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Alfred Neven DuMont

MEIN LEBEN

Die Jahre 1927 bis 1968

 

Vorwort

Jetzt, alt geworden, schlafe ich mehr als jemals zuvor. So wie zu Beginn meines Lebens. Ich denke, das ist unser Kreislauf.

Lange zu schlafen ist eine Gnade. Aber die Träume, die mich Nacht für Nacht verfolgen, erscheinen mir wie ein Vorgriff auf die Hölle, deren Wächter sicher schon ein Auge auf mich geworfen haben: Ich werde verfolgt, ich renne um mein Leben, ich werde gewürgt und mit Steinen beworfen, lebendig im Sand begraben, im Dunkeln von Schlangen umringt. Ich lasse keine Folter aus. Warum diese Träume? Ich meine, sie sind ein Ausgleich für das Glück, mit dem ich am Tag in hohem Maße beschenkt werde.

Plötzlich kam der Urknall. Ich erinnere mich genau: Mit einem Donnerschlag spuckte mein Kopf, der zu zerbersten schien, Hunderte und Aberhunderte Papierfetzen aus, jeder eng bekritzelt. Eine Botschaft, eine endlose »message« über mein endloses Leben, auf unendlich vielen Zetteln verteilt. Als ich durch den Urknall erschreckt aufwachte, suchte ich hektisch die vielen Zettel, die noch immer um mich herumschwirrten, aufzufangen. Ich habe mehrere der Papierfetzen zusammengetragen, einige im Dunst des Vergessens verloren. Das war die Geburtsstunde dieses Buches. Die Zettel, die mein Leben ausmachen.

Der 30. Januar 1933

Ich erinnere mich und habe den kleinen Jungen vor Augen: Schon früh war er an diesem grauen Wintermorgen unterwegs und warf einen verstohlenen Blick hoch hinauf zu den Wipfeln der kahlen Bäume, auf deren dürren Ästen schwarze Vögel lauerten. Sie verfolgten ihn mit unheimlichem Krächzen und scharfen Schnäbeln bis in den Schlaf. Aber jetzt, an der Hand seiner älteren Schwester Silvia und der von Frau Bröhl, der Köchin, auf der anderen Seite, wusste er sich sicher. Silvia, sieben Jahre alt, hochgewachsen für ihr Alter, eine Besserwisserin mit vollen blonden Haaren, zumeist fest gebunden in zwei dicke Zöpfe, die sie nur gelegentlich auf Wunsch des Vaters löste, war auf dem Weg in die nahe gelegene Volksschule. Noch liefen die drei an den ausladenden Villen der Marienburg, dem Nobelvorort der Stadt, der Bonner Straße entgegen, auf deren gegenüberliegender Seite der mächtige graue Bau der Schule lag. An der Bonner Straße endete die Marienburg; es war eine laute Ausfallstraße der Stadt, deren mörderischem Verkehr die besondere Aufmerksamkeit von Frau Bröhl galt. Jede Minute schossen ein oder zwei der neumodischen Automobile mit hoher Geschwindigkeit vorbei. Die betagte Frau, eher klein, gedrungen, die grauen Haare streng zurückgekämmt und zusammengebunden zu einem festen Dutt, lockerte den Griff ihrer rauen, festen Hände, ebenso kurz wie breit, für keinen Augenblick.

Zum Haushalt gehörten neben Frau Bröhl eine junge Erzieherin, hübsch und jederzeit zu Späßen aufgelegt, und ein Dienstmädchen, das bei der Mutter stets einen kleinen Knicks vollführte und sie respektvoll mit »gnädige Frau« anredete. Bei Frau Bröhl liefen die Fäden des Haushalts unweigerlich zusammen. Aber sie repräsentierte nur die eine Seite der kindlichen Lebenswelt. Der Junge war von klein an gewohnt, sich auf zwei Ebenen zu tummeln, die unabhängig voneinander waren. Während Frau Bröhl den täglichen Ablauf beherrschte, tauchte sie in der anderen Welt nicht auf. Hier war die Mutter die unangefochtene Königin. Stets von geheimnisvollen Düften umgeben und so schön anzuschauen, als wäre sie soeben einem Gemälde ihres Vaters, des Münchner Malerfürsten Franz von Lenbach, entstiegen. Sie nahm ihn in ihre Arme, auch als er schon älter war, legte ihre weiche Wange, die leicht nach Puder roch, an sein Gesicht, und wenn er Schmerzen empfand, küsste sie nachhaltig die Stelle der bösen Ursache, bevor sie diese mit einer geheimnisvollen Salbe bestrich. Sie erzählte die schönsten Märchen mit solcher Inbrunst, dass er sich leichttat, immer tiefer in die Märchenwelt einzutauchen. Unvergesslich ihre Hand, die über seine Stirn strich und ihm so vor dem Gute- Nacht-Kuss, wenn er frisch gebadet in seinem Bett lag, alle bösen Gedanken vertrieb.

Sie war anders als andere Mütter, die er gelegentlich zu Gesicht bekam. Als Lenbach-Tochter war sie wie eine Prinzessin in einem Palazzo aufgewachsen. Aber die Hofbälle in der Residenz in München waren vorüber, und sie tat sich schwer, in dem wirtschaftlich ausgerichteten Köln Fuß zu fassen, und Vater Kurt, der jeden Abend blass, müde und angestrengt nach Hause kam, war wenig präsent in jenen Jahren, als in Deutschland die Uhren stillstanden.

Es gehörte nicht zu ihren üblichen Aufgaben, aber ab und zu, vor allem wenn das Kindermädchen wieder einmal verschlafen hatte, ließ sich Frau Bröhl den morgendlichen Weg zur Schule nicht nehmen.

Die kleine Gruppe hatte in der Zwischenzeit die gefürchtete Bonner Straße erreicht und hielt, nach rechts und links spähend, inne. Der im Allgemeinen wenig redseligen Frau Bröhl schien der rechte Augenblick gekommen zu sein, um die beiden Kinder über wichtige Neuigkeiten, die – wie sie meinte – alle angingen, zu informieren:

»Der Führer, unser Führer, Adolf Hitler, übernimmt mit dem heutigen Tag die Macht im Reich. Ich habe es aus einer sicheren Quelle. Er ist einer von uns. Er wird all den Armen, den Arbeitslosen, deren Familien Hunger leiden, Arbeit geben und unserem Volk wieder Achtung draußen bei den anderen, die uns unterdrückt haben, verschaffen. Ein großer Tag! Aber noch haben es nicht alle begriffen.«

Die Bedeutung der Anspielung, mit der sie ihre ungewöhnlich lange Rede beendete, konnte bestenfalls Silvia, die Ältere, erahnen. Der geplagte Vater war gemeint, der in den letzten Tagen besonders sorgenvoll der abendlichen Tafel vorgesessen hatte. Nicht einmal das Kinderfräulein, das alles nicht so ernst nahm, hatte ihn zu erheitern vermocht. Und die Mutter hatte nach dem Austeilen des Essens nach der Hand des Vaters gegriffen und ihn mit ihrem bezaubernden Lächeln aufmunternd angeschaut.

Erst an der Schulpforte überließ Frau Bröhl Silvia ihrem Schicksal. Umringt von einer Mädchenschar zog sie kichernd und lachend in den Schulhof, ohne sich noch einmal umzudrehen. Auf dem Rückweg gab Frau Bröhl dem Drängeln des kleinen Jungen nach und erzählte ihm, nicht zum ersten Mal, von ihrer Heimat. Der kleine Junge kannte das schon von gelegentlichen Besuchen aus dem Kreis ihrer weitgefächerten Familie, die ihr mühevolles Leben auf der harten Erde der Eifel, einem Armenhaus des Reiches, durchzubringen hatte. Mit Interesse musterte der Knabe bei solchen Gelegenheiten die hageren Gestalten, zumeist unrasiert, in billiges, abgetragenes Tuch gehüllt, die an der Hintertür des Hauses verlegen anklopften und schnell in die Küche durchgewunken wurden, wo sie mit ihren schwieligen Händen nach einem rasch zubereiteten Brot mit Speck griffen. Er erfuhr, wie sie ihre Kinder des Nachts bei Wind und Regen hinaus auf die Felder schickten, um Kartoffeln zu klauen. Einmal, im Sommer, war ein Junge in der Küche aufgetaucht, kaum größer als der kleine Junge. Er hatte ein verwaschenes Hemd getragen und unter den ausgefransten Hosen hatten nackte Füße hervorgeschaut. Der kleine Junge hatte den Gast, der aus einem anderen Universum zu kommen schien, entgeistert angesehen. Wohl wissend, dass oben im Kinderzimmer genug andere Schuhe auf ihn warteten, hatte er im Handumdrehen seine Schuhe ausgezogen und sie dem Jungen entgegengestreckt. Die beiden hatten sich gegenseitig keines Blickes gewürdigt. So etwas verbietet der Stolz. Der junge Gast hatte in Ruhe sein Butterbrot aufgegessen, den ihm zugeschobenen Apfel in die Tasche gesteckt, vertraulich am weiten Rock von Frau Bröhl gezogen, einen flüchtigen Kuss erhalten, wortlos nach den Schuhen gegriffen und war schnurstracks hinaus ins Freie gelaufen, wohl ängstlich, dass der seltsame Junge des Hauses sich eines Besseren besinnen könne. Vater wusste nichts von dem Treiben in der Küche: Wie sollte er! Mutter wusste von den gelegentlichen Besuchen, spielte die Ahnungslose, wenn sie einmal dazukam, hatte aber wie immer ein Lächeln auf den Lippen.

Als an jenem Morgen der kleine Junge mit Frau Bröhl wieder zu Hause ankam, stellte sie in der Küche den kleinen Radioapparat an, aus dem Marschmusik schallte und schließlich die alles übertönende Stimme des Führers, wie Frau Bröhl die Anwesenden hochzufrieden informierte. Es war der 30. Januar 1933. Der kleine Junge, das war ich.

Der kleine Lord

Zu jener Zeit war ich nur von Frauen und Mädchen umgeben, männlichen Wesen begegnete ich so gut wie nie. Da war die allbehütende Mutter, deren Liebe zu ihrem Sohn keine Grenzen kannte, da waren die beiden Schwestern, Silvia, die ältere, die den Ton angab, meine Chefin sozusagen, und die jüngere Schwester Majella, weniger präsent, eher in sich gekehrt, stets mit einem zarten Lächeln umgeben. Da war die sagenhafte Frau Bröhl, Zuflucht aller Verlassenen und Traurigen, und die Erzieherin, eine hübsche junge Frau, die aber, wie die Mutter sagte, »Flöhe im Hintern« hatte und nach kurzer Zeit mit hochrotem Kopf und einem Freier an ihrer Seite das Haus für immer verließ, ihr Name war bald allen entfallen. Eine Woche darauf nahm ein älteres weibliches Wesen ihre Stelle ein, ein wenig wehleidig, wir Kinder fanden bald heraus, dass man es leicht zu Tränen reizen konnte. Wenn wir drei zusammenhielten, hatte auch diese neue Gouvernante kein leichtes Leben. Besser erging es dem stämmigen Hausmädchen, an dessen Busen man sich gut ausruhen konnte und das als Einzige im Haus den drei Geschwistern tagtäglich klarmachte, dass sie nichts Besseres seien als sie selbst. Sie – Toni war ihr Name – sollte es auch sein, die mich als Erste den »kleinen Lord« nannte, der sonntags ein Samtjackett trug und wie ein Mädchen lange Strümpfe unter den knappen Hosen: der kleine Lord in der Damenwelt. Begehrt, verzärtelt, umgarnt wie ein Pascha in seinem Harem. Mutter hatte ihren fabelhaften Vater, dessen Palazzo man immer noch besichtigen konnte, viel zu früh verloren und niemals einen Bruder an ihrer Seite erlebt. Sie vergötterte den einzigen Sohn. Nur Silvia, die ältere Schwester, protestierte: So viel Theater, und das alles nur wegen dem kleinen Ding, das bei ihm unten heraushängt – lächerlich! Und sie kommandierte mich weiterhin, von der Mutter kritisch beäugt. Aber es kam die Stunde, in der sie von ihrem selbst errichteten Thron stürzen sollte.

Es geschah auf dem Absatz der Treppe des Hauses, dort, wo sie mit Schwung zu einer Rast auf halber Höhe einlud. Silvia schubste mich nach alter Manier mit einer solchen Kraft die Stufen hinunter, dass ich beinahe gestürzt wäre. Der Mutter, die die Szene durch Zufall miterlebte, stockte der Atem. Sie wollte die Tochter schon verärgert ermahnen, sich zu mäßigen, aber dessen bedurfte es nicht mehr. Mit meinen vielleicht vier oder schon fünf Jahren drehte ich mich zur Schwester um, stellte mich breitbeinig auf, näherte mich mit einem zur Grimasse verzerrten Gesicht, zog vehement mit beiden Händen an ihren Zöpfen und brüllte wie ein wildes Tier. Silvia, die Ahnungslose, wurde von der jähen, völlig unerwarteten Attacke so überrascht, dass sie wie ein angeschossener Unschuldsengel aufschrie, mit Tränen in den Augen. Der Bann war gebrochen. Ich war von ihrer Tyrannei mit einem Schlag befreit. Beglückt nahm die Mutter den Sohn, der sich soeben zum Mann entwickelt hatte, in die Arme, während sie der weinenden Tochter nur ein Taschentuch zuschob. Grobe Ungerechtigkeiten in der Villa an der Goethestraße! Keiner konnte und wollte dem »kleinen Lord« mehr seinen Thron streitig machen. Aber auch ich musste später erleben, dass meine Macht über das Frauenvolk Grenzen hatte.

Als ich als Sechsjähriger in die Schule musste, glaubte der hochgewachsene, ernste Vater trotz seiner beruflichen Belastungen in schwerer Zeit, sich der Erziehung seines Sohnes annehmen zu müssen. Und noch mehr, auch unerwartet Schreckliches sollte sich für mich auftun.

Erinnerungen. Wie weit reichen sie zurück in die frühe Kindheit? Berichte von den Eltern, von den älteren Geschwistern spielen in die eigene Erinnerung hinein, beides ist am Ende des Tages kaum mehr zu trennen. Und so vermischten sich ihre Erinnerungen mit meinen, verblassten mit der Zeit, werden aber erst mit dem Tod endgültig schwinden.

Eines der Schlüsselerlebnisse meiner Kindheit hielt meine stolze Mutter fest, es sollte mir bis zum heutigen Tag in Erinnerung bleiben. Vielleicht weil es mit Blut, mit viel Blut zu tun hatte und die Narbe von damals den Hals des Achtzigjährigen noch heute ziert. Silvia, immer noch die Größere und Abenteuerlustigere, wollte einen Ausflug unternehmen auf das neben dem elterlichen Garten gelegene Grundstück, ein wildes, unbewohntes Areal. Gesagt, getan, und schon hoben die Mädchen, Silvia und ihre Freundinnen, ihre kurzen Röcke hoch und stiegen mit ihren langen Beinen über den furchteinflößenden Zaun mit den kunstvoll geschmiedeten Spitzen. Ohne dass sich einer um mich kümmerte, folgte ich, der kleine, unbeholfene Bruder. Just als ich mich auf der anderen Seite des Zauns in die Tiefe gleiten lassen wollte, verließ mich die Kraft und eine der Eisenspitzen bohrte sich wie ein Schwert in meinen Hals. Als mich die Mädchen blutüberströmt auf dem efeuüberwachsenen Erdreich fanden, war das Erschrecken groß. Sie packten mich, jagten mit mir zum Tor des fremden Grundstücks und wir rannten so gut wir es schafften über die Straße zurück zum elterlichen Haus, wobei ich krampfhaft versuchte, mit einer Hand die wild blutende Wunde zu schützen.

Zu Hause fiel die arme Mutter beinahe in Ohnmacht, verband meinen Hals notdürftig, bevor sie verzweifelt versuchte, einen Arzt am Telefon zu erreichen. Jener Tag war ein Rosenmontag und die Kölner gaben sich in der Innenstadt beim Karnevalsumzug der farbenfrohen, wilden Narretei hin, sodass kein Mensch zu erreichen war. Endlich, als sie schon aufgeben wollte, erhielt die Mutter von einem fremden Arzt Antwort, und es erschien in aller Eile ein kleiner, gebückter junger Mann im Haus, vorsichtig sich nach allen Seiten umsehend. Die Wunde wurde unter meinem Schreien desinfiziert und dann, von nicht weniger Schmerzen begleitet, geklammert. Aber ich war wieder unter den Lebenden, und die erlöste Mutter bedankte sich überschwänglich bei dem Retter in der Not.

»Wenn die Wunde einen halben Zentimeter tiefer gegangen wäre, hätte kein Arzt und kein Gott Ihrem Sohn mehr helfen können«, meinte der junge Doktor ernst mit leiser Stimme.

Er erschien noch einige Male in den nächsten Tagen, um nach mir zu sehen, bevor die Wunde endlich genäht wurde. Sie wurde schnell mein ganzer Stolz, und es gab niemanden unter meinen Freunden, der die langsam verheilende Wunde – die lange noch, rot gefärbt, breit über meinen Hals verlief – nicht bewunderte.

Wenig später verabschiedete sich der junge Arzt mit trauriger Miene von der Familie, die ihn lieb gewonnen hatte: »Ich verlasse mein Vaterland. Als Jude gibt es hier keine Zukunft mehr für mich.«

Der erste Freund

Ich war ein unternehmungsfreudiges Kind, das krabbelnd die Welt, das Kinderzimmer und den Flur, erkundete, am liebsten die breite Treppe hinunter. Kaum vermochte ich auf meinen kleinen Beinen zu stehen, ging es erst richtig los. Kein Winkel, keine Ecke des Hauses war vor mir sicher, ich war der Schrecken aller Kindermädchen. Später folgte der Garten, wo unterhalb der breiten Terrasse, die dem Haus vorgelagert war, auf der rechten Seite gleich vor der Gartenmauer für die Kinder ein Sandkasten angelegt worden war. Ein kleiner Brunnen an der Mauer gab Halt für erste Kletterübungen. Dann kam der Tag, an dem ich die obere Kante der Mauer erreichte. Ich hockte dort stolz wie ein Gipfelstürmer und beschaute die Welt. Mein Blick fiel auf den weiten Nachbargarten, Kies zwischen den Grasrabatten, viele Blumen und geheimnisvolle Spalierhecken, hinter denen man sich sicher gut verstecken konnte. Bei schönem Wetter saß ich oft auf meinem Hochsitz, beäugte die große Nachbarvilla aus Backstein, die mir wie ein Schloss erschien, und fragte mich, wer wohl dort drüben wohnte. Das Rätsel wurde bald gelöst. Ich beobachtete, wie ein Junge in meinem Alter mit dunkler Lockenpracht, in der die Sonnenstrahlen spielten, einer jungen, schönen Frau lachend und kichernd mit wedelnden Armen hinterherlief. Dann, ein wenig später, geschah es. Als ich wieder einmal auf die Mauer klettern wollte, saß er, der Nachbarsjunge, schon auf meinem angestammten Platz. Ich ließ mich aber von dem Jungen nicht von meinem Vorhaben abbringen. Er rückte ein wenig zur Seite, und so hockten wir beide dicht nebeneinander, wussten nur nicht, was wir sagten sollten. Wir schwiegen vor uns hin, bis der fremde Junge in seine Hosentasche griff und eine Handvoll Nüsse hervorzauberte. Bald hörten wir das Schmatzen des jeweils anderen und der Bann war gebrochen. Wie die Großen stellten wir uns gegenseitig artig vor:

»Ich heiße Michel«, sagte der Junge.

Ich antwortete: »Und ich Alfred.«

Der Fremde lachte: »So heißt mein Opa.«

»Meiner auch«, antwortete ich. Wir lachten beide, schon hatten wir etwas Gemeinsames. Das war der Beginn einer großen Freundschaft zwischen zwei Knaben, die noch viel anderes Gemeinsames fanden, vor allem gegenseitige Zuneigung und innige Verbundenheit. Keiner von uns beiden hatte jemals einen Freund gehabt, ja, Michel hatte nicht einmal eine Schwester. Er war nicht nur mein erster Freund, sondern auch meine erste Liebe. Von der Stunde an verbrachten wir Tag für Tag miteinander und später auch manche Nächte, welche wir mal in dem Bett des einen, dann wieder im Bett des anderen eng aneinandergeschmiegt verbrachten. Das Haus von Michel wurde für mich nach und nach ein zweites Zuhause und dasselbe galt umgekehrt für meinen neuen Freund. Ich lernte Michels Eltern kennen, die mich mit freundlicher Distanz willkommen hießen. Aber sie schienen froh über die innige Freundschaft ihres geliebten Sohnes.

Dann kam die Zeit, von der Frau Bröhl auf dem Weg zur Schule der Schwester so freudig gesprochen hatte. Aber ich beobachtete, wie sich im Gegensatz zu ihr das Gesicht meines Vaters, wenn ich ihn gelegentlich zu sehen bekam, zunehmend verfinsterte. Von denselben Sorgen schien Michels Vater ergriffen zu sein, denn bei einem Essen, das ich im Nachbarhaus mit der Familie einnahm, sprach der Vater kaum ein Wort, während seine Frau immer wieder seine Hand nahm, um ihn aufzumuntern. So waren wir beiden Kleinen uns selbst überlassen, wir zwitscherten und quatschten wie die übermütigen bunten Vögel, die im nahen Salon wie in einem großen Käfig herumflatterten.

Doch uns stand Schlimmes bevor – uns beiden. Der große erste Schultag kam heran, aber die Begeisterung, Hand in Hand zur Schule hinüberzumarschieren, hatte sich kaum gelegt, als ich plötzlich allein gelassen wurde. Ich protestierte bei Michel, wir beide protestierten bei Michels Eltern, aber Bitten und Betteln, selbst Tränen halfen nicht. Die Eltern, sonst so liebenswürdig, wollten nicht nachgeben. So blieb Michel zu Hause. Doch es kam noch schlimmer, viel schlimmer. Bald fuhr ein riesiges Automobil auf dem Nachbargrundstück vor, gleich bei der Freitreppe zum Haus. Das große, unheimliche Auto ohne Fenster erschien im Dunkeln zur Nachtzeit; am nächsten Tag wurden fast lautlos von behänden Männern Möbel aus dem Haus in das Automobil getragen. Wir sahen dem bösen Treiben sprachlos zu. Die Eltern antworteten auf unsere erregten Fragen mit keinem Wort. Michel begann seine Eltern zu beschimpfen, bald in einem Ton, den man sich normalerweise unter keinen Umständen erlauben durfte. Aber Michels Vater und selbst die Mutter schauten ernst zur Seite, reagierten nicht. In der Dunkelheit war der große, geheimnisvolle Wagen erschienen, in der nächsten Nacht verschwand er genauso still und von der Nachbarschaft kaum bemerkt. So ging es am nächsten Tag weiter und wurde immer gespenstischer. Wir Knaben schauten fassungslos und mit Tränen zu, wie selbst der Vogelkäfig mit den aufgeschreckten Tieren von den unerbittlichen und schweigsamen Männern in den Möbelwagen verfrachtet wurde. Das große Haus, durch das wir beide ziellos treppauf, treppab liefen, erschien uns wie ein riesiger Sarg. Wo gestern noch Leben war, stellte sich Leere ein. Wie sollten wir Worte finden, als wir in Michels Zimmer auf die Stelle blickten, an der noch in der Nacht zuvor sein Bett gestanden hatte, an der sich nun nichts mehr, gar nichts mehr befand und nichts an das Gestern erinnerte?

In der Nacht darauf sollten wir beide in meinem Bett schlafen. Aber von Schlaf konnte nicht die Rede sein. Wir waren viel zu aufgeregt, das Ungewisse, das auf uns zukommen würde, vor Augen. Wir überhäuften uns gegenseitig mit Liebesschwüren, wir wollten uns niemals voneinander trennen, wenn überhaupt, dann nur für kurze Zeit. Wir waren uns einig: Wir wollten zusammen heranwachsen, gemeinsam lernen und später gemeinsam einen Beruf ausüben, immer noch und für immer unzertrennlich.

Am nächsten Morgen kam es zu hässlichen, herzzerreißenden Szenen vor dem verlassenen Nachbarhaus, vor dem nun anstelle der Möbelwagen ein großes Automobil stand. Nein, Michel wollte nicht einsteigen, er wollte auf keinen Fall mitfahren, er wollte bei seinem Freund bleiben, alles sei schon mit dessen Eltern besprochen, die Schwestern würden sich freuen. Die lautstarke Suada von Michel im leeren Haus, wo seine Stimme weit hallte, wollte kein Ende nehmen. Erst als er die traurigen Augen seines Vaters bemerkte, etwas, das er nie für möglich gehalten hatte, hielt er inne. Der Vater beugte sich mit todernster Miene zu ihm hinunter, drückte ihm immer wieder Küsse auf Stirn und Wangen und flüsterte Michel fast unvernehmbar zu: »Glaubst du nicht, dass es für mich genauso schlimm ist wegzugehen wie für dich? Aber vielleicht …«

»Ja?«, stammelte Michel.

»Vielleicht kommen wir wieder. Vielleicht …«

Auch ich bekam einen Kuss von Michels Eltern. Mein Freund löste sich endlich aus der Umarmung mit mir und stieg als Letzter in das Automobil. Der Wagen rollte langsam auf dem knirschenden Kies los. Ich war der Einzige, der ihm zuwinkte. Ich sah die Kinderhand des Freundes, die ich so oft gehalten hatte, wie sie weit hinausgestreckt aus dem Fenster klein und kleiner wurde, bis sie schließlich verschwand hinter dem großen Gartentor, das sich, wie von Geisterhand bewegt, schloss.

Robby, der Beschützer

Die Schulzeit begann fröhlich. Am ersten Tag liefen alle mit riesigen Tüten herum, die den Schritt in die Schule im wahrsten Sinne des Wortes versüßen sollten. Von allen Seiten wurde mir zugemunkelt: »Jetzt beginnt für dich der Ernst des Lebens.« Wobei ich mir gar nichts unter dem »Ernst des Lebens« vorstellen konnte. Es musste auf jeden Fall etwas Furchterregendes sein.

Der Direktor der Schule hieß Herr Freiser und die Klassenlehrerin Frau Damm. Die Begegnung mit diesen beiden scheint so bedeutsam gewesen zu sein, dass ihre Namen über die vielen Jahrzehnte hinweg nicht in Vergessenheit geraten sind. Herr Freiser war ein hochgewachsener, hagerer Mann mit schütterem Haar und einer randlosen Brille, mit der er, wenn die Sonne auf ihn schien, wie blind aussah. Er verkörperte als Erster in meinem Leben preußische Pflichterfüllung unter Wahrung akribischer Ordnung. Während Frau Damm, noch jung an Jahren, blond und besonnen, sich durch eine Freundlichkeit auszeichnete, die genau zwischen der mütterlichen und schwesterlichen zu Hause zu sein schien. Zwischen mir mit meinem Bubikopf, der eigentlich schon längst aus der Mode gekommen war, und der liebenswürdigen Frau Damm entstand vom ersten Schultag an eine Freundschaft. Sie setzte mich in die erste Schulbank in der Mitte direkt gegenüber ihrem Pult und neben mich ein schweigsames Mädchen, das genauso wie ich einen Bubikopf trug. Am dritten Tag schaute es mich nachdenklich an: »Bist du ein Junge? Du siehst aus wie ein Mädchen mit deinem Bubikopf und den langen Strümpfen. Und dem Jäckchen mit dem Samtkragen!«

Hinter uns beiden kicherten andere Mädchen. Was sollte ich sagen? Ich hatte nie darüber nachgedacht, wie ich ausschaute, und ich musste zugeben, dass ich noch vom Kinderfräulein angezogen wurde wie ein kleines Kind. Das schweigsame Mädchen, das gar nicht mehr so schweigsam war, beharrte: »Und du hast einen Kussmund! Alle Mädchen sagen das.«

Ich dachte nicht lange nach: »Meine Mutter gibt mir jede Nacht einen Gute-Nacht-Kuss.«

Genau das hätte ich nicht sagen sollen, denn ab sofort besaß ich in der Klasse den Spitznamen »Muttersöhnchen«.

Wenige Tage später geschah das Unvorhersehbare. Silvia war erkältet und musste zu Hause das Bett hüten, Majella war noch viel zu klein, um zur Schule zu gehen. So stand ich für eine Weile alleine in der Pause auf dem Schulhof, kaute an meinem Brot und sah nach oben, den Schwalben nach, die in Windeseile am Himmel auf und nieder sausten. So hatte ich nicht mitbekommen, dass sich mir drei große Jungen genähert hatten und sich nun dicht vor mir aufbauten, mich umringten. Einer von ihnen räusperte sich: »Da haben wir ja das Muttersöhnchen.«

Ich schreckte auf, wollte zur Seite ausweichen, als mich ein anderer an der Schulter packte: »Warum so eilig, Jüngelchen? Oder bist du doch ein Mädchen, wie viele sagen?«

Der Dritte war nun dicht bei mir, mindestens einen Kopf größer, er griff nach meinem Gürtel: »Wollen wir nicht mal nachsehen, was nun stimmt?«

In dem Augenblick erhielt ich einen festen Schlag zwischen die Beine. Ich schrie kurz auf, krümmte mich vor Schmerzen, als ich wie aus der Ferne die Stimme des Ersten vernahm: »Her mit dem Knaster! Du hast doch sicher ein wenig Kleingeld dabei. Dann lassen wir dich in Ruh. Kannst auch morgen etwas mitbringen. Wir sind großzügig.«

Ich reckte mich, schaute mir die Großen an. Es bedurfte nur eines kurzen Blickes, um zu erkennen, dass sie nicht von der Marienburg, sondern auf der Seite der Schule zu Hause waren, wo hinten die Baracken standen, von denen ich gehört hatte. Obwohl ich vor Angst schlotterte, sagte ich: »Ich habe kein Geld.« Und: »Ich habe keine Angst vor euch.«

Ich hatte noch nicht ausgesprochen, als ich die erhobene Stimme von Lehrer Freiser vernahm. Einer der großen Jungen sagte noch: »Wir haben nur ein wenig Spaß gemacht.« Dann wandte er sich an mich: »Nicht wahr, Kleiner?«

Ich nickte. Dann war der Spuk vorüber.

Aber der Tag war noch nicht zu Ende. Morgens hatte Toni mich an der Schulpforte abgeliefert, da das Kinderfräulein die kranke Silvia pflegen musste. Den Rückweg, vor allem die Überquerung der Bonner Straße, sollte ich mit Schulkameraden gemeinsam bewerkstelligen. Aber an jenem Tag war ich spät dran. Das Erlebnis in der Pause mit den großen Jungen aus den Baracken, die mir nach dem Leben getrachtet hätten, wenn mir Lehrer Freiser nicht als Rettungsengel zu Hilfe gekommen wäre, rumorte noch in mir. Ungern hatte ich mich vom schützenden Fräulein Damm getrennt. So stand ich verlassen vor der Schule, als ich meine Nachbarin auf der Straße entdeckte, die offenbar auf mich gewartet hatte. Wir beide schauten nach rechts, wir schauten nach links, dann ging es im Galopp Hand in Hand über die Straße. Auf der anderen Seite verabschiedeten wir uns, da Sophie, das war ihr Name, einen anderen Weg nach Hause einschlagen musste. Ich trabte, ohne mich weiter aufzuhalten, in Richtung meines Elternhauses, immer wieder ängstlich zurückschauend, ob die drei großen Jungen mir folgen würden. Und tatsächlich entdeckte ich zu meinem Erschrecken die Gestalt eines Jungen, der zügig hinter mir herhetzte. Ich rannte los, Schweiß auf der Stirn. Aber der andere holte weiter auf, lief am Schluss neben mir. Der große Junge lachte: »Jetzt aber Schluss! Vor wem laufen wir denn davon? Ich bin doch dein Freund, dein Beschützer.«

Er hatte mich beim Arm gepackt, nun standen wir Atem holend einander gegenüber. Der andere streckte mir die Hand hin: »Ich bin Robby! Auf mich kannst du dich verlassen. An mir kommt keiner vorbei.«

Wir gingen dicht an dicht wie alte Freunde bis zum Tor der väterlichen Villa in der Goethestraße.

»Morgen früh hole ich dich ab! Immer wenn du allein ausgehst, bin ich an deiner Seite«, waren seine letzten Worte. Schon an der Haustür drehte ich mich noch einmal um, strahlte über das ganze Gesicht, als ich die Hand zum Gruß hob und rief: »Danke, Robby! Ich bin Alfred.«

Bei den Kraten

Über mein dramatisches Erlebnis mit den drei großen Jungen auf dem Schulhof und mit Robby wollte ich mit niemandem sprechen. Es war mir tief unter die Haut gegangen. Silvia ahnte etwas von dem Vorfall, den sie wegen der Krankheit nicht hatte verhindern können. Aber auch sie vermochte nichts aus mir herauszulocken. Nur Frau Bröhl, nur ihr allein, wurde das Geheimnis anvertraut. Sie nickte verständnisvoll: »Die Väter müssen von der Straße weg und in Lohn kommen. Der Führer, der wird es richten.«

Am nächsten Morgen entdeckte ich zu meinem Erstaunen Robby in der Küche, eine Brotscheibe mit Speck in der Hand. Er grinste mir freundlich zu, während sich Frau Bröhl woanders in der Küche zu schaffen machte. Toni erhielt den Bescheid, dass sie für meinen Schulgang nicht vonnöten sei. So trottete ich an der Seite von Robby hochzufrieden, als wäre es immer so gewesen, in Richtung Schule. Noch an dem Tag entwickelte sich Robby zu meinem Schatten. Ob auf dem Schulhof, auf dem Nachhauseweg oder während eines kleinen Ausflugs unter Jungen auf Einladung meines neuen Beschützers zum alten Fort außerhalb der Marienburg. Ich holte eine Tafel Schokolade aus meiner Tasche, bevor sie schmelzen konnte, brüderlich wurde sie geteilt. Robby schmatzte: »So etwas Gutes habe ich schon lange nicht mehr gehabt. Auch Weihnachten nicht.«

Wir zogen an den Villen vorbei, an großen und kleinen, eingebettet in das üppige Gras der Gärten oder eines Parks. Hier lebte man nicht in der Marienburg, sondern auf der Marienburg. Mit der Bezeichnung wurde für jedermann deutlich, dass die Reichen der Stadt, die »Besseren«, wie sie sich nannten, oben angesiedelt waren. Von England war das Wort »Plutokraten« hinübergeweht. Niemand wusste, wie es sich auf der Marienburg festgesetzt hatte. Ob nun Lob oder Schimpfwort, es war nicht mehr für die Herrschaften, die »besseren« Leute, wegzudenken.

Die Einwohner der Marienburg kannten sich, mehr oder weniger. Nicht selten machte man Geschäfte miteinander, Ehen wurde oft genug unter sich ausgemacht: »Man kommt aus dem gleichen Stall«, war die Begründung, die zur Beruhigung angesichts möglicher späterer Unbill beitrug. Die Unternehmen, die Handelskontore, die Kaufhäuser, die Fabriken von den Einwohnern der Marienburg lagen inmitten der Stadt oder weiter draußen, dort, wo in den Siedlungen das breite Volk lebte. Es mochte den Rauch aus den Schornsteinen der Fabriken oder den Lärm der Maschinen abbekommen. Auf der Marienburg herrschten dagegen strenge Ruhe und Sauberkeit.

Die Marienburg reichte vom Rhein im Osten bis zur Bonner Straße, vom Bayenthalgürtel im Norden bis zu dem Fort, das noch aus den Franzosenkriegen übrig geblieben war und dessen meterdicke Mauern, aus denen die Schießscharten hervorlugten, immer noch zu schaurig-lustvollen Besuchen einluden. Innerhalb der Marienburg gab es keine Läden. Der Verkauf hätte die Ruhe der Einwohner stören können. So konnte man den Distrikt der Reichen zu Recht ein »Ghetto« nennen, dem man nur unter Verlust des guten Namens und des Ansehens für immer den Rücken kehren konnte. Lediglich eine kleine schmucklose Kapelle, gleich beim schmalen Halbrund des Südparks, wo die Damen der Gesellschaft ihren Hunden freien Lauf gewährten, war vorhanden. Dort trafen sich die Herrschaften mit ihrer stattlichen Kinderschar, um unter dem Dach der katholischen Kirche in Zeiten der wirtschaftlichen und sozialen Krisen Zuflucht zu suchen. Die braune Herrschaft, die sich über Nacht im Land ausgebreitet hatte wie eine ansteckende Krankheit, ließ sich für viele bedrohlich an. Man zog den Kopf ein in der Hoffnung, dass der Spuk, dem selbst der alte Präsident und Feldmarschall keine Gegenwehr mehr geboten hatte, bald vorüber sein würde.

Auf dem Rückweg vom Fort ließ ich meinen Beschützer reden. Mit Schaudern vernahm ich, unter welchen Umständen die Familie von Robby in den Baracken lebte: Die vier Brüder schliefen in zwei Betten in einer Kammer, die so kurz waren, dass man schwerlich die Beine ausstrecken konnte. Im sogenannten »Wohnzimmer«, das als Eingang, Vorratskammer und Küche diente, schliefen die beiden heranwachsenden Mädchen auf einer Couch, die der Vater auf einer Müllhalde gefunden hatte. Es mangelte tagtäglich an genügend Essen, im Winter an Heizmaterial, an wichtigen Medikamenten, aber am meisten an Hoffnung auf ein besseres Leben.

Die Menschen aus den Wellblechbaracken wurden die »Kraten« genannt, nur durch einen kerzengraden Straßenzug getrennt von den »Plutokraten«.

Robby hatte sich, ohne dass viel über sein Tun für mich gesprochen wurde, schnell im Hause Goethestraße eingerichtet. Er sprach das mitfühlende Herz seiner Einwohner an, eine Anwandlung von Nächstenliebe angesichts des Elends der Zeit. Selbst der gestrenge Vater nahm Robby kurz in ein freundliches Verhör, er wurde als tauglich weiterempfohlen. Aber jenseits des Kitzels, den dieser Robby aus ärmlichen Verhältnissen, wo Hunger und Entbehrung auf der Tagesordnung standen, bereitete, gefiel er durch sein wendiges, geradezu einnehmendes Wesen, das im krassen Widerspruch zu seiner Herkunft stand. Auf meine Frage: »Wie machst du das?«, antwortete er: »In der Not frisst du Fliegen, ich bin schnell im Nachmachen.«

Selbst die hochnäsige Schwester Silvia ließ sich auf eine, wenn auch sehr selbstsüchtige, Beziehung ein. Bei lästigen Besorgungen, beim Transport von sperrigen Geschenken für Freundinnen anlässlich einer Geburtstagsfeier war sie so freundlich, ihn zu bitten.

Geld wanderte niemals in Robbys Tasche. Ein deftiges Frühstück in der Küche, wo Frau Bröhl wirtschaftete, war ihm immer sicher, ebenso das reichhaltige Obst zur Erntezeit mit Pflaumen, Erdbeeren, Johannisbeeren, Stachelbeeren, Äpfeln und Birnen. Selbst in Silvias geheiligtem Kirschbaum durfte er sich gelegentlich den Bauch vollschlagen. Darüber hinaus erhielt er zu seinem Geburtstag von der Mutter einen schicken Anzug aus einem Kaufhaus, sodass er zu aller Zufriedenheit »allerliebst« und mit seinen zwölf Jahren »beinahe wie ein Herr« ausschaute.

Ich wusste sehr wohl, was für ein Juwel ich mit Robby, meinem »Bodyguard«, besaß. Immer wieder kam es zu Schlägereien in der Gegend der Bonner Straße, wo Arm und Reich aufeinandertrafen. Das Überschreiten der streng gezogenen Demarkationslinie konnte für einen ahnungslosen Knaben aus dem »Plutokratenlager«, den man schon von Weitem als solchen ausmachen konnte, gefährlich werden. Ich aber spazierte mit Robby im Rücken stets durch eine heile Welt. Selbst die drei großen Jungen, die mir auf dem Schulhof zugesetzt hatten, grüßten freundlich mit einem Grinsen, fast devot. Das »System« konnte groteske Züge annehmen. Da das soziale Netz auf der Marienburg sehr engmaschig war, ergab es sich von allein, dass Kinder gleichen Alters immer wieder zu einem Fest in eine andere Villa eingeladen wurden. So war es nicht selten, dass mich, wenn ich fein gekleidet mit einem Geschenk in der Hand an meinem Ziel anlangte, der eine oder der andere »Bodyguard« begrüßte, so wie es bei abendlichen Partys bei den Großen zuging, nur dass dann die kleinen Bodyguards die Chauffeure darstellten.

Schon länger drängte mich Robby, eines Tages seiner Familie in den Baracken einen Besuch abzustatten; ich sei freundlich eingeladen, man wolle nur allzu gern Robbys Wohltäter kennenlernen. Ich war unsicher. Es war mir unheimlich zumute: eine fremdartige, beklemmende Welt, so nahe gelegen und doch so unendlich fern! Als ich nicht mehr umhin konnte, marschierten wir beide los, überquerten noch weitgehend entspannt die Bonner Straße, doch als wir den lehmigen Weg in das Barackendorf einschlugen, wünschte ich, ich könne umkehren. Die Kinder der umliegenden niedrigen Holzhäuser liefen zusammen und begafften mich wie einen Fremdling aus einem fernen Land. Als wir vor Robbys Baracke standen und sich die schlichte, niedrige Tür öffnete, wollte ich abermals auf der Stelle umdrehen und weglaufen. Schon der Geruch, der aus dem Inneren durch die Holztür drang, machte mir zu schaffen. Einmal eingetreten, wurde alles anders. Aufgeregt und scheu gaben wir uns die Hand. Robbys Schwestern, alle im Sonntagsstaat, beäugten den Fremdling mit ungezügelter Neugier, die Brüder mit Zurückhaltung und Stolz. Selbst die Eltern schienen verlegen bei dem Besuch des kleinen Gastes, als ich endlich in ihrer engen Wohnstube stand. Ich wurde auf einen der wenigen Stühle genötigt, mir gegenüber saß der Hausvater, seine Frau stand hinter ihm und Robby wiederum hinter mir. Die Geschwisterschar stand um den Tisch herum. Bevor der Vater das erste befreiende Wort fand, fingen die Mädchen zu kichern an, wobei die Jüngsten interessiert nach mir griffen, nach meiner Hand, meiner Jacke, der Hose. Wie fühlte der geheimnisvolle kleine Fremde sich an? Der Vater räusperte sich, verschaffte sich als strenger Familienchef Gehör – und legte los. Er hatte offenbar eine regelrechte Rede vorbereitet. Ich fand mich überrascht, trotz der schlichten Umgebung, in einer kleinen Feierstunde wieder. Wie demütig mich Robbys Vater ansprach, verunsicherte mich gewaltig. Die Rede geriet zu einem würdig vorgetragenen Dank. Für alles. Dass Robby in unserem Haus so freundlich willkommen geheißen wurde, für die großzügigen Geschenke, die er und über ihn seine Familie erhielten. Anschließend wurde Kurt, mein Vater, gelobt, weil er sich nicht scheute, in der Zeit des braunen Diktats den Schwager von Robbys Vater, einen überzeugten Kommunisten, in seiner Druckerei anzustellen.

Es war Robbys Stunde. Er strahlte rundherum, legte bei der Ansprache des Vaters seine Hand auf meine Schulter wie auf sein persönliches Eigentum, wohingegen ich glücklich war, als die mich plagende Suada, in der immer wieder das Wort »Danke« fiel, zu Ende ging. Dann gab es einen selbst gebackenen Kuchen mit heißer Schokolade, etwas Seltenes im Haus, und bald sah ich mich tausend Fragen aus der Runde gegenüber. Vor allem die Neugier der Schwestern, die vor Aufregung rote Bäckchen bekamen, fand keine Grenzen. Am Ende schlug mir der Vater, eine knochige Gestalt, kräftig auf die Schulter, während die in sich gekehrte Mutter mit Sorgenfalten im Gesicht versuchte, mir einen Kuss auf die Wange zu drücken. Die gesamte Geschwisterschar gab mir Geleit bis zur Bonner Straße und wäre gerne bereit gewesen, mir noch weiter bis in die Goethestraße zu folgen, wenn nicht Robby diesen Versuch energisch abgewehrt hätte. Ein solch grenzüberschreitendes Vorhaben war offensichtlich im Protokoll nicht vorgesehen.

Dr. Pees und das Jungvolk

Morgens um halb sieben aufstehen, die Straßenbahn um fünf nach halb acht Uhr auf alle Fälle erreichen, um pünktlich vor acht Uhr fünfzehn das Gymnasium in der Innenstadt zu erreichen: Das sah nach dem Ernst des Lebens aus! Und das war nur der Anfang.

Kein Zweifel, die Zeit mit der geliebten Frau Damm an der Bonner Straße hatte ihr Ende gefunden, und als ich den geschlossenen Kreis der Marienburg verließ, wurde mein Leben über Nacht auf den Kopf gestellt. Als neuem Besucher eines strengen preußischen Gymnasiums in den Dreißigerjahren wurde mir sehr bald klar, dass ich mich nicht mehr im Kindergarten aufhielt. Besonders schwer machte es mir mein Klassenlehrer, Studienrat Dr. Pees. Er unterschrieb mit dem Symbol des Saturns und damit war dem Kundigen der letzte Zweifel genommen. Die Mutter und der Vater, die einiges über Astrologie und klassische Mythologie wussten, hatten mich vorgewarnt, denn Saturn stand für Strenge, Härte und Disziplin.

Der Bubischnitt war gefallen und ich sah aus wie alle anderen, fand zumindest ich. Robby hatte seine Schulzeit beendet und war als Lehrling bei M. DuMont Schauberg in der Druckerei eingestellt. Noch suchte er abends die elterliche Baracke auf, aber nicht mehr lange, und er war ihr entwachsen. Obwohl er noch gelegentlich im Haus an der Goethestraße vorbeischaute, so war doch klar, dass ich selbstständig geworden war und eines Aufpassers nicht mehr bedurfte.

Studienrat Dr. Pees gab Englisch und Deutsch in meiner Klasse, und das mit der ganzen Verve seiner Persönlichkeit. Eigentlich zu den Höhen eines Schriftstellers berufen, ließ er die Knaben die Enttäuschung über sein nicht erreichtes Ideal spüren. Auf jeden Fall war er fest entschlossen, seine Klasse zur besten im damaligen Kaiser-Wilhelm-Gymnasium zu machen. Schon nach der ersten Englischstunde sollten sich die Schüler sein »It’s raining hard« anhören. Derjenige Schüler, der eine Einzeldemonstration von Dr. Pees beim Erlernen des englischen »th« über sich ergehen lassen musste, wurde regelmäßig mit einem Sprühregen aus dem Mund des Lehrers übergossen. Schlimmeres erfuhr allerdings ich. Dr. Pees gab in der Deutschstunde ein Stück Prosa, ein »literarisches Meisterstück«, wie er betonte, zum Besten. Daraufhin stellte er in aller Bescheidenheit fest, dass es aus seiner eigenen Feder stamme, und dann kam das Unglaubliche: Mit bösartiger Absicht und Unvermögen sei sein Werk vom Feuilleton der ansonsten anerkannten Kölnischen Zeitung abgelehnt worden. Bei der letzten Bemerkung traf mich ahnungslosen Jungen ein vernichtender Blick, nachdem der Lehrer ausgeführt hatte, dass die genannte Zeitung vom Vater des Mitschülers Neven DuMont herausgegeben werde. Das war der Anfang einer innigen Feindschaft zwischen zwei ungleichen Personen, die mich bis in meine Träume verfolgte. Meine Noten schleppten sich in den Fächern, die Studienrat Pees betreute, gerade mal zwischen befriedigend und ausreichend dahin, während die Bewertungen der anderen Fächer meinen Vater durchaus erfreuten.

Nur wenige hundert Schritte vom Gymnasium entfernt lag in der Severinstraße, unweit des Waidmarktes, ein altes Rokokopalais, in dem die Mutter der väterlichen Großmutter Alice, meine Urgroßmutter, lebte, ja man musste sagen: residierte. Schon bald wurde der junge Gymnasiast zur Mittagstafel gebeten. Man kümmerte sich um die Nachkommen, hatte ein Auge auf die heranwachsenden Nachfolger, die Erben. Empfangen in französischer Sprache von der Hausdame Julie wurde ich neben dem Eingang in ein kleines Besucherzimmer geführt, wo alsbald die würdige Urgroßmutter erschien, eine vornehme, weißhaarige, sorgsam gekämmte und gekleidete Erscheinung, aufrecht und mit einem gütigen Gesichtsausdruck. Eine Figur und eine Umgebung wie aus einem anderen Jahrhundert. Die Honneurs waren für einen Jungen wie mich die gleichen wie für einen Großen. Die Herkunft entschied. Unter der elegant nach oben schwingenden Freitreppe trat man in einen hohen, hellen, mit alten Delfter Tellern an den Wänden geschmückten Speisesaal genau in der Mitte des Hauses mit einem hübschen Blick in den Garten, und nahm Platz. Der Besuch lief nach einem strengen Ritual ab. Die Speisefolge, die geräuschlose Bedienung, die Konversation, die gezielten Fragen brachten wenig Überraschendes. Aber im Hintergrund schwangen immer Anspruch und Leistungserwartung mit. Die Urgroßmutter, eine der letzten Repräsentantinnen einer großen holländischen Patrizierfamilie, die es an den Rhein verschlagen hatte, wusste von Kindesbeinen an, dass einem im Leben nichts geschenkt wird und dem kleinen Familienerben, mit dem die alte Dame anschließend den Tee im großen Salon im ersten Stock einnahm, zeitig Zügel angelegt werden mussten. Diese Welt sollte später untergehen, und von dem Palais blieben nur einige vergilbte Fotos aus einer Zeit, die heute ewig zurückzuliegen scheint.

Mit der Vollendung des zehnten Lebensjahres brach eine weitere, wenngleich erheblich harmlosere Veränderung in mein Leben ein: das Jungvolk. Einmal in der Woche trafen sich alle Jungen desselben Jahrgangs aus der Marienburg im nahen Südpark. Man musste sich in Dreierreihen aufstellen und schon mal im Gleichschritt herummarschieren und ein zackiges Lied singen, wobei ich mit Befriedigung feststellen durfte, dass ich der Längste von allen war und damit beim Antreten den dominierenden Flügelmann abgab. Ansonsten stellte sich der »Dienst« als Jungvolk recht wenig aufregend dar: Unter dem Kommando des Fähnleinführers wurden Ballspiele wie Fußball oder Völkerball gespielt oder ein Ausschwärmen zum neuen Fort unternommen. Der Fähnleinführer, beliebt bei allen Jungen, war kein anderer als der Sohn meines Großonkels August, Cornel, genannt Nelles. Er solle später einmal, so informierte mich der Vater, im Verlagshaus mein Partner werden. Der Ernst des Lebens hatte mit dem Jungvolk noch nicht begonnen, schon gar nicht mit den vertrauten Kameraden der Marienburg. Und im Jahre 1936, von dem die Rede ist, erlebte Deutschland ein Jahr feierlicher Weltoffenheit. Das Regime wollte sich vor allen Nationen zur Zeit der Olympischen Spiele offen und freundlich zeigen. So war das Kölner Jungvolk gefordert, als bei einem nationalen Anlass zusammen mit der Hitlerjugend ein gemeinsamer Aufmarsch auf der großen Jahnwiese durchgeführt wurde. Ich trampelte Seite an Seite mit meinen Kameraden den ermüdenden Fußweg durch die halbe Stadt, stand in der Hitze inmitten der Masse, Fahnen vorne, Fahnen hinten, und lauschte verzweifelt der Rede des Reichsjugendführers, dessen Stimme sich in den krächzenden Lautsprechern immer wieder vor Begeisterung über den Führer überschlug. Was sollte ich mit einer Parole wie »Führer, befiehl, Führer, wir folgen dir!« anfangen? Selbst der Vater zu Hause wurde um Rat gefragt, aber dessen Antwort war auch wenig hilfreich, eher verwirrend. Nachhaltig in Erinnerung blieb mir von diesem großen Tag, dass es inmitten der Masse, schwitzende Körper überall, gestunken hatte und mir übel geworden war und die Farbe Braun der Nationalsozialisten mich peinlich an Ausscheidungen von Hunden am Straßenrand erinnert hatte. Als ich meine Erkenntnisse völlig erschöpft zu Hause kundtat, rief der Vater mich streng zur Ordnung und wies mich an, nichts, was mit dem Führer und seiner Partei zu tun habe, in der Öffentlichkeit mit einer kritischen Äußerung zu bedenken. Mein Vater kam noch einmal auf Cornel, den Sohn seines Vetters August und meinen Fähnleinführer zurück und lobte meinen zukünftigen Partner in der Firma. Aber es sollte anders kommen. Cornel, einige Jahre älter als ich, sollte, genauso wie sein Bruder Gysbert, im späteren Weltkrieg an der Ostfront seinen frühen Tod finden.

Frau Mama

In der Stadt wehten die Hakenkreuzfahnen. Die Menschen hatten sich daran gewöhnt, die meisten schauten nicht mehr empor. Die bellende Stimme des Führers schallte aus dem Radio, aber nur in der Küche, im Revier von Frau Bröhl, konnte man sie vernehmen, nicht in den weiten Räumen des Hauses. Die Köchin stellte das Radio leiser, wenn sie Besuch bekam. Toni, das Dienstmädchen, schwärmte: »Die Stimme ist verführerisch! Den Mann müsste man im Bett haben.«

Frau Bröhl schaute sie strafend an: »Der Führer hat Wichtigeres zu tun. Er hat für so etwas nicht die Zeit.«

Toni gab nicht auf: »Schade, der versäumt das Beste!«

Als ich dazukam, stellte die Köchin verärgert das Radio, den Volksempfänger, ab. Ihre Begeisterung von früher hatte etwas nachgelassen. Sicher, die Abnahme der Arbeitslosigkeit, das Ende der blutigen Straßenkämpfe, die Errichtung der imponierenden Sportanlagen für die Olympischen Spiele und die Bauten der Reichsautobahnen fanden nach wie vor ihre Bewunderung. Aber es gab Vorfälle, die sie nicht verstand. Immer wieder wurden, zumeist zur Nachtzeit, Menschen, Deutsche, aus ihren Wohnungen geholt und verschleppt. Sie verschwanden einfach, ohne Weiteres. Vorwiegend Juden, aber Bürger seit Generationen, Ordensträger aus dem ersten Weltkrieg darunter. Frau Bröhl, das war sicher, hatte durch ihre weitverzweigte Verwandtschaft das beste Informationsnetz. Im Gespräch mit dem Kindermädchen und Toni wurde sie deutlich: »Wenn das der Führer wüsste!«

Überraschte die Dame des Hauses sie bei einem solchen Gespräch, brach sie ihre Rede ab und schwieg. Kein Gespräch dieser Art in der Gegenwart der gnädigen Frau! Das wusste jeder. Mittlerweile, und das war Frau Bröhl sehr wohl bekannt, hatten die Nationalsozialisten in München, der Hauptstadt der Bewegung, die Frau von Lenbach, die Mutter der Hausherrin, geehrt, das Werk ihres schon lange verstorbenen Vaters war hochgeschätzt. Sollte man da nicht dankbar sein?