich dir. Fährt über zwei Jahre lang durch die Weltgeschichte, meldet sich nie und will dann einen völlig fremden Mann heiraten in einem Land, wo sie nichts darf. Deine Schwester hat einen Dachschaden, und ich unterstütze das ganz bestimmt nicht!«

»Sie meint, das ist ihr Zuhause«, hatte ich gesagt und mich sofort geärgert, weil das so leer und sinnlos klang.

»Blödsinn. Das hier ist ihr Zuhause. Oder Hamburg, oder was weiß ich. Was will sie denn da hinten? Sie kennt doch die Leute alle nicht. Da hat sie sich wieder mal was in den Kopf gesetzt und will sich durchsetzen. Wie immer. Soll sie machen. Mir egal. Aber ohne mich.«

Barbaras Haut wirkte weiß und durchsichtig gegen den Rollkragen des dunkelgrauen Pullovers. An ihrem Hals zeichneten sich kleine rote Striemen von der Wolle ab, und zum ersten Mal fiel mir auf, wie viele Falten sich um ihre Augen gebildet hatten.

Die Spülmaschine hatte ein aufdringliches Pfeifen von sich gegeben. Barbara war aufgesprungen, hatte die Klappe aufgerissen und war kurz im Dampf der frisch gespülten Teller versunken. Sie hatte geklappert und geräumt und sortiert. »Dieses beschissene Spülzeug. Guck dir mal die Messer an. Alles fleckig.«

Barbara räumt immer auf. Oder um, oder ein. Als unsere Großmutter vor ein paar Jahren starb, wickelte Barbara ununterbrochen Besteck in Servietten für das Kaffeetrinken nach der Beerdigung. Sie schnitt Käse zurecht und trug die Platten von einem Raum in den anderen. Das Wohnzimmer war zu warm, der Waschkeller zu kalt. Wo zum Teufel sollte man nur den ganzen Käse hinstellen? Layla und ich hatten schweigend auf der Couch gesessen und ein Fußballspiel geschaut. Layla hatte still geweint, und ich hatte darauf geachtet, dass Barbara ihr nicht zu nah kam. »Selbst wenn man die Tür hinter sich zumacht, hat man keine Ruhe vor ihrem Nebel«, hatte Layla damals zu mir gesagt und sich dabei an einer Teetasse festgeklammert. »Immer muss sie sich bewegen, warum kann sie nicht einfach mal still sitzen, Basil?«

»Wenn sie etwas nicht aushält, geht sie weg«, hatte ich gesagt. »Das wissen wir doch.«

Barbara hatte die Messer mit einem Geschirrtuch poliert und dann lautstark ins Besteckfach geschmissen.

»Setz dich bitte mal hin, Mama.«

»Ich muss das hier erst ausräumen.«

»Das hat Zeit. Ich kann das auch gleich machen.«

Sie klapperte noch eine Weile mit den Tellern, setzte sich dann aber wieder an den Tisch. Ihr Blick verschwamm hinter den beschlagenen Brillengläsern. Sie fischte eine neue Zigarette aus der Packung, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, nahm sich Feuer und zog zweimal tief den Rauch ein.

»Mein Sohn ist einunddreißig, kriegt sein Studium nicht fertig und jobbt in einer Kellerkneipe. Meine Tochter schmeißt ihre Buchhändlerausbildung kurz vor Schluss, haut ihr Erbe auf den Kopf, gondelt durch die Weltgeschichte und will nach über zwanzig Jahren in ein Land zurückkehren, das sie nicht kennt, um da jemanden zu heiraten, den sie auch nicht kennt. Glaubst du wirklich, ich will mich diesen Leuten aussetzen und das erklären, Basil? Was ich alles falsch gemacht habe mit meinen Kindern, so sehr, dass meine Tochter glaubt, sie müsste zu einer fremden Familie zurückkehren? Dass ich so eine schlechte Mutter war nach allem, was war? Was habe ich denn falsch gemacht, dass euch alles immer so schwer fällt, Basil? Kannst du mir das verraten? Nein, ich fliege ganz bestimmt nicht mit dahin und mache diesen Zirkus mit.«

»Ladies and Gentlemen, in a few minutes we will begin our descent towards Cairo Airport