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Über das Buch:

Hamburg 1947: Die Stadt liegt in Trümmern, und es ist einer der kältesten Winter des Jahrhunderts. Die Menschen versuchen irgendwie zu überleben. Da wird mitten in der Trümmerlandschaft eine Leiche entdeckt: eine junge Frau, nackt, ohne Hinweis auf ihren Mörder. Oberinspektor Stave hat kaum Hoffnung, den Fall aufzuklären, auch wenn ihm Lothar Maschke von der Sitte und Lieutenant MacDonald von der britischen Verwaltung zur Seite gestellt werden. Schon bald werden weitere Tote aufgefunden, und Stave ist für jede Hilfe dankbar, die er auf der Suche nach einem grausamen Mörder bekommt.

Cay Rademacher lässt in einem hochspannenden authentischen Kriminalfall das Hamburg des Hungerwinters 1946/47 lebendig werden.

Über den Autor:

Cay Rademacher

© Francoise Rademacher

 

Cay Rademacher, geboren 1965, ist freier Journalist und Autor. Bei DuMont erschienen seine weiteren Kriminalromane aus dem Hamburg der Nachkriegszeit: ›Der Schieber‹ (2012) und ›Der Fälscher‹ (2013). Seine Provence-Krimiserie umfasst: ›Mörderischer Mistral‹ (2014), ›Tödliche Camargue‹ (2015), ›Brennender Midi‹ (2016), ›Gefährliche Côte Bleue‹ (2017), ›Dunkles Arles‹ (2018), ›Verhängnisvolles Calès‹ (2019) und ›Verlorenes Vernègues‹ (2020). Außerdem erschien 2019 der Kriminalroman ›Ein letzter Sommer in Méjean‹. Cay Rademacher lebt mit seiner Familie in der Nähe von Salon-de-Provence in Frankreich.

 

Mehr über das Leben im Midi erfahren Sie im Blog des Autors: Briefe aus der Provence

Cay Rademacher

DER TRÜMMERMÖRDER

Kriminalroman

Imagelogo

 
 
 
Für Françoise und unsere drei Hamburger –
Léo, Julie und Anouk

Kaltes Erwachen

Montag, 20. Januar 1947

Im Halbschlaf tastet Oberinspektor Frank Stave nach dem Körper seiner Frau, bis er sich daran erinnert, dass sie vor dreieinhalb Jahren verbrannt ist. Er ballt die Hand zur Faust, dann schlägt er die Bettdecke zurück. Eisige Luft vertreibt die letzten Schleier des Alptraums.

Graues Dämmerlicht dringt durch die zerschlissenen Damastvorhänge, die Stave aus den Trümmern des Nachbarhauses geborgen hat. Seit fünf Wochen befestigt er sie jeden Abend mit einigen auf dem Schwarzmarkt erstandenen Heftzwecken an den Fensterrahmen. Die Scheiben sind dünn wie Zeitungspapier und innen mit einem Eispanzer überkrustet. Stave befürchtet, das Glas könnte irgendwann unter dem Gewicht des Eises bersten. Absurde Sorgen: Die Fenster haben unter den Druckwellen unzähliger explodierender Bomben geklirrt, doch zerplatzt sind sie nie.

Die Bettdecke ist stellenweise an der Wand festgefroren. Im trüben Schein des frühen Morgens sehen die Zimmerwände aus wie mit Hornhaut überzogen, so dick ist die Reifschicht. Darunter einzelne Streifen einer Tapete, deren Muster 1930 modern gewesen ist, fleckiger Putz, in einigen Ecken schließlich die nackte Mauer, schwarzrote Ziegel und hellgrauer Mörtel.

Stave geht langsam bis zur winzigen Küche, der eisige Fliesenboden schneidet in die Sohlen, trotz zwei Paar alter Socken an den Füßen. Mit steifen Fingern tastet er an der Brennhexe herum, bis in dem winzigen fassförmigen Ofen ein Feuer lodert. Es stinkt nach verbrannter Möbelpolitur, denn das Holz, mit dem Stave die Brennhexe füttert, war einst eine dunkle Schlafzimmerkommode aus dem Nachbarhaus, das im Sommer 1943 von einer Bombe getroffen wurde.

Von der Bombe, denkt Stave. Der Bombe, die ihm seine Frau genommen hat.

Während er darauf wartet, dass ein Eisblock in dem alten Wehrmachtskessel auf der Brennhexe schmilzt und ein wenig Wärme in die Wohnung bringt, streift er sich den alten Wollpullover ab, dann den Trainingsanzug der Polizei, die zwei Unterhemden, die Socken, in denen er geschlafen hat. Sorgfältig drapiert er sie auf dem wackeligen Stuhl neben seinem Bett. Da ihm nur 1,95 Kilowatt Strom pro Monat zugeteilt sind – kostbare Energie, die für seine Herdplatte und das Abendessen aufgespart wird –, macht er kein Licht. Also legt er seine Kleider stets nach dem gleichen Muster zurecht, damit er sie in der Düsternis richtig anzieht.

Wasser, noch immer so kalt wie aus einem Gletscher, hastig ins Gesicht und auf den Körper gespritzt, wo die Tropfen brennen. Unwillkürlich zittert Stave. Dann streift er sich Hemd, Anzug, Mantel, Schuhe über. Die Rasur im Halbdunkel, vorsichtig, langsam, denn Schaum gibt es nicht, und die Klinge ist schon schartig. Neue sollen, wenn überhaupt, erst in einigen Wochen auf Bezugsschein ausgegeben werden. Den Rest des Wassers lässt er derweil auf der Brennhexe weiter aufwärmen.

Gerne hätte Stave Bohnenkaffee getrunken, wie vor dem Krieg. Doch er hat nur Ersatzkaffee, eine fade graue Brühe, nachdem er das Pulver mit dem lauwarmen Wasser aufgegossen hat. Ein paar schon vor Tagen geröstete, zerriebene Eicheln mischt er darunter, damit sie wenigstens bitter schmeckt. Dazu zwei Scheiben bröseliges Graubrot. Frühstück.

Den letzten echten Kaffee hat Stave gestern am Hauptbahnhof gegen ein paar wertlose Informationen eingetauscht. Er ist Polizei-Oberinspektor – ein Dienstrang, den die britischen Besatzungsbeamten eingeführt haben und an dessen Klang sich Stave stets stört, der mit Titeln wie »Kriminalinspektor« oder »Hauptwachtmeister« groß geworden ist.

Am vergangenen Samstag hat er zwei Mörder verhaftet. Flüchtlinge aus Ostpreußen, die in Schwarzmarktgeschäfte eingestiegen waren und eine Frau, die ihnen etwas schuldete, erdrosselt und in ein Fleet geworfen hatten, beschwert mit einem Brocken Beton aus einer Ruine. Mit viel Mühe hatten sie zuvor das halbmeterdicke Eis auf dem Wasser aufgehackt, um ihr Opfer darunter zu versenken. Ihr Pech, dass sie nicht um die Gezeiten wussten – und darum, dass bei Ebbe die Tote für jeden im Schlamm des Grundes sichtbar wurde, unter dem Eis wie unter einem Vergrößerungsglas.

Stave hatte das Opfer rasch identifiziert, hatte herausgefunden, mit wem es zuletzt gesehen worden war, und die beiden Täter keine vierundzwanzig Stunden nach dem Mord verhaftet.

Dann war er, wie an jedem Wochenende, das nicht ganz mit Ermittlungen ausgefüllt war, zum Hauptbahnhof gegangen und hatte sich unter den endlosen Menschenstrom auf den Bahnsteigen gemischt, hatte sich unter all den Hamburgern auf Hamsterfahrten ins Umland und unter den heimkehrenden Soldaten umgehört. Hatte nach einem Karl Stave gefragt, flüsternd, zögerlich.

Karl, der sich im April 1945 als siebzehnjähriger Gymnasiast freiwillig zu einer Einheit an der Ostfront gemeldet hatte, die zu jenem Zeitpunkt schon in den Vororten von Berlin verlief. Karl, der seine Mutter verloren und seinen Vater als »lau« und »undeutsch« verachtet hatte. Karl, der seit dem Kampf um die Reichshauptstadt verschollen war, ein Phantom im Niemandsreich zwischen Tod und Leben, vielleicht gefallen, vielleicht kriegsgefangen von der Roten Armee, vielleicht irgendwo auf der Flucht, untergetaucht, mit falschem Namen. Aber hätte er sich in diesem Fall nicht inzwischen trotz ihrer Streitereien bei seinem Vater gemeldet?

Stave war herumgegangen, hatte ausgemergelte Gestalten in viel zu weiten Mänteln angesprochen, Männer mit dem Russlandgesicht, hatte ein speckiges Foto seines Jungen gezeigt. Kopfschütteln, müde Gesten. Endlich einer, der behauptete, etwas zu wissen. Stave hatte ihm seinen letzten Kaffee angeboten und dann gehört, dass ein Karl Stave in Workuta sei, in einem Straflager, zumindest jemand, der dem Jungen auf diesem Bild einmal ähnlich gesehen haben könnte und der Karl hieß mit Vornamen, vielleicht, und der noch immer dort eingesperrt sei, vielleicht, vielleicht auch nicht.

Plötzlich drei Schläge an der Tür, die Stave aus seinen Gedanken aufschrecken lassen. Die Sicherung der Klingel hat der Oberinspektor herausgedreht, das spart ein paar Milliwatt Strom.

Für einen Augenblick die absurde Hoffnung, es könnte Karl sein, der zu so früher Stunde anklopft. Dann zwingt sich Stave zur Disziplin: Lass dich nicht gehen, ermahnt er sich.

Stave ist Anfang vierzig, hager, die Augen graublau, mit kurzgeschorenen, blonden Haaren, in denen die ersten grauen Strähnen kaum auffallen. Er eilt zur Tür. Das linke Bein schmerzt, wie immer im Winter. Seit der Verletzung in jener Nacht 1943 ist das Fußgelenk steif. Stave hinkt leicht, sosehr er auch mit verbissener Wut gegen diese Verkrüppelung ankämpft, sich zu Dauerläufen, Dehnübungen, ja sogar – wenn die Schulzes die Wohnung darunter verlassen haben – zum Seilspringen zwingt.

Im Türrahmen steht ein Schupo mit Tschako, dem zylinderförmig aufragenden Schutzhelm, mehr kann Stave zunächst nicht erkennen. Das Treppenhaus ist düster, seit jemand alle Glühbirnen der Beleuchtung gestohlen hat. Der Polizist muss sich die vier Stockwerke hinaufgetastet haben.

»Morgen, Herr Oberinspektor«, sagt er. Seine Stimme klingt jung, sie zittert leicht vor Aufregung. »Wir haben eine Tote. Sie sollen sofort kommen.«

»Gut«, antwortet Stave mechanisch, bevor ihm klar wird, wie unpassend das klingt.

Gefühle? Er hat in den letzten Jahren des Krieges viel zu viele verstümmelte Leichen gesehen – darunter die seiner eigenen Frau –, als dass ihn die Nachricht von einem ermordeten Menschen schockieren würde. Erregung, das ja – die Erregung des Jägers, der die flüchtige Spur eines wilden Tieres aufnimmt.

»Wie heißen Sie?«, fragt er den Schupo, während er sich den schweren Wollmantel überzieht und nach seinem Hut greift.

»Ruge. Hauptpolizist Heinrich Ruge.«

Stave blickt auf die blaue Uniform, die metallene Dienstmarke mit Nummer links auf der Brust. Noch eine Neuerung der Briten, die alle deutschen Polizisten hassen: die vierstellige Nummer auf dem Herzen. Eine glänzende Zielscheibe für jeden Verbrecher mit Pistole. Der Beamte, dem diese Uniform viel zu groß ist, ist schmal und jung, kaum älter als Staves Sohn.

Die Briten haben nach dem Einmarsch im Mai 1945 Hunderte Polizisten entlassen – jeden, der bei der Gestapo war, der hohe Funktionen hatte, der irgendwie politisch aufgefallen war. Leute wie Stave, die im alten Regime als »links« galten und die man auf unbedeutenden Posten kaltgestellt hatte, sind geblieben. Und neue Beamte wurden eingestellt – Jungs wie dieser Ruge, die vom Leben noch nichts wissen und von der Polizeiarbeit erst recht nichts. Acht Wochen Ausbildung, eine Uniform und ab auf die Straße. Anfänger, die erst im Dienst lernen müssen, was es heißt, Polizist zu sein. Angeber darunter, die, kaum in Uniform, Bürger anschnauzen und wie preußische Herrenreiter durch die Ruinen stolzieren. Und zwielichtige Charaktere, die man früher, in der Weimarer Republik und im Kaiserreich, wohl auch bei der Polizei gesehen hätte – allerdings nicht hinter dem Schreibtisch des Reviers, sondern in der Zelle.

»Zigarette?«, fragt Stave.

Ruge zögert kurz, dann greift er zur angebotenen Lucky Strike. Er ist klug genug und fragt nicht, woher der Oberinspektor die Ami-Zigarette hat.

»Anzünden müssen Sie den Glimmstängel selbst«, setzt Stave entschuldigend hinzu. »Ich habe kaum noch Streichhölzer.«

Ruge lässt die Zigarette in einer Tasche seiner Uniform verschwinden. Stave fragt sich, ob der Junge sie später rauchen oder irgendwo eintauschen wird. Aber wogegen? Dann ruft er sich zur Ordnung: Von allen Menschen denke ich, sie seien Verdächtige.

Er ist fertig, dreht sich schon halb zur Tür um, greift aber schließlich doch zum Schulterhalfter, das neben der Tür an einem Haken hängt. Der Schupo starrt ihn an, während Stave sich das Lederband um den Leib schnallt, in dem die Pistole FN 22, Kaliber 7,65 Millimeter steckt. Schupos tragen 40 Zentimeter lange Schlagstöcke am Koppel, keine Feuerwaffen. Die Briten haben fast alles eingezogen, selbst Luftgewehre auf Kirmesständen. Nur wenige Kripobeamte dürfen Pistolen tragen.

Ruge scheint noch nervöser zu werden. Vielleicht, denkt Stave, weil er ahnt, dass es ernst wird. Vielleicht aber auch, weil er selbst gerne eine Waffe hätte. Dann verscheucht er diese Gedanken.

»Gehen wir«, sagt er und tastet sich voran ins Treppenhaus. »Vorsicht bei den Stufen, sonst rutschen Sie aus. Und ich habe noch einen Toten an der Backe.«

Die Männer stolpern nach unten. Einmal hört Stave, wie der junge Schupo einen leisen Fluch ausstößt, doch er kann nicht erkennen, ob Ruge ausgerutscht oder gegen irgendetwas gestoßen ist. Er selbst kennt jede knarzende Stufe und würde selbst in vollkommener Düsternis das Geländer ertasten.

Sie treten hinaus. Stave wohnt vorne raus, rechts im obersten Stock eines viergeschossigen Mietshauses an der Ahrensburger Straße: Jugendstil, die Wand weiß und blasslila verputzt, auch wenn das unter der Dreckschicht kaum noch zu erkennen ist; Ornamente an der Fassade, hohe, weiße Fenster, an jeder Wohnung ein Balkon mit geschwungener, steinerner Brüstung, darüber Schmiedeeisen. Kein schlechtes Haus. Das übernächste ist ähnlich, bloß heller verputzt. Das Haus dazwischen war auch so gebaut, doch ragen dort nur noch ein paar Mauern auf, Stümpfe aus Ziegeln und Schutt, verkohlte Balken, ein Ofenrohr, das irgendwo in den Trümmern so fest eingeklemmt ist, dass es bislang keinem Plünderer gelungen ist, es zu stehlen.

Staves ehemaliges Haus. Er hat dort gewohnt, Nummer 91, zehn Jahre lang, bis zu jener Nacht, da die Bomben fielen und sich die Häuser holten: mal hier, mal dort, Lücken in den Gebäudereihen wie in einem schlecht gepflegten Gebiss.

Warum Nummer 91, aber 93 und 89 nicht? Sinnlos, sich das zu fragen. Und doch denkt Stave daran, jedes Mal, wenn er aus dem Gebäude tritt. Und daran, wie er unter den Trümmern seine Frau hervorgezogen hat – vielmehr das, was von ihrem Körper noch übrig geblieben war. Später hatte ihm jemand, er wusste nicht einmal wer – überhaupt konnte er sich an jene Wochen im Sommer 1943 kaum klar erinnern –, die Wohnung in Nummer 93 angeboten. Wo mochten die Menschen sein, die zuvor dort gelebt hatten? Stave hatte sich gezwungen, darüber nie nachzudenken.

»Herr Oberinspektor?«

Stave hört Ruges Stimme wie aus weiter Ferne. Dann die Überraschung: Vor ihm steht ein Streifenwagen, eines von den fünf einsatzfähigen Autos, die der Hamburger Polizei noch geblieben sind.

»Das nenne ich Luxus«, murmelt er.

Ruge nickt. »Wir sollen uns beeilen, bevor irgendjemand Wind von der Sache bekommt.« Er klingt übermäßig stolz dabei, findet Stave.

Dann reißt er die Tür zum 39er Mercedes Benz auf. Ruge hat keine Anstalten gemacht, sie für ihn zu öffnen. Der geht stattdessen um das kastenartige Auto herum und setzt sich hinter das Steuer.

Im Zickzack fährt er los. Die Ahrensburger Straße war vor dem Krieg gerade und vierspurig, ein bisschen zu breit, die Häuser und die Bäume an beiden Seiten ein bisschen zu niedrig für einen prachtvollen Boulevard, aber immerhin. Nun liegen Trümmer auf der Fahrbahn: Fassaden, die wie gefallene Soldaten nach vorne gekippt sind, Kamine, undefinierbare Schutthaufen. Dazu Bombenkrater, Risse, Panzerketten, verkohlte Baumstümpfe, zwei, drei ausgebrannte Autowracks.

Ruge kurvt um die Hindernisse herum, zu schnell, findet Stave. Doch der Junge ist aufgeregt. Die Straßenlaternen, sofern sie überhaupt noch stehen, sind kaputt. Der Himmel ist niedrig, über die Ahrensburger Straße pfeift ein eisiger Nordostwind. Irgendwo muss die Heckscheibe des alten Daimlers einen Riss haben, der sibirische Luftstrom zieht von hinten ins Innere. Stave schlägt den Mantelkragen hoch, er fröstelt. Wann ist ihm das letzte Mal warm gewesen?

Die Scheinwerfer des Wagens streichen über braunen Schutt. Am Straßenrand wandeln schon Menschen wie Gespenster entlang, trotz der frühen Stunde und der Temperatur von minus 20 Grad: Hagere Männer in umgefärbten Wehrmachtsmänteln, einbeinige Spukgestalten gehüllt in Lumpen, Frauen, die sich Wollschals um Köpfe und vor das Gesicht geschlungen haben, beladen mit Körben und Blechbüchsen – mehr Frauen als Männer, viel mehr.

Stave fragt sich, wohin die alle so früh wollen. Die Läden, wenn man überhaupt etwas gegen Bezugsschein bekommt, öffnen nur zwischen 9 und 15 Uhr, um Strom für die Beleuchtung zu sparen.

Fast anderthalb Millionen Menschen leben in Hamburg. Hunderttausend sind im Krieg oder im Bombenhagel gestorben, viele weitere aufs Land evakuiert worden. Dafür sind Flüchtlinge in der Stadt – und DPs, Displaced Persons, befreite KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene, zumeist Russen, Polen, Juden, die nicht in ihre Heimat zurückkehren wollen oder können. Offiziell leben sie in Lagern, welche die Briten für sie eingerichtet haben, doch viele schlagen sich lieber in der verwüsteten Elbmetropole durch.

Stave blickt aus dem Fenster: Die gezackten Ruinen eines Hauses, Mauern, wie bei einer mittelalterlichen Ruine, nur dünner. Und dahinter noch mehr Mauern und noch mehr und noch mehr. Das wird hundert Jahre dauern, um es wieder aufzubauen, denkt er. Dann schreckt er auf.

»1 Peter.« Eine blecherne Stimme, lauter als der röchelnde Achtzylinder. Das Funkgerät.

Seit einem Jahr haben die Briten der Polizei erlaubt, von der Leitstelle im Stadthaus aus mit den alten Telefunkenkästen zu senden. Die fünf Radiostreifenwagen können allerdings nur Meldungen empfangen, keiner hat einen Sender an Bord, sodass man in der Zentrale nie weiß, ob die Meldungen auch ankommen.

»1 Peter«, dröhnt die Stimme wieder. »Bitte bestätigen, wenn Sie am Einsatzort sind.«

»Verdammte Bürokraten«, sagt Stave. »Dann müssen wir uns dort ein Telefon suchen. Wo fahren wir überhaupt hin?«

Ruge bremst ab, weil ihnen ein Jeep der Briten entgegenrumpelt. Er macht Platz und grüßt den Soldaten am Steuer, doch der ignoriert sie und fährt, eine Staubfahne in der trockenen Luft hinter sich herziehend, an ihnen vorüber.

»Zur Baustraße in Eilbek«, antwortet der Schupo. »Das ist …«

»… beim Bahnhof Landwehr. Kenne ich.« Staves Laune verschlechtert sich. »In ganz Eilbek steht kein einziges Haus mehr. Was stellen die Heinis sich vor? Wie sollen wir uns melden? Per Brieftaube?«

Ruge räuspert sich. »Ich bedaure, Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir nicht einmal bis zur Baustraße fahren können, Herr Oberinspektor.«

»Nein?«

»Zu viele Trümmer. Wir werden die letzten paar hundert Meter zu Fuß gehen müssen.«

»Na großartig«, murmelt Stave. »Hoffentlich treten wir nicht auf einen Blindgänger.«

»Am Tatort treiben sich in letzter Zeit viele Leute herum, da wird nichts mehr hochgehen.«

»Am Tatort?«

Ruge wird rot. »Da wo die Leiche gefunden worden ist.«

»Also am Fundort«, korrigiert ihn Stave, doch er bemüht sich um einen versöhnlichen Ton. Plötzlich wird seine Laune besser. Er vergisst die Kälte und die Trümmer und die gespenstischen Gestalten am Straßenrand. »Wissen Sie denn überhaupt, was uns erwartet?«

Der junge Schupo nickt eifrig. »Ich war dabei, als die Meldung bei uns eingegangen ist. Spielende Kinder – weiß der Himmel, was die um diese Uhrzeit zu spielen hatten, ich habe da meinen Verdacht. Na jedenfalls, diese Kinder haben eine Leiche gefunden. Weiblich, jung. Und«, Ruge zögert, wird wieder rot, »na ja, nackt.«

»Nackt bei minus 20 Grad. Ist sie deshalb gestorben?«

Die Gesichtsfarbe des Schupos wird noch dunkler. »Wissen wir noch nicht«, murmelt er.

Eine junge Frau, nackt und tot – Stave beschleicht das Gefühl, dass er es mit einem hässlichen Verbrechen zu tun bekommen wird. Seit er von Kripochef Breuer vor einigen Monaten zum Leiter einer kleinen Ermittlungsgruppe ernannt wurde, hat Stave an mehreren Mordfällen gearbeitet. Aber dies hier hört sich anders an als die üblichen Messerstechereien unter Schwarzhändlern oder Eifersuchtsdramen um Kriegsheimkehrer.

Ruge biegt links in die Straße Landwehr ein. Schließlich hält er vor den Trümmern der quer laufenden Bahnlinie.

Stave steigt aus und blickt sich um. Ihn fröstelt. »Das Marienkrankenhaus ist nicht weit«, sagt er. »Die müssen ein Telefon haben. Da werden Sie Meldung erstatten, nachdem Sie mich zum Fundort geführt haben.«

Ruge schlägt die Hacken zusammen. Eine junge Frau, die mit einem Handkarren einen zerfetzten Baumstumpf hinter sich her zieht, starrt die beiden misstrauisch an. Stave sieht, dass ihre Finger vor Kälte angeschwollen sind. Als sie seinen Blick bemerkt, packt sie den Karren und zieht ihn hastig davon.

Stave und Ruge klettern über die Bahngleise: Schotter, die Steine vom Eis zu großen Klumpen verklebt. Zerbombte Schienen wie bizarre Skulpturen. Dahinter die Baustraße, zu erahnen allenfalls als Begrenzungslinie von ausgeglühten, dachlosen Mietskasernen, deren schwarze Wände sich Hunderte Meter weit erstrecken. Noch immer, nach so vielen Monaten, stinkt es bitter nach verbranntem Holz und Stoff.

Zwei Schupos, die vor Kälte mit den Füßen stampfen und die Hände zusammenschlagen, stehen vor einer schiefen Mauer, drei Stockwerke hoch, die aussieht, als könne sie beim leisesten Husten einstürzen und die Polizisten erschlagen.

Stave ruft nicht, hebt nur die Hand zum Gruß. Vorsichtig steigt er durch den Schutt. Immerhin muss er sich hier nicht bemühen, sein Hinken zu überspielen. Kein gerader Schritt möglich, nirgends.

Einer der beiden Schupos grüßt mit der Rechten am Tschako, deutet mit der Linken zur Seite. »Die Tote liegt vor der Wand.«

Staves Blick folgt der ausgestreckten Hand des Beamten. »Hässliche Sache«, murmelt er.

Die namenlose Tote

Eine junge Frau, Stave schätzt sie auf achtzehn bis zweiundzwanzig Jahre, 1,60 Meter groß, mittelblonde, halblange Haare, blau die ins Nichts starrenden Augen.

»Hübsch«, murmelt Ruge, der neben ihn getreten ist.

Stave starrt den Schupo an, bis der sich windet. Dann blickt der Kripo-Mann wieder auf die Tote. Sinnlos, den jungen Kollegen in Verlegenheit zu bringen, der will nur seine Angst verbergen.

»Gehen Sie zum Krankenhaus und erstatten Sie Meldung«, befiehlt er. Dann beugt sich Stave zur Toten hinunter, darauf bedacht, ihren Körper nicht zu berühren und auch den Schutt nicht, auf dem sie liegt wie auf einem Bett.

Wie inszeniert, fällt Stave unwillkürlich ein. Gleichzeitig gut versteckt, verborgen von der Mauer und einigen höheren Ziegelhaufen ringsum. Ihr Körper, soweit er ihn betrachten kann, ist fast unverletzt, nicht einmal Kratzer oder Blutergüsse, die Hände makellos. Sie hat sich nicht gewehrt, denkt er. Und: Keine Arbeitshände. Keine Trümmerfrau, niemand, der viel geputzt hat, keine Arbeiterin.

Langsam wandert sein Blick an ihrem Körper hinunter. Flacher Bauch, rechts ein Strich: eine alte, gut verheilte Blinddarmoperation. Stave holt seinen Block heraus und macht sich eine Notiz. Nur am Hals der Toten findet er eine Spur, eine dunkelrote Linie auf blasser Haut, kaum drei Millimeter dünn, in Höhe des Kehlkopfes einmal rund um den Hals, links stärker ausgeprägt als rechts.

»Sieht so aus, als sei sie erwürgt worden. Vielleicht mit einer dünnen Schlinge«, sagt Stave zu den beiden fröstelnden Schupos, während er die Beobachtung in seinen Block kritzelt. »Sehen Sie, ob Sie in der Umgebung Draht finden. Oder ein Kabel.«

Die beiden stöbern missmutig zwischen den Ruinen herum. So ist Stave sie vorläufig los. Er glaubt selbst nicht, dass die beiden Beamten etwas finden werden. Dunkle Striche im Raureif, die leider teilweise von den unaufmerksamen Polizisten zertrampelt wurden, deuten auf Schleifspuren hin. Wahrscheinlich hat der Täter sein Opfer hierhin gezogen, nachdem er die Frau anderswo ermordet hatte.

»Schöne Leiche«, sagt jemand in seinem Rücken. Die rasselnde Stimme eines Kettenrauchers. Stave muss sich nicht umdrehen, um zu wissen, wer da hinter ihn getreten ist.

»Guten Morgen, Doktor Czrisini«, sagt er und erhebt sich. »Gut, dass Sie so schnell gekommen sind.«

Doktor Alfred Czrisini – klein, kahl, die dunklen Augen groß hinter einer runden Hornbrille – macht sich nicht die Mühe, zum Sprechen die glimmende britische Woodbine-Zigarette aus seinem bläulichen Mund zu nehmen. »Wie es aussieht, hätte ich mich nicht beeilen müssen«, nuschelt er. »Eine nackte Tote bei dieser Kälte – da hätte ich mir auch ein paar Stunden Zeit lassen können.«

»Tiefgefroren.«

»Besser als im Leichenschauhaus. Wird nicht einfach sein, den exakten Todeszeitpunkt festzustellen. Seit sechs Wochen war es an keinem Tag wärmer als minus 10 Grad. Die könnte hier theoretisch schon tagelang liegen und immer noch taufrisch aussehen.«

»Taufrisch würde ich ihren Zustand nicht gerade nennen«, brummt Stave. Er sieht sich um. Die Baustraße war einst Teil eines Kleine-Leute-Viertels: Dutzende Blocks braunroter, backsteinverkleideter Mietshäuser, fünf Geschosse, gepflegt, Bäume auf der Straße. Arbeiter, Handwerker, Händler lebten hier. Alles zerstört. Stave blickt über zersprengte Mauern, die Stümpfe abgebrannter Bäume, Schuttberge. Nur am Ende der Straße steht rechts das gelb verputzte Mathias-Stift, ein Kinderheim, wie durch ein Wunder vom Bombenregen verschont.

»Zwei Buben aus dem Stift haben die Tote entdeckt«, sagt einer der Schupos, der wieder neugierig nähergetreten ist und den Blick des Kripo-Beamten richtig gedeutet hat.

Stave nickt. »Gut, ich werde sie gleich befragen. Und damit, Herr Doktor, hat sich die Frage nach dem Todeszeitpunkt schon vereinfacht. Läge diese Frau hier schon lange, dann wäre sie von den Bengels aus dem Stift längst entdeckt worden.«

Er mag den Pathologen, der wegen seines Namens – »Tschisini« ausgesprochen – endlose Witzeleien über sich ergehen lassen muss. In der Zeit nach 1933 zumeist Anspielungen auf seinen polnischen Namen und irgendwie bedrohlich. Czrisini arbeitet schnell, ein Junggeselle, dessen ganze Leidenschaft Leichen und Zigaretten gilt.

»Denken Sie das Gleiche wie ich?«, fragt ihn der Arzt.

»Vergewaltigung?«

Czrisini nickt. »Jung, hübsch, nackt und tot. Das würde passen.«

Stave wiegt den Kopf hin und her. »Bei minus 20 Grad hat auch der verrückteste Vergewaltiger Angst um sein bestes Stück. Andererseits kann man ihr das auch in einer warmen Stube angetan haben.« Er deutet auf die Schleifspuren. »Sie ist bloß hier abgelegt worden.«

»Liegt sie erst einmal bei mir auf dem Seziertisch, werden wir bald mehr herausfinden«, erwidert der Pathologe fröhlich.

»Nur ihren Namen nicht«, murmelt Stave. Was, wenn der Täter sein Opfer nicht aus mörderischer Lust entkleidet hat? Sondern aus kühler Berechnung? Eine Nackte inmitten eines Ruinenfeldes, in dem seit Jahren niemand mehr wohnt. »Wird nicht so einfach sein, sie zu identifizieren«, verkündet er.

Kurze Zeit später trifft der Spezialist der Spurensicherung ein, der zugleich Polizeifotograf ist – der Kripo fehlen gut ausgebildete Leute. Stave deutet auf die Schleifspuren. Der Fotograf beugt sich über die Leiche. Als sein Blitzlicht zündet, hat Stave plötzlich das Mündungsfeuer der Flak am Stadtrand vor Augen und die grellen, an Fallschirmen langsam zu Boden segelnden Fackeln, mit denen die ersten britischen Flugzeuge den nachfolgenden Bombern die Ziele markierten. Er presst kurz die Lider zusammen.

»Vergessen Sie nicht die Schleifspuren«, ordnet er nochmals an. Der Fotograf nickt stumm – Staves Befehl klang unfreundlicher, als er ihn gemeint hat.

Anschließend lässt er sich die beiden Jungen bringen, die die Tote gefunden haben: Keine zehn Jahre alt, mager, blass, blaue Lippen, zitternd, wohl nicht nur vor Kälte. Waisenkinder. Stave überlegt einen Moment lang, ob er den strengen Polizisten spielen soll, entscheidet sich aber rasch dagegen. Er beugt sich zu ihnen hinunter, fragt freundlich nach den Namen, verspricht dann, dass sie wegen ihres frühmorgendlichen Ausflugs keine Strafe zu befürchten hätten.

Fünf Minuten später weiß er alles, was es in diesem Fall zu wissen gibt: Die beiden Buben sind noch vor dem Frühstück ausgebüxt, um in den Trümmern nach MG-Patronen und den glänzenden Hülsen von Flakgeschossen zu suchen. Fast jeden Tag verstümmeln sich irgendwo in der Stadt Kinder, die zwischen den Ruinen scharfe Munition finden. Doch es ist sinnlos, die beiden Jungen zu ermahnen. Stave kann sich noch ganz gut an seine eigene Kindheit erinnern. Hätte er nicht genauso fasziniert nach diesen Relikten gesucht? Und hätte es etwas genützt, wenn ihm ein Erwachsener dieses Abenteuer verboten hätte? Zuletzt fragt er die beiden Jungen, ob sie häufig auf die Suche gehen. Verlegenes Schweigen, dann zögerliches Kopfschütteln: Nein, das sei ihr erster Streich gewesen. Auch keines der anderen Kinder habe zuvor Derartiges wagen können – das Mathias-Stift wurde erst vor wenigen Tagen wieder bezogen. Stave notiert sich die Namen der Buben, dann schickt er sie ins Stift zurück.

»Verdammtes Pech, dass die so neu hier sind«, murmelt er in Richtung des Pathologen, der beobachtet, wie zwei Leichenträger die Tote auf eine Bahre heben.

»Also haben Sie doch keine Zeugen dafür, dass die Unbekannte erst letzte Nacht hier abgelegt worden ist. Sie sind auf meine Ergebnisse angewiesen.« Doktor Czrisini stellt dies nüchtern fest, trotzdem klingt er dabei irgendwie triumphierend.

Stave wirft dem Kollegen der Spurensicherung einen fragenden Blick zu. Der schleicht in immer größer werdenden Kreisen um den Fundort.

»Nichts«, ruft ihm der Fotograf und Spurensicherer zu. »Kein Kleidungsstück, keine Zigarettenkippe, keine Fuß- oder Fingerabdrücke und schon gar kein Draht. Aber wir kämmen noch das ganze Ruinenfeld durch.«

In diesem Moment stolpert Ruge über die Schuttberge, ein wenig außer Atem. »Diese verdammten Ärzte im Marienkrankenhaus …«, beginnt er.

»Ersparen Sie es mir«, sagt Stave und winkt müde ab. »Haben Sie mit der Zentrale telefoniert oder nicht?«

»Ja, nach einigen Diskussionen.« Die Stimme des jungen Polizisten klingt noch immer empört.

»Und?«

Der Schupo schaut ihn einen Moment lang erstaunt an, dann begreift er. »Wir, das heißt, Sie sollen sich, sobald Sie mit der Arbeit hier fertig sind, sofort bei Herrn Breuer melden.«

Stave schweigt. Carl »Cuddel« Breuer ist seit einem Jahr Leiter der Kriminalpolizei. Sechsundvierzig Jahre alt war er, als ihn die Briten einsetzten, reichlich jung für diesen Posten. Er galt in der braunen Zeit als Sozialdemokrat, verschwand 1933 sogar für einige Zeit im KZ Fuhlsbüttel, danach ließ man ihn in Ruhe. Ein Mann, der seinen Laden von Nazis säubert und zugleich die Beamten auf Präzision und Professionalität einschwört. Stave fragt sich, warum ihn Cuddel gleich zu Beginn der Ermittlungsarbeiten einbestellt, das sieht ihm nicht ähnlich. Muss was Großes sein, denkt er. Aber was? Laut sagt er nur zu Ruge: »Wir sehen uns noch etwas um. Danach fahren wir zur Zentrale.«

Der Oberinspektor dreht sich langsam um die eigene Achse: Ruinen, wohin er auch blickt. Nur jenseits der Bahnlinie, etliche hundert Meter entfernt, im grauen Morgenlicht kaum auszumachen, ein Würfel aus Beton. Der Hochbunker von Eilbek. Ein sieben Geschosse hoher Monolith, die Wände bis zu sechs Meter dick. Fast sieben Dutzend Hochbunker haben die Nazis im Krieg erbauen lassen, für Zehntausende der einzige Schutz vor dem Bombenhagel. Nun sind die fast unzerstörbaren, fensterlosen Festungen Notunterkünfte für Ausgebombte, Flüchtlinge, Gestrandete. Niemand weiß genau, wie viele Menschen dort hausen, in stickiger Luft, in Enge, Lärm, Schmutz und Gestank.

»Aus den Fenstern wird niemand was beobachtet haben, das ist mal sicher«, brummt der Schupo, als er dem Blick Staves mit den Augen folgt.

»Wenn ich in dieser Grotte wohnen müsste«, sagt der Oberinspektor, »dann würde ich mich dort nur zum Schlafen verkriechen und den Rest der Zeit frische Luft atmen, selbst bei diesen Temperaturen.«

Ruge ahnt, was der Oberinspektor als Nächstes vorhat. »Wir können bis fast vor den Klotz fahren«, antwortet er wenig begeistert.

»Gut«, sagt Stave. »Hören wir uns bei den Bunkermenschen um.«

Zurück durch die Trümmer und über die Bahngleise, dann im Wagen vorsichtig die verwüsteten Straßen entlangfahrend: Sie brauchen beinahe eine Viertelstunde, bis sie über das Kopfstein der winzigen Von-Hein-Straße rumpeln, die von dem Klotz des Bunkers fast erdrückt zu werden scheint. Stave steigt aus dem Mercedes und sieht sich um. Ruinen neben dem Hochbunker, direkt gegenüber zwei wundersamerweise unzerstörte, barackengroße Autowerkstätten, verrammelt, da es keine Autos zu reparieren gibt. Hinter den Werkstätten ein schmaler Park an einem Bach, die meisten Bäume bis auf den Stumpf verbrannt oder von Holzsammlern kleingeschlagen.

Der Nordostwind bläst ihm ins Gesicht. Ein Einbeiniger wankt auf Krücken gegen den Sturm an, verschwindet im Bunker. Stave folgt ihm. Der Zugang ist ein gemauerter Verschlag neben dem Betonquader, an der Stahltür flattert noch die Verordnung zum Verhalten bei Fliegeralarm. Innen eine Stahlwendeltreppe und Luft wie in einem U-Boot: schwer, abgestanden, feucht. Wasser rinnt am rissigen Beton herunter. Der Gestank nach Schweiß, Desinfektionsmitteln, feuchter Kleidung, Kohl, Schimmel.

Die Treppe führt ins Innere des Hochbunkers. Die erste Etage, eine mit weißer Ölfarbe unsauber hingepinselte römische Ziffer markiert an einer Stahltür das erste Geschoss. Stave betrachtet den zittrigen Strich, die blasige, zerlaufene Farbe, die im Licht einer nackten 15-Watt-Birne wie vernarbtes Gewebe aussieht. Dahinter Wände aus ungehobelten Brettern, die das Geschoss in ein Labyrinth verwandelt haben. So teilen sich die Bewohner winzige »Wohnungen« ab, Verschläge, in denen vier, sechs oder noch mehr Menschen hausen. Jacken und feuchte Regenumhänge baumeln an Nägeln. Irgendwo schreit erbärmlich ein Kind.

»Ich übernehme diese Etage, Sie die da drüber«, befiehlt Stave dem Schupo. »Und dann immer abwechselnd, bis wir den ganzen Hochbunker durchgekämmt haben. Fragen Sie jeden, ob er rund um den Fundort etwas beobachtet hat. Es mag noch so trivial gewesen sein. Und fragen Sie nicht nur nach den letzten vierundzwanzig Stunden, sondern auch nach den Tagen davor. Kann sein, dass die Tote dort schon länger liegt. Wenn sich jemand verweigert, treten Sie energisch auf. Bunkermenschen reden nicht gern und schon gar nicht mit der Polizei.«

Ruge grinst, schlägt die Hacken zusammen und fährt mit der Rechten zu seinem Schlagstock. Stave entgeht das nicht, doch er schweigt. Er ist zu müde, um Kindermädchen für übereifrige Schupos zu spielen.

Stave klopft an die Bretter des ersten Verschlages. Keine Antwort. Er schiebt ein dreckiges Tuch beiseite, das den Zugang zum Verschlag verdeckt. Eine Wehrmachtskrankenbahre als Bett, aufgebockt auf alten Obstkisten; schmutzige Kleidung auf dem Boden, ein Abiturzeugnis angepinnt an der Wand, das Papier gelb und rissig. Auf dem Laken der Bahre liegt ein augemergelter junger Mann und schnarcht. Stave rüttelt an seiner Schulter. Der Junge stöhnt und dreht sich zur Wand, öffnet aber nicht die Augen. Er stinkt nach selbstgebranntem Schnaps. Der Kerl ist betrunken. Er versetzt ihm mit der Rechten einen harten Stoß an der Schulter. Der Schläfer grunzt nur. Sinnlos.

Stave geht zum nächsten Verschlag: leer. Dann der nächste. Er klopft an das raue Holz.

»Wenn du pennen willst, geh nach nebenan!« Eine heisere Stimme. »Da ist niemand mehr. Aber lass dich vom Verwalter nicht erwischen und mach keinen Lärm.«

»Kriminalpolizei«, antwortet Stave und hebt einen alten, schweren Mantel an, der den Eingang verdeckt. Ölzeug, vielleicht von einem Seemann.

An der gegenüberliegenden Wand steht ein verrostetes Etagenbett ohne Matratzen. Auf dem unteren Bett liegt eine zusammengeknäulte Decke, am Kopfende ein alter Rucksack als Kissen. Dem oberen Bett fehlt das eiserne Netz, auf das man normalerweise die Matratze legt. Ein paar quer über den Rahmen gelegte Bretter bilden eine Art Regal, auf dem ein Seesack liegt, so randvoll gepackt, dass Stave befürchtet, die Hölzer unter ihm könnten knicken und ihre Ladung auf das Bett krachen lassen. Vor der Schlafstatt steht ein uralter Wohnzimmersessel, das Muster des Stoffes zu undefinierbaren Farben zerschlissen, die Rückseite verrußt: ein Beutestück aus einem zerbombten Haus.

Auf dem Sessel hockt ein Mann, den der Oberinspektor auf den ersten Blick für siebzig Jahre gehalten hätte. Dann sieht er genauer hin: fünfzig vielleicht. Eisgraues Haar, seit Wochen ungewaschen. Fettige Strähnen, die bis auf die Schultern reichen. Ein weißer Schuppenkranz auf den Schultern, leuchtend wie Schnee auf dem dunkelblauen Marinepullover aus schwerer Wolle. Dunkle Hose, große, eisenbeschlagene Arbeitsstiefel. Ein Mann, der in seiner Jugend groß und stark gewesen sein muss: Seine Muskeln, noch immer imposant, liegen halb verborgen unter einer erschlafften, faltigen Haut. Blaue Augen, buschige Brauen, eine fingerbreite Narbe, die sich vom linken Mundwinkel über die Wange bis zum Hals unter dem Ohr hin zieht. Blaue Tätowierungen auf den trotz der Kälte hochgekrempelten Unterarmen: Ein Anker, eine nackte Frau, ein Wort, das Stave nicht entziffern kann. Gestrandeter Seemann, denkt der Oberinspektor. Er tastet zum Griff seiner Pistole, während er gleichzeitig mit der Linken den gelben Polizeiausweis zückt.

»Anton Thumann«, sagt der Mann, steht aber nicht auf. Im Verschlag gibt es keine weitere Sitzgelegenheit als das untere Etagenbett, auf das sich Stave aber nicht zwängen will. Also erzählt er stehend, dass sie in der Nähe eine nackte Frauenleiche gefunden haben.

»Und was hat das mit mir zu tun?«, unterbricht ihn Thumann, noch bevor er fertig ist.

»Waren Sie in den letzten Tagen in der Baustraße? Oder beim Bahnhof Landwehr? Ist Ihnen irgendetwas Verdächtiges aufgefallen?«

»Ich gehe hier fast nie raus. Zu kalt. Ich mache in diesem Bunker so eine Art Winterschlaf. Wenn der Hafen nicht mehr zugefroren ist und uns die Engländer endlich wieder richtige Schifffahrt erlauben, dann bin ich hier weg. Bis dahin hocke ich in diesem Loch und versuche mich möglichst wenig zu bewegen.«

Stave beschreibt die Tote, so gut er kann. »Kennen Sie diese Frau?«

Thumann lacht dreckig. »Ich kenne viele junge, nackte Frauen. Billige und nicht so billige. Könnte jede von denen sein, so wie Sie die beschrieben haben.«

Der Oberinspektor atmet tief durch, trotz der muffigen Luft. »Wohnt hier vielleicht eine junge Dame, auf die eine solche Beschreibung passen würde? Mittelblonde, halblange Haare, blaue Augen, etwa zwanzig Jahre alt?«

Lachen, dann Kopfschütteln. »Woher soll ich das wissen? Bin froh, wenn ich von den anderen nichts mitbekomme. Zwei Verschläge weiter liegt dieses junge Wrack, sternhagelvoll Tag und Nacht. Nebenan hat sich einer mit Tuberkulose zu Tode gehustet. Danach ist vor ein paar Wochen eine Familie aufgekreuzt, niemand von denen sprach ein Wort Deutsch. Franzosen wahrscheinlich. Vielleicht DPs aus einem Lager. Hab keinen Satz mit denen gewechselt, aber gehört, wie sie untereinander tuschelten. Die Wände sind ja dünn. Irgendwann kam einer ihrer Kollegen hier vorbei und hat die Bande abgeholt. Jetzt ist der Verschlag wieder frei, irgendjemand wird sich dort verkriechen, mir ist das egal. Jede Nacht schreit eine Frau, als würde man ihr die Hand abhacken. Grauenhaft. Aber glauben Sie, ich wüsste, wer so herumbrüllt? Oder aus welchem Verschlag die Schreie kommen? Keine Ahnung. Und auf den Etagen über mir war ich noch kein einziges Mal. Wozu auch? Ich kenne hier niemanden und schnüffle niemandem hinterher, nicht mal einer jungen, blonden Maus. Will bloß meine Ruhe haben. Ist hier schwer genug zu bekommen.«

»Danke für Ihre Auskunft«, erwidert Stave und tritt grußlos aus dem Verschlag.

Eine Stunde später trifft er sich vor dem Eingang zum Hochbunker mit Schupo Ruge wieder. Stave schnappt nach Luft.

»Hätte nie geglaubt, dass ich mich jemals über diesen verdammten sibirischen Sturm freuen würde«, sagt er und schüttelt den Mantel aus. Er hat das Gefühl, als würde der Gestank nach Hoffnungslosigkeit und Herzensträgheit in seinen Kleidern hängen.

Auch Ruge ist blass, ein wenig verschwitzt, müde. »Bunkermenschen«, keucht er, als würde das alles erklären.

Der Oberinspektor nickt. In den Betonhöhlen stranden die Ausgestoßenen, die Antriebslosen, die Einsamen. Jeden, der noch ein wenig Kraft in sich spürt, treibt es nach einiger Zeit wieder hinaus. Der baut sich eher aus Pappe und Schutt einen Verschlag irgendwo zwischen Ruinen, als sich unter sechs Meter Stahlbeton lebendig begraben zu lassen.

»Einen Alten habe ich gerade dabei erwischt«, berichtet Stave, »wie er im Verschlag seines schlafenden Nachbarn zwei Papierbilder von der Wand gerissen hat. Kinderzeichnungen. Als ich den Alten zur Rede stellte, sagte der nur, dass er alles hasst, was diesen Bunker schöner macht. Verrückt.«

»Niemand will irgendetwas in den Ruinen gegenüber gesehen haben«, meldet Ruge. »Niemand will dort in letzter Zeit hingegangen sein. Niemand hat irgendetwas Verdächtiges bemerkt. Niemand kennt eine junge Frau. Am liebsten würde ich die ganze Bande verhaften.«

»Die sitzen doch schon im Gefängnis«, entgegnet Stave müde und klopft gegen die Betonwand. »Mir hat auch niemand etwas Vernünftiges sagen können. Ich glaube ihnen. Hier kriecht tatsächlich kaum noch jemand vor die Tür.«

»Sieht also so aus, als hätten wir keinen Zeugen, Herr Oberinspektor.«

Inzwischen ist es später Vormittag. Stave ist hungrig und müde. Gut, denkt er, dass ich mal nicht zu Fuß gehen muss.

Ruge lenkt den Mercedes an Schutthügeln vorbei, der schwere Wagen rumpelt durch Schlaglöcher. Stave muss sich festhalten, um nicht vom Sitz zu rutschen.

»Entschuldigung«, nuschelt der junge Schupo, der sich verbissen aufs Fahren konzentriert. »Gleich wird es besser.«

Tatsächlich sind in Altstadt und Neustadt einige große Straßen schon freigeräumt. Stave lehnt sich zurück und schließt die Augen, bis sie vor der Kripo-Zentrale anhalten.

Das Hochhaus am Karl-Muck-Platz ist ein elfgeschossiger Backsteinkoloss aus den zwanziger Jahren, braunrote Steine mit weißen Fenstern, modern, schnörkellos. Früher residierte hier eine Versicherung, nach dem Krieg zog die Kripo ein. Die meisten Beamten haben für den Klotz nicht viel übrig, wenn sie es auch schätzen, dass er fast unbeschädigt ist. Dicht schließende Fenster sind selten in Hamburg. Stave jedoch mag das Hochhaus, weil es das genaue Gegenteil der wulstigen, neobarocken, verspielten Konzerthalle ist, die am Platz gegenüber aufragt – so als wolle die Kripo der frivolen Leichtigkeit der Kunst die Strenge und Korrektheit der Polizei entgegensetzen.

Mit einem knappen Gruß verabschiedet sich Stave von Ruge und steigt aus dem Mercedes. Zehn wuchtige, eckige Pfeiler tragen eine Art Vorhalle des Hochhauses. Blau, weiß und gelb lasierte Kacheln in der Decke formen bunte Muster, versteckte Farbkleckse in einer grauen Stadt. Auch Wappen und allegorische Keramikfiguren schmücken die Halle, dazu ein drei Meter hoher Bronzeelefant, den selbst die Materialbeschaffer der Nazis im Weltkrieg nicht einzuschmelzen wagten und den die Krimsches »Anton« nennen. Über dem Haupteingang trägt eine junge Frau eine in Gold, Braun, Blau und Weiß leuchtende Kogge. »Seemannsbraut« nennen manche Beamte diese Figur oder, wenn sie schlecht gelaunt sind, »Hafenhure«.

Stave hat keine Ahnung, was die Figur ursprünglich symbolisieren sollte. Er tritt durch die zweiflügelige Tür zur Kripo-Zentrale, die so hoch ist, dass ein Segelschiff hindurchgleiten könnte. Dann hinkt er die Treppen hoch, auf denen unzählige kleine Fliesen braun-rot-weißschwarze Linienmuster formen. Jedes Mal muss er an eine riesige Schlangenhaut denken, wenn er darauf tritt.

Endlich ist er da, sechster Stock, Zimmer 602.

Im Vorzimmer, halb verborgen hinter einer riesigen schwarzen Schreibmaschine, sitzt Erna Berg auf einem Stuhl, der aussieht, als würde er jeden Moment kollabieren. Stave grüßt seine Sekretärin und ringt sich dabei ein Lächeln ab. Keinen Grund, schlechte Laune zu verbreiten, nur weil er heute Morgen eine nackte Tote gesehen hat. Er mag Erna Berg. Blond, fröhliche, blaue Augen, immer optimistisch, etwas mollig. Weiß der Himmel, wie sie trotz der Hungerrationen auf Lebensmittelkarten so viel Fleisch auf den Rippen behält.

Sie ist voller Energie, obwohl sie Kriegerwitwe ist: Hat 1939 noch schnell einen zur Front ziehenden Soldaten geheiratet, der Sohn kam ein Jahr später. Der Mann gilt seit 1945 als vermisst, heimkehrende Kameraden haben ihr erzählt, dass er gefallen sei. Bestätigt ist das aber nicht, also gibt es keine Witwenrente. Stave weiß, dass sie sich und ihren Sohn nicht nur mit dem kargen Gehalt als Sekretärin bei der Kripo durchbringt, sondern auch hin und wieder Schwarzmarktgeschäfte macht. Er drückt dabei ein Auge zu.

»Sie sollen zum Chef«, ruft sie und zwinkert. »Hab von der Toten gehört«, setzt sie leiser hinzu.

»Das spricht sich ja schnell herum«, brummt Stave. »Legen Sie schon einmal eine neue Akte an. ›Unbekannte Tote, Baustraße.‹ Den Bericht schreibe ich später. Und beantragen Sie eine Leichenöffnung bei der Staatsanwaltschaft. Doktor Czrisini weiß Bescheid.«

Seine Sekretärin verdreht die Augen. »Den müssen Sie mir buchstabieren«, stöhnt sie. »Diesen Namen werde ich mir niemals merken.«

Stave schreibt den Namen des Pathologen auf ein Blatt Papier, sucht auf dem winzigen Schreibtisch vergebens nach einer freien Stelle und heftet den Zettel schließlich an die Wand hinter Bergs Schreibtisch. »Ich bin beim Chef«, sagt er und schließt die Tür hinter sich.

Ein paar Augenblicke später steht er im Büro des Leiters der Hamburger Kriminalpolizei. Cuddel Breuer ist mittelgroß, hat ein rundes Gesicht, gelichtetes Haar, einen gemütlichen Blick. Man könnte ihn für den freundlichen, biederen Schalterbeamten einer Postfiliale in der Provinz halten. Und viele Polizisten ebenso wie Verbrecher tun dies auch – bei der ersten Begegnung.

Breuers Augen sind flink, seine Schultern viel zu breit für einen bloß gemütlichen Menschen. Stave bewundert seinen Chef, doch er ist auch auf der Hut.

»Setzen Sie sich, Stave«, sagt Breuer und deutet auf einen hölzernen Besucherstuhl. Beide haben noch ihre Wintermäntel an, die Temperatur im Büro liegt bei zehn Grad, höchstens.

»Kaffee?«, fragt der Kripochef. »Bloß Ersatzzeug, aber immerhin heiß.«

Stave nickt dankbar und wärmt seine Hände an der Emailletasse.

Breuer deutet auf ein Papier in einer Ablage seines Schreibtischs. »Die Zahlen des letzten Jahres«, sagt er. »1946 sind in Hamburg 29 Morde verübt worden, 629 Raubüberfälle, 21696 schwere Diebstähle und 61033 einfache Diebstähle. Genauer: Das sind die Verbrechen, die uns angezeigt worden sind. Dazu Vergewaltigungen, Körperverletzungen, Schmuggel aller Art. ›Kriminalität des Elends‹ nennt der Herr Staatsanwalt das, und ich befürchte, dass er recht hat. Außerdem befürchte ich, dass 1947 kein besseres Jahr werden wird, zumal in diesem Winter.«

Stave nickt. Vor ein paar Tagen hat eine Streife zwei DPs mit schwarz geschlachtetem Fleisch erwischt. Die beiden Täter, ehemalige polnische Zwangsarbeiter, zogen Pistolen und schossen sofort. Ein Schupo starb, der andere liegt noch immer schwer verletzt im Krankenhaus. Sie haben später beide verhaftet, ein britisches Militärgericht hat die DPs zum Tode verurteilt. Sie warten jetzt auf ihre Hinrichtung.

»Eine erwürgte, nackte Frau hatten wir bislang aber noch nicht«, fährt Breuer fort. Er klingt noch immer freundlich. »Das wird sich herumsprechen – als wenn wir nicht schon genug Sorgen hätten! Vereiste Wohnungen, kaum Strom, Hungerrationen. Kohlezüge, die in Schneewehen irgendwo blockiert sind. Oder die, wenn sie durchkommen, geplündert werden. Britische Offiziere, die die besten Villen der Stadt requiriert haben und Schilder aufstellen: ›Für Deutsche kein Zutritt!‹ Jeden Tag neue Flüchtlinge in der Stadt, aus der Ostzone, aus DP-Lagern. Entlassene Kriegsgefangene. Wo sollen wir die alle noch unterbringen? Wir können keine Häuser wieder aufbauen, bei dieser Kälte kann man nicht einmal Mörtel anrühren. Die Menschen hier sind zornig.«

»Und da sie ihre Wut an niemandem sonst auslassen können, werden sie uns die Hölle heiß machen, wenn wir den Mörder nicht rasch finden«, wirft Stave ein.

»Sie verstehen mich.« Breuer nickt zufrieden.

Stave skizziert seinem Chef kurz den Fall: die junge, unbekannte Tote, die Ruinen, die spärlichen Zeugenaussagen.

»Doktor Czrisini wird die Leiche öffnen?«, fragt Breuer.

»Noch heute.«

Breuer lehnt sich zurück und verschränkt die Arme hinter dem Kopf. Minutenlang schweigt er, doch Stave hat gelernt, nicht ungeduldig zu werden. Schließlich nickt der Kripochef, zündet sich eine Lucky Strike an und saugt genüsslich deren Rauch ein.

»In Hamburg arbeiten 700 Krimsches«, sagt er schließlich und lässt dabei den Qualm zwischen den Lippen herausquellen. »Die meisten sind Anfänger, viele weitere Kollegen sind politisch vorbelastet.«

Stave schweigt. Die meisten Polizisten standen schon vor 1933 ziemlich weit rechts, später arbeiteten allein bei der Hamburger Gestapo rund 200 Mann. Als die Briten kamen, haben sie mehr als die Hälfte aller höheren Beamten sofort entlassen. Ohne diese politische Säuberung hätte Breuer niemals den Chefsessel bekommen – und auch er, Stave, hätte keine Karriere mehr gemacht. So etwas macht einen bei den nicht entlassenen, älteren Kollegen, die der Aktion der Briten oft nur haarscharf entgangen waren, nicht gerade beliebt.