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Als Sylvie Durand einen Brief erhält, der sie auf das verlassene Anwesen ihrer Familie in der Provence zurückruft, weiß sie, dass sie gehen muss. Mitten in einem schwülen Sommer voller Hitzewellen und verheerender Brände auf dem Land reist die alleinerziehende Mutter mit ihrer jüngsten Tochter Emma im Schlepptau nach »La Rêverie«. Dabei wollte sie Emma doch unter allen Umständen von diesem Ort fernhalten … Zurück im alten Zuhause kommen Erinnerungen hoch: Über dem Haus schwebt bedrohlich der Geist von Élodie, Sylvies erstem Kind. Élodie mit dem goldenen Haar. Élodie, die genau wusste, wie sie bekam, was sie wollte. Élodie, über die im Dorf immer noch getuschelt wird.

Während Sylvie sich in den Gedanken an das, was mit Élodie im Sommer vor zehn Jahren passierte, zu verlieren droht, gerät die Situation in »La Rêverie« mehr und mehr außer Kontrolle …

Kate Riordan erzählt von einer Mutter, die gegen die Schatten ihrer Vergangenheit kämpft – um zu retten, was sie liebt. ›Das verborgene Zimmer‹ ist ein hochspannender Roman, der niemanden kalt lassen wird.

autor

© privat

KATE RIORDAN ist freie Journalistin und schreibt u. a. für den Guardian und Time Out. Auf Deutsch erschienen bisher die Romane ›Im Spiegel ferner Tage‹ (2015) und ›Die Sanduhr unserer Liebe‹ (2017).

CHRISTIANE SIPEER studierte Literaturübersetzen in Düsseldorf und übersetzt Belletristik und Sachbücher aus dem Englischen, u. a. von Esther Perel und Jane McGonigal. Sie lebt in Leipzig.

LISA KÖGEBÖHN studierte Literaturübersetzen in Düsseldorf und Straßburg. Sie übersetzt Romane und Sachbücher aus dem Englischen und Französischen, u. a. von Kevin Kwan, Steven Price und Edward Rutherfurd.

KATE
RIORDAN

Das verborgene
Zimmer

ROMAN

Aus dem Englischen
von Christiane Sipeer und Lisa Kögeböhn

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Für meine Mum, wen sonst

 

[1] »Du passt zu mir

wie die Faust aufs Auge

deine Faust

mein Auge«

Margaret Atwood

TEIL EINS

Juli 1993

Der Brief erwartet mich, als ich von der Arbeit nach Hause komme. Er stammt aus Frankreich, das erkenne ich sofort. Die handgeschriebene Sieben in der Postleitzahl verrät es: geschwungen und mit Querstrich, absolut unenglisch. La Rêverie ruft mich also doch noch zurück.

Die Sommersonne ist unerbittlich, da wo ich herkomme. All die Hitze, die die trockene Erde nicht aufnehmen kann, steht schwer in der Luft, umschließt dich. Wenn es besonders heiß war, lag ich nachts wach in den feuchten Laken, Fenster und Fensterläden weit offen, und hörte zu, wie die Zikaden zirpten, die Frösche quakten, und der Donner im Tal umherrollte wie Murmeln in einer Schüssel.

Frankreich fehlte mir nicht, nachdem wir wegzogen waren. Ich war froh, dass wir beide uns im Norden Londons verstecken konnten und sicher waren in den Straßen voller roter Backsteinhäuser und Bäume, die mit ihren Wurzeln das Pflaster hoben. Es macht mir nicht einmal etwas aus, dass ich zur ewigen Fremden geworden bin; obwohl ich perfekt Englisch spreche, ist mein Akzent nicht zu überhören. »Ach, Sie sind Französin«, sagen die Leute dann und lächeln. »Toller Wein und Käse.«

Inzwischen denke ich auf Englisch. Ich träume sogar in der Sprache, die ich mir zu eigen gemacht habe. Aber als ich den Brief sinken lasse und überlege, was sein Inhalt für mich bedeutet, geschieht das in meiner Muttersprache. Das geht ganz automatisch – ich streife die alte Sprache so mühelos über, als sei sie ein T-Shirt, das ich zwar aussortiert habe, mir aber immer noch wie angegossen passt.

Am Telefon im Flur schlage ich das Adressbuch bei G auf. Ich kann die Nummer deines Vaters in Paris immer noch nicht auswendig.

»Oui?«

Seine Aussprache ist gut, besser als früher. Als wir noch verheiratet waren, habe ich ihn immer damit aufgezogen: »Greg, es heißt nicht ›wie‹. Im Französischen musst du den ganzen Mund einsetzen. Besonders die Lippen.«

»Das mit den Lippen krieg ich hin«, sagte er dann jedes Mal, schnitt übertriebene Grimassen und küsste mich. Am Anfang küssten wir uns endlos. Küssten uns und lachten. Miteinander sprachen wir Englisch, obwohl wir in Frankreich lebten – und das nicht nur, weil ich seine Sprache viel besser beherrschte als er meine, sondern auch, weil es irgendwie einen Ausgleich schuf. Ein Haus voller Englisch, und ganz Frankreich draußen vor der Tür.

»Ach, Sylvie, du bist es«, sagt er. Seine tiefe und leicht heisere Stimme geht mir immer noch durch und durch. »Alles in Ordnung mit Emma?«

»Emma geht es gut.«

Ich sehe ihn vor mir, wie er mit der freien Hand eine Gitane aus der zerknautschten Packung schüttelt, sein weiches Chambray-Hemd, das jetzt eine andere bügelt, die tiefe Furche der Ungeduld zwischen seinen Augenbrauen.

Ich schlucke und ärgere mich, dass ich mir vor dem Anruf nicht überlegt habe, was ich sagen soll. »Hör zu, du müsstest Emma ein paar Tage nehmen, vielleicht auch eine Woche.«

»Hatten wir nicht Ende August vereinbart?«

»Ja, es muss aber jetzt sein. So bald wie möglich.«

»Was? Wieso? Wo willst du denn hin? Es sind doch noch gar keine Ferien, oder?«

Ich kann den Brief vom Telefon aus sehen, seine scharfen weißen Kanten.

»Erst ab Freitag. Sie würde nur ein paar Tage in der Schule verpassen, und ihr könntet zusammen ihren Geburtstag feiern. Ich kann sie auf dem Weg nach Süden in Paris absetzen.«

»Nach Süden? Sylvie, was ist los?«

»Es ist was mit dem Haus. Der Anwalt hat mir geschrieben. Es gab … es gibt ein paar Schäden.«

»Was für Schäden?«

»Es hat gebrannt. Ein kleines Feuer. Wahrscheinlich ein Unfall, aber es wird teuer. Das Haus steht jetzt seit zehn Jahren leer, und so was wird immer öfter passieren. Es muss verkauft werden, und ich muss persönlich hin und ein paar Unterlagen unterschreiben. Du weißt ja, wie das in Frankreich ist, wie kompliziert solche Sachen dort sind.«

»Na ja, wir würden uns natürlich freuen, Emma zu sehen. Aber ich glaube nicht, dass das geht.«

»Du weißt doch, dass ich sie von dort fernhalten will. Außerdem werde ich sowieso die meiste Zeit mit den Anwälten beschäftigt sein.«

»Sylvie, ich muss auf Geschäftsreise, und Nicole fährt mit den Jungs zu ihrer Mutter in die Normandie. Ist alles schon geplant.«

Ich schweige. Eigentlich war mir schon klar, dass er Nein sagen würde. In der folgenden Stille hängen wir beide unseren Gedanken nach, und die Leitung zwischen uns summt leise.

»Also kehrst du nun doch zurück«, sagt er schließlich und nimmt einen langen Zug von seiner Zigarette.

*

Es ist zwar noch früh, als wir die Wohnung verlassen und uns auf den Weg gen Süden nach Dover machen, trotzdem ist der Tag fast um, als wir in Calais von der Fähre fahren. Die Männer winken uns ungeduldig von der Rampe, ihre neonfarbenen Jacken heben sich grell vom immer grauen, Unheil verkündenden Himmel ab. Du sitzt still neben mir, aber deine wachsende Aufregung ist spürbar, sie strömt von dir aus wie die Geräusche aus den Kopfhörern deines Discmans, ohne den man dich zurzeit kaum noch antrifft.

Ich folge dem Wagen vor uns auf die rechte Spur, über der die blauen Schilder zur Autobahn weisen. Je weiter wir ins immer dunkler werdende Inland hineinfahren, desto lauter und beharrlicher wird die Stimme in meinem Kopf, die nicht mehr verstummt ist, seit ich den Brief bekommen habe. Ich klammere mich so fest ans Lenkrad, dass es vor Schweiß ganz rutschig wird.

Ich werfe einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. Es ist schon spät. Vor uns leuchtet das Schild eines günstigen Hotels im Dunkeln auf. Ich fahre ab und atme auf – erst jetzt merke ich, dass ich die Luft angehalten habe. Im fluoreszierenden Licht der Rezeption, wo man nichts als das Brummen eines Verkaufsautomaten hört, kommt es mir gar nicht vor, als sei ich im selben Land, das ich damals verlassen habe – das verschlafene Frankreich meiner Kindheit, der Ort, an dem wir einmal eine normale Familie waren. Nein, das ist nicht die Wahrheit. Was auch immer wir waren, normal waren wir nie, von Anfang an nicht.

*

Am nächsten Morgen schenke ich dir im Frühstücksraum noch eine Tasse chocolat chaud ein und deute auf den Stapel verpackter biscottes auf dem Buffet und die runden Kleckse blasser Normandie-Butter.

»Iss noch was, Süße«, bitte ich dich und lächele, um den angespannten Ton in meiner Stimme wettzumachen. »Wir haben noch einen langen Tag vor uns.«

Aber du interessierst dich viel mehr für die fremdartige Umgebung als für dein Frühstück: die großen Kaffeetassen und dünnen Käsescheiben in aufgerissenen Croissants, die Kinder mit den perfekten Tischmanieren und den farbenfrohen Brillen.

Du beugst dich vor und flüsterst verschwörerisch: »Der Mann da drüben guckt immer wieder zu dir rüber.«

»Nein, tut er nicht.« Aber meine Blicke wandern schon durch den Raum, ich kann gar nicht anders.

Du grinst, und da muss ich auch lächeln.

»Schon wieder«, sagst du. »Total auffällig. Der da drüben am Fenster mit dem grünen Hemd. Er ist alleine. Wahrscheinlich auch geschieden. Geh doch mal hin und sag bonjour

»Also wirklich, Emma!« Aber jetzt muss ich lachen.

»Du siehst doch echt gut aus für dein Alter, Mum.«

»Ach, wie ich zweifelhafte Komplimente liebe!«

Du verdrehst die Augen. »Stimmt doch aber. Du bist echt hübsch. Die Männer starren dich immer an. Dieser Nick von der Arbeit, der mit dir ausgehen wollte, der war total besessen von dir.«

Da erspähe ich meinen Verehrer, und unsere Blicke begegnen sich kurz. Er hat etwas von Greg: die Art, wie er das Messer hält, und die unwillkürliche Kopfbewegung, wenn ihm die Haare in die Augen fallen. Als wir verheiratet waren, habe ich Greg immer die Haare geschnitten, mit ausgebreiteter Zeitung unterm Küchenstuhl.

Ich stehe auf, und mein Stuhl scharrt über den Boden. Eines der Kinder ist in einen Singsang verfallen: »Maman! Maman!«, und ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte.

*

Hinter Lyon folgen wir den langsameren und schmaleren D-Straßen. Das schräge Sonnenlicht bricht immer wieder durch die langen Pappelreihen am Straßenrand. Ich hatte vergessen, wie genau sie es hier mit der Beschilderung nehmen, selbst die kleinsten Dörfer und winzigsten Nester verkünden ihren Namen am Ortseingang, und am Ausgang ist er rot durchgestrichen. Das Land um uns herum erscheint endlos im Vergleich zu London: alte, verblichene Bauernhäuser und immer mal wieder ein verrammeltes Restaurant, verlassen am Rand riesiger Felder. Ich werfe dir einen Blick zu, du betrachtest aufmerksam die Umgebung. Das alles muss dir so exotisch vorkommen, obwohl du die ersten vier Jahre deines Lebens hier verbracht hast.

Während der Fahrt steigt die Sonne immer höher, und im Auto wird es immer heißer. Du spielst am Radio herum und schnaubst verächtlich angesichts der fürchterlichen französischen Popsongs, bis du einen Sender findest, auf dem Edith Piaf läuft. Ich kurbele das Fenster herunter, und der erste Luftstoß weht mir die Vergangenheit entgegen. Ein unbeschreiblicher Geruch. Vielleicht eine Mischung aus heißen Steinen, Lavendel und einer unterschwelligen Note Panik.

Knapp einen Kilometer vom Haus entfernt verfahren wir uns fast – ziemlich absurd, wenn man bedenkt, dass ich nirgendwo auf der Welt länger gelebt habe als hier. An der Ecke, wo früher ein Pfirsichstand war, an dem wir oft eingekauft haben, ist jetzt eine Tankstelle, und das verwirrt mich so sehr, dass ich die Abbiegung verpasse. Erst als wir mit einem Mal mitten im alten Dorfkern landen – der gesprenkelte Schatten der Platanen, die runden silbernen Tische des Cafés und die verstaubte Markise der boulangerie sehen noch genauso aus wie früher –, merke ich, wo wir sind.

Ich wende mit quietschenden Reifen, weil ich noch nicht bereit bin, jemandem zu begegnen, den ich kenne, und schon holpern wir über die unbefestigte Straße auf La Rêverie zu.

Ziemlich plötzlich und schneller, als mir lieb ist, erreichen wir die ausgefahrene Spur, die zu der baufälligen Scheune führt, in der wir früher Feuerholz für den Winter gelagert haben, zusammen mit den rostigen Walzen und anderen uralten landwirtschaftlichen Geräten, die mein Vater sinnloserweise sammelte. Ich starre stur geradeaus und fahre direkt weiter vors Haus.

Ich schalte den Motor aus. Du sitzt schweigend neben mir. Ich schiebe dir eine lose Haarsträhne hinters Ohr: straßenköterblond und unten etwas dünner, weil du dir die Haare wachsen lassen willst. Du hast mir das Versprechen abgenommen, dass du dir mit sechzehn Strähnchen machen lassen darfst. »Ich will blondere Haare«, sagst du schon den ganzen Frühling. »Eine richtige Haarfarbe.«

»Mum, das kommt mir irgendwie gar nicht bekannt vor«, sagst du jetzt, deine Stimme klingt jung, ganz hoch. »Eben, als wir abgebogen sind, dachte ich schon, aber …«

»Vielleicht kommt das noch«, sage ich und hoffe aufs Gegenteil, darauf, dass alles aus dieser Zeit unwiderruflich gelöscht ist. Du warst noch so klein, als wir hier weg sind, und wieder einmal sage ich mir, dass das der Grund ist, warum du alles vergessen hast.

Wir steigen aus, und das Ticken unter der Motorhaube klingt fast wie die Zikaden in den umliegenden Sträuchern. Ihre Rufe werden im Lauf des Tages noch schneller und fieberhafter werden, während die Sonne steigt und die Temperaturen nach oben klettern. »Écoute, chérie. Écoute les cigales«, sagte meine Mutter, als ich noch klein war, immer wenn sie mich davon abhalten wollte, nach draußen zu rennen und mir einen Sonnenstich zu holen. Sie sagen dir, wenn es zu heiß zum Rausgehen ist. Das hatte ich ganz vergessen.

Das Haus sieht genauso aus, wie sich ein Fremder eine maison de maître in Südfrankreich vorstellen würde: dicke graue Steinmauern und ein spitzes Giebeldach, große, symmetrische Fenster hinter violettblauen Fensterläden, deren Farbe nach Jahren in der prallen Sonne puderartig wirkt. Der Garten am Haus ist vorn durch eine Mauer mit Geländer begrenzt. Ich öffne das Metalltor, auf dem Briefkasten steht immer noch mein Mädchenname in verblasster Schrift. Es schwingt ganz leicht auf, als würde es jeden Tag benutzt.

Dahinter breitet sich die Bougainvillea über den Rasen aus. Die Lavendelsträucher sind ganz kahl und holzig; aber der Garten, um den sich seit zehn Jahren niemand mehr gekümmert haben kann, ist nicht so verwahrlost, wie ich dachte. Es sieht immer noch genauso aus wie in meiner Erinnerung. Der Pfad zum Eingang ist von Unkraut überwuchert, und auch die dichte Zypresse, die ihren Schatten auf einen Teil des Hauses wirft, muss zurückgeschnitten werden. Das ist allerdings so, seit ich denken kann. Ich schaue hoch zum Fenster des Zimmers ganz an der Seite, wo der Schatten der Zypresse am dunkelsten ist, und sehe, dass sich ein Riegel am Fensterladen gelöst hat.

Neben mir knisterst du förmlich, vor allem vor Aufregung, aber auch ein bisschen vor Angst. Vielleicht habe ich dich angesteckt.

»War das ihr Zimmer?«, fragst du.

Ich sehe dich forschend an. »Genau. Weißt du das noch?«

»War nur geraten.«

Du schaust begierig wieder hin, als würdest du dir wünschen, dass dort oben jemand steht und dich durch den Spalt zwischen den Fensterläden beobachtet. Die Zikaden sind verstummt, und die Stille ist kaum zu ertragen. Dann fangen sie auf wundersame Weise im Chor wieder an, noch lauter als vorher, und ich gehe energisch auf die Haustür zu und krame in der Tasche nach dem Schlüssel, weil ich genau weiß, wenn ich jetzt nicht reingehe, zerre ich dich vielleicht zurück zum Auto und fahre wieder nach Hause.

Im dunklen Flur ist es kühl wie in einer Kirche, und es riecht gleichzeitig abgestanden und nach Rauch. Trotzdem kann ich auch ganz schwach die älteren und zutiefst vertrauten Gerüche von La Rêverie ausmachen: Bienenwachs, gebratener Knoblauch und die Olivenölseife meiner Mutter.

Das nimmt mich so mit, dass ich erst nach einer Weile bemerke, dass deine Atmung sich verändert hat. Ich wühle in meiner Handtasche und bete, dass der Inhalator darin ist, den ich eher aus Gewohnheit als aus Notwendigkeit fast immer dabeihabe. Endlich schließt sich meine Hand um etwas aus Plastik. Ich ziehe ihn heraus und schüttele ihn.

Nach ein paar Zügen geht es dir besser, auch wenn deine Hände jetzt zittern – eine Nebenwirkung des Medikaments, das in deine Muskeln vordringt.

»Wieder gut, Süße?«

Du nickst, aber nur ein Mal.

»Liegt bestimmt an dem ganzen Staub und Moder hier«, sage ich, und du nickst wieder, obwohl wir beide wissen, dass dein Asthma von Stress ausgelöst wird und nicht von Allergien.

Während du auspackst, gehe ich durchs Haus und öffne systematisch alle Türen, bis auf die eine, für die ich noch nicht bereit bin. Die Fensterläden kreischen, als ich sie aufstoße. Dahinter kommen gruselige Haufen fetter schwarzer Fliegen auf den Fensterbänken zum Vorschein. Im hereinfallenden Licht schwebt der aufgewirbelte Staub.

Zum Schluss nehme ich allen Mut zusammen und sehe mir den Brandschaden an. Ich weiß, dass das Feuer in der Spülküche ausgebrochen ist – la souillarde –, einer kleinen Kammer mit einem Spülbecken, einem Abtropfbrett und ein paar Schränken mit Vorhängen davor, in der es auch bei größter Hitze immer kühl bleibt. Das Fenster ist nicht größer als ein Blatt Papier, und statt einer Scheibe ist feiner Maschendraht in den Rahmen gespannt.

Es riecht zwar ziemlich verbrannt, als ich die Tür öffne, aber es ist nicht so schlimm, wie ich es mir ausgemalt habe. Zwei der weiß getünchten Wände haben jetzt schwarze Striemen. An einigen Stellen reichen die Spuren bis auf Augenhöhe. Man kann kaum sagen, was verkohlt ist und was Schimmel, beides geht dunkel ineinander über. Aber was auch immer hier passiert ist, das Feuer muss schnell gelöscht worden sein. Sonst wäre das ganze Haus abgebrannt.

*

Als der Abend sich um das Haus senkt, fragst du, ob wir ins Dorf gehen und etwas essen können. Wir laufen den zehnminütigen Weg zu Fuß, der Asphalt unter unseren Füßen fühlt sich weich an, und unsere Beine glänzen von dem Insektenschutz, den wir in Erwartung der am Abend auftauchenden Mücken aufgetragen haben. Die Sonne ist schon hinter den Hügeln versunken, als wir uns an einen Tisch draußen vor einer Pizzeria setzen, die es früher noch nicht gab. Wir blicken auf den Platz im Schatten der Bäume, wo die alten Männer mit ihren Kappen und Hosenträgern immer boules gespielt haben und es sicher immer noch tun, aber bisher ist von ihnen nichts zu sehen.

Du bittest mich, dir bei der Kellnerin eine Cola zu bestellen. Anscheinend hast du dein Französisch ebenso vergessen wie deine ersten vier Lebensjahre hier. Ich nehme ein Bier statt wie sonst Wein. Als sie es mir bringt, ist es so kalt, dass sich außen am Glas Kondenswasser bildet. Ich stürze es hinunter wie Wasser und bestelle gestikulierend ein zweites.

Als ich deinen missbilligenden Blick bemerke, lächele ich. »Das hab ich gesehen. Sei nicht so streng mit mir. Immerhin muss ich nicht mehr fahren.«

»Ist bestimmt komisch, wieder hier zu sein«, sagst du vorsichtig, nachdem du aufgegessen hast. Dabei rührst du mit einem Plastikstäbchen in deinem Colaglas.

Ich nicke, obwohl es nach dem zweiten Bier schon besser geworden ist.

»Fehlt es dir, jetzt, wo du wieder hier bist?«

Ich hebe den Kopf, überrascht von deiner Beobachtungsgabe. Als du vier warst und wir nach London gegangen sind, habe ich alles in einer tiefen Schublade mit der Aufschrift »Frankreich« verstaut, sie verschlossen und bald vergessen, wie viel es an meiner Heimat zu lieben gab.

»Tut mir leid, dass du meinetwegen so lange nicht in dem Haus warst. Immerhin bist du auch hier geboren. Es ist genauso dein Zuhause wie meins.«

Du strahlst. »Wirklich?«

Ich lächele und drücke deine Hand.

»Mum, bist du sicher, dass wir das Haus nicht doch behalten können? Es ist so schön hier. Wir könnten jeden Sommer herkommen, oder nicht?«

Ich wedele eine Motte fort, die vor meinen Augen herumtanzt. »Das geht nicht, chérie. Dann müsste ich deiner Tante Camille ihren Anteil abkaufen, und das kann ich mir nicht leisten. Du weißt doch, wie sie ist.«

Du runzelst die Stirn und ziehst deine Hand weg, und für einen Sekundenbruchteil erinnerst du mich an deine Schwester. »Du würdest es doch sowieso nicht machen, selbst wenn du das Geld hättest.« Und dann, als hättest du meine Gedanken gelesen: »Es ist wegen ihr, oder?«

Ich grabe die Nägel in die Tischkante. »Emma, hast du eine Ahnung, wie schwer es für mich ist, wieder hier zu sein?« Durch den Alkohol klingen meine Worte scharf, und ich bereue sie sofort. »Hör zu, lass uns nicht streiten. Tut mir leid, dass ich noch nicht wieder mit dir hier war, aber jetzt sind wir ja da, oder?«

Du antwortest nicht, aber nach einer Weile stupst du entschuldigend gegen meine Hand. Auf einmal ist mir zum Weinen.

Auf dem Rückweg ist es dunkel. Nicht nur dunkel, stockdunkel. Die Sterne sind so gründlich von Wolken verdeckt, dass ich die schattenhaften Umrisse der Berge am Horizont erst erkennen kann, als wir an der Abzweigung sind.

Obwohl der Mond nicht zu sehen ist, erscheint mir La Rêverie wie von einem schummrigen Licht umgeben, als wir darauf zugehen. Aber vielleicht liegt das auch nur daran, dass meine Augen sich nach Jahren im Londoner Dauerleuchten erst noch ans Land gewöhnen müssen. Im Dunkeln sieht es größer aus, ein Ungeheuer von einem Haus, das sich aus seinem finsteren Graben namens Garten erhebt. Ich ignoriere die Fenster, als wir über den Pfad gehen, halte den Kopf gesenkt und tue so, als würde ich den Schlüssel in meiner Tasche suchen, obwohl ich ihn längst in der Hand habe.

Am Nachmittag habe ich die alte, weiche, leicht muffige Bettwäsche meiner Mutter ausgeschüttelt und uns beiden ein Bett bezogen: das quietschende aus Mahagoni, das Greg und ich einmal geteilt haben, nachdem es das Bett meiner Eltern gewesen war, und eins der beiden schmalen Einzelbetten im Zimmer nebenan für dich. In deinem alten Zimmer steht nur das Kinderbett, und außerdem will ich nicht, dass du dort schläfst.

»Die kenne ich noch«, rufst du beim Betreten des Zimmers, das, solange ich denken kann, nie benutzt worden ist, und deutest auf die verblasste blaue Toile-de-Jouy-Tapete, die an einer Ecke anfängt, sich zu lösen. »Als ich klein war, hab ich hier auf dem Boden gesessen und mir Geschichten über die Leute ausgedacht.« Du trittst näher heran und fährst mit dem Finger über die Männer in Strumpfhosen und die Damen mit ihren Pompadour-Frisuren und Fächern. »Ich erinnere mich an sie.«

*

Ich erwache um genau drei Uhr morgens, als die schwach beleuchteten Zeiger meines Reiseweckers ein perfektes L formen. Unten kann ich gerade noch die vergoldete Uhr im Salon die Stunde schlagen hören. Das helle, metallische Klingen ist ein Geräusch älter als alle Erinnerungen, das mich schon durch unzählige Nächte meiner Kindheit begleitet hat, und ich drehe mich beruhigt um. Ich fange gerade an, davon zu träumen, wie meine Mutter sie aufzieht, als ich mich aufsetze und das Bett unter der plötzlichen Bewegung ächzt. Ich habe die Uhr nicht aufgezogen.

*

Am nächsten Morgen sehe ich dich vor den Terrassenstufen barfuß im hohen Gras stehen. Ich schirme die Augen gegen die erstaunlich helle Sonne ab, der Schlafmangel bereitet mir Kopfschmerzen.

»Ich hab den Pool gefunden«, rufst du mir begeistert zu. »Ich wusste gar nicht, dass es einen gibt. Wie cool.«

Du weißt es nicht mehr. Ich versuche zu lächeln: Das ist doch was Gutes.

»Vielleicht können wir Wasser reinlassen, falls die Pumpe noch funktioniert«, presse ich hervor. Du kannst ausgezeichnet schwimmen, dafür habe ich gesorgt. Ich habe dir jahrelang Schwimmunterricht in einem total verchlorten städtischen Bad in der Nähe unserer Londoner Wohnung bezahlt.

Du wirfst mir einen merkwürdigen Blick zu. »Er ist schon voll.«

Ich weiß, dass das Wasser vor zehn Jahren abgelassen wurde, als wir weggezogen sind. Weder Camille noch ich haben den Pool seitdem angerührt.

Aber du hast recht. Das Wasser schimmert geheimnisvoll durch die Reihe der Mittelmeerkiefern, die mein konservativer Vater in den Fünfzigern gepflanzt hat, damit niemand seinen Töchtern was wegguckt. Es ist nicht so blendend türkisblau wie in Hotelanlagen, sondern dunkeljadegrün. An bewölkten Tagen sah es immer aus wie grüne Tinte, erinnere ich mich.

Ich knie mich an den Rand und tauche die Hand ein. Das noch kaum von der Sonne aufgeheizte Wasser gleitet mir durch die Finger wie kühle Seide. Auf der Oberfläche schwimmen nur ein paar Blätter und Insekten, die sich alle am Beckenrand sammeln. Jemand hat den Pool vor Kurzem gereinigt.

Ich frage mich, ob Olivier Lagarde das arrangiert hat. Vielleicht hat er auch die Uhr im Salon aufgezogen. Dennoch habe ich immer noch das eigenartige Gefühl, dass das Haus uns auf diese Weise willkommen heißen will. Und zum Bleiben bewegen.

Ich schaue auf mein nacktes Handgelenk. »Wie spät ist es?«

»Ungefähr halb elf, glaube ich.«

Ich richte mich wieder auf. »Um elf treffe ich mich im Dorf mit dem Anwalt.«

»Ich bleib hier.«

Ich überlege. »Ich dachte, du willst zum Supermarkt. Dann musst du schon mitkommen. Ich will auf dem Heimweg einkaufen.«

Du folgst mir grummelnd zum Haus, aber ich weiß, dass es dir eigentlich nichts ausmacht. Du hast noch nie auf deinem Willen beharrt. Mein liebes, gehorsames Mädchen.

*

Im Café im Dorf ist nur ein weiterer Tisch besetzt – ein Pärchen, wahrscheinlich aus Holland, langbeinig und mit Wanderausrüstung.

»Süße, geh doch mal da drüben im tabac stöbern.« Ich reiche dir einen nagelneuen Zehnfrancschein. »Kauf ein paar Postkarten. Der Anwalt und ich werden uns auf Französisch unterhalten.«

Du blinzelst leicht geknickt, gehst aber trotzdem, genau in dem Moment, als der Kellner auftaucht.

Olivier Lagarde erscheint, als du gerade in dem Lädchen auf der anderen Seite des Platzes verschwindest. Er sieht viel besser aus, als ich ihn mir der dunklen Erinnerung an seinen Vater nach vorgestellt habe. Es ist jetzt schon heiß, er hat die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt, und seine gebräunten Arme bilden einen strengen Kontrast zu der weißen Baumwolle und dem Chrom seiner Armbanduhr. Sein Händedruck ist fest und warm. Als er sich setzt, mustert ihn die Holländerin eingehend. Bei dem Gedanken, dass sie uns vielleicht für ein Paar hält, erschauere ich leicht.

»Madame Winters, danke, dass sie sich heute mit mir treffen«, sagt er auf Französisch. Er lächelt offen und liebenswürdig und sieht mich aufmerksam an.

»Bitte nennen Sie mich Sylvie«, sage ich und wende zuerst den Blick ab. »Außerdem heiße ich wieder Durand. Ich bin geschieden.«

»Bien sûr, dann also Sylvie. Mittlerweile haben Sie den Schaden gesehen, nehme ich an, und dass er wirklich nur oberflächlich ist. Ich hoffe, das ging aus meinem Brief auch so hervor. Ich wollte sie nicht unnötig beunruhigen. Aber Sie hatten noch Glück. Es hätte auch …« Er hebt die Hände, braucht gar nicht auszusprechen, was alles hätte passieren können.

»Weiß die Polizei, wer es war?«

Er zuckt die Schultern. »Gelangweilte Jugendliche, wer sonst? So was passiert andauernd auf dem Land. Erst recht, wenn die Leute wissen, dass ein Haus leer steht.«

»Wurde schon jemand verhaftet?«

Er schüttelt den Kopf. »Für die Polizei ist es nur eine Lappalie. Sie haben auch keine Einbruchsspuren gefunden. Tut mir leid, Mada… Sylvie, das Ganze hat sie nicht sonderlich interessiert. Einer meinte, es wären wahrscheinlich die Gattaz-Jungs gewesen.«

Ich nicke. An den Namen habe ich seit meiner Kindheit nicht mehr gedacht. Das und das Französisch, das mir so leichtfällt, fühlt sich gleichermaßen befreiend und vertraut an. Und dann wieder: einengend. Ich frage mich, ob es so weitergehen wird, eine erbarmungslose Reise in die Vergangenheit, während die Jahre in England aufflackern und am Horizont verschwinden.

Ich nehme einen Schluck von meinem Kaffee: winzig, bitter und köstlich. »Ich erinnere mich gar nicht an Sie. Von früher, meine ich.«

»Nein, ich bin in Avignon zur Schule gegangen und habe die Woche über bei meiner Tante gewohnt. Mein Vater hat darauf bestanden, aber Sie sehen ja, was dabei rausgekommen ist.« Er lächelt verschmitzt. »Ich bin trotzdem wieder hier gelandet.«

»Monsieur Lagarde«, setze ich an.

»Bitte, wenn ich Sie Sylvie nennen soll, dann nennen Sie mich Olivier.« Er lächelt wieder, als hätten wir über etwas Vertrauliches gesprochen. Mir kommt der Gedanke, dass er vielleicht flirtet, aber da bin ich so eingerostet, dass ich es einfach nicht sagen kann.

»D’accord«, sage ich und lege den Kopf schief. »Olivier. Ich habe Ihnen ja schon am Telefon gesagt, dass es vielleicht Zeit wird, La Rêverie zu verkaufen. Wir schieben das schon lange vor uns her, meine Schwester und ich, und langsam weiß ich nicht mal mehr, warum. Vielleicht ist das, was passiert ist, ja ein Zeichen, es endlich anzupacken.«

»Ich kann Ihnen beim Verkauf behilflich sein, wenn Sie das wollen. Ich könnte Ihnen jemanden bei Century 21 vermitteln. Martine. Sie ist gut. Aber Sie sollten auch wissen, dass am Markt gerade ziemliche Flaute herrscht. Der alte Pelletier-Hof steht jetzt schon seit zwei Jahren leer.«

Er nimmt Blickkontakt mit dem Kellner auf, dann sieht er wieder mich an. »Trinken Sie noch einen?«

Ich nicke unwillkürlich, und er hebt zwei Finger.

»Immerhin ist gerade Urlaubszeit«, fährt er leichthin fort. »Vielleicht beschließen ja Leute wie die dort« – er deutet mit dem Kopf auf die beiden in Wanderkluft – »dass sie gern ihr eigenes Stückchen Frankreich hätten. Fünf relativ große Schlafzimmer, großer Garten mit Pool … Das wäre schon ein tolles Ferienhaus für eine Familie. Wobei wir hier natürlich etwas ab vom Schuss liegen. Wenn wir nur eine Stunde näher an der Küste wären, wäre es natürlich einfacher … Genau das Gleiche habe ich auch Ihrer Schwester gesagt, als wir uns unterhalten haben.«

Die Sonne ist weitergewandert und knallt mir jetzt auf den Kopf. Ich rücke ein bisschen an Olivier heran, um ihr zu entkommen, und stoße dabei gegen den Tisch. Er hält ihn fest.

»Désolée«, murmele ich und merke, wie ich rot anlaufe.

Absurderweise frage ich mich, wen von uns beiden er wohl attraktiver fände, Camille oder mich. Deine Tante war schon eine typische Pariserin, bevor sie tatsächlich eine war. Sie hat die alternden Hausfrauen im Dorf schon immer für ihre breiten Hüften und schlecht gefärbten Haare verachtet. Ich habe sie noch nie ohne perfekt geschminktes Gesicht gesehen, seit sie achtzehn ist. Ich fahre mir mit der Hand durch das ungekämmte Haar, dann zwinge ich mich, damit aufzuhören.

Gegenüber schleichst du dich aus dem tabac, bleibst davor stehen und drehst einen Postkartenständer.

»Sylvie, was ich Ihnen noch sagen wollte …«

Ich warte und hoffe, dass er nicht auf das hinauswill, was ich befürchte.

Er wirkt zum ersten Mal unsicher. »Ich wollte nur sagen, wie leid mir Ihr … Verlust tut. Ich hoffe, Sie gestatten mir die Bemerkung, aber nach allem, was in dem Haus passiert ist, hätte ich es seltsam gefunden, es nicht zu erwähnen.«

Genau deswegen wollte ich niemandem begegnen, der mich von früher kennt. Olivier scheint zwar ehrlich Anteil zu nehmen, aber ich weiß, wie die Leute im Dorf sind. Stets auf neuen Klatsch und Tratsch aus, und Lücken werden gern mit Spekulationen und Mutmaßungen gefüllt. Ich frage mich, was sie sich über uns ausgedacht haben, welche Gerüchte sich gehalten und mit der Zeit zu unerschütterlichen Wahrheiten verfestigt haben.

»Danke, das ist nett von Ihnen«, sage ich. »Aber …« Ich unterbreche mich. »Ich fände es besser, wenn Sie das Ganze nicht vor meiner Tochter ansprechen. Vor Emma. Sie weiß nicht alles, was … hier passiert ist. Das mit dem Feuer – dem von damals.«

Er nickt, und wir trinken schweigend unseren Kaffee aus. Ich bin froh, als du herübergeschlendert kommst. Dein Haar glänzt in der Sonne, und du hast eine Papiertüte in der einen und ein Schokoeis in der anderen Hand.

»Hey, es ist noch nicht mal Mittag«, rufe ich auf Englisch. Olivier lacht, wahrscheinlich ist er dankbar, dass die Anspannung sich gelöst hat. Ich lächele ihn an, und plötzlich ist die unangenehme Stimmung verflogen. Ich kann mir nicht helfen, ich mag ihn.

»Es ist so schön hier«, sagst du, und deine Augen leuchten beschwörend. »Hoffentlich dauert das mit dem Haus ewig.«

Olivier grinst dich an. »Pas de problème, Mademoiselle.« Dann spricht er auf Englisch mit starkem Akzent weiter. »Das tut es in Frankreich immer.«

*

Erschöpft von der schieren Größe des hypermarché, liegen wir beide nachmittags gegen zwei am Pool. Die Sonne brennt und drückt wie ein tonnenschweres Gewicht, raubt mir noch die letzte Kraft. Ich weiß, dass ich eine Menge zu erledigen habe, aber meine Glieder sind zu Pudding geworden. Meine Hoffnung, hier bis Ende der Woche fertig zu sein, löst sich immer mehr in Wohlgefallen auf.

Ich ziehe den einzigen funktionierenden Sonnenschirm heran, damit du geschützt bist, und zerre meine eigene Liege in den gesprenkelten Schatten des Oleanders. Als ich die Augen schließe, sehe ich immer noch hellrote Lichtflecken durch die Lider. Ich bin gerade dabei einzuschlafen, als ich einen Schrei höre. Unwillkürlich springe ich auf und eile zu dir, mein Herz rast, aber du hast dich keinen Millimeter bewegt. Du döst immer noch, und Musik dringt leise und blechern aus deinen Kopfhörern.

Bestimmt habe ich es mir nur eingebildet, vielleicht schon geträumt. Ich lege mich wieder hin, komme aber nicht zur Ruhe, weil das Echo des geisterhaften Geräuschs immer noch in der schweren Luft hängt. Ich habe den Schrei erkannt. Es ist die gleiche Stimme, die mir auf der Fahrt gen Süden ins Ohr geraunt hat. Eine mädchenhafte Stimme, melodisch und doch durchsetzt mit Stahl.

Ich gehe wieder ins Haus, und mein Blick wird von der Tür zur souillarde angezogen. Die kalten Fliesen dahinter sind nach dem schwülheißen Garten ein Schock für meine nackten Füße. Die Luft ist so kühl, als würde ich durch einen Fluss waten, und ich bekomme eine Gänsehaut an den Armen. Ich sehe mir noch einmal den Schimmel an, versuche, Hinweise in seinen Mustern zu finden.

Ich bin mir sicher, dass es über Nacht schlimmer geworden ist, die schwarzen Spuren breiten sich jetzt um das kleine Fenster herum aus wie dunkle Ranken mit verwischten Blättern. Ich habe ein Spray gekauft, das sie wegbleichen soll, aber ich will es jetzt nicht benutzen, nicht länger hier drinbleiben als nötig. Ich spüre ein Prickeln im Nacken, fühle mich plötzlich nicht mehr allein, doch das bin ich mit Sicherheit.

Als ich gerade die Tür hinter mir schließe, sehe ich durchs Fenster eine Bewegung. Sie ist so flüchtig, dass ich keine Gestalt wahrnehmen kann, eher eine Veränderung im Lichtmuster draußen an der Scheune.

Am Rand der Wiese verbirgt sich ein altes Tor in der überwucherten Hecke. Es ist zugerostet, und die weiße Farbe blättert ab; als ich es mit einem Ruck aufreiße, quietscht es. Es scheint nicht so, als hätte es jemand benutzt, solange wir weg waren. Das sollte mich eigentlich beruhigen, tut es aber nicht. Es verstärkt nur das traumartige Befremden, das mich nicht loslässt, als wäre der Ort gleichzeitig verlassen und lebendig, wie abwechselnd warme und kalte Stellen im Meer.

Die Erde zwischen dem Haus und der Scheune ist wahrscheinlich noch heißer und trockener als der Garten. Ich gehe nicht in die Scheune. Ich weiß ja, wie es innen aussieht, wie zerstört sie ist.

Ich beschatte mir die Augen und betrachte den Pfad hinüber zur Einfahrt. Es sind keine Fußabdrücke zu sehen, aber weiter hinten hat irgendetwas eine ockerfarbene Staubwolke aufgewirbelt. Vorne auf der Straße verklingt der brummende Motor eines Mopeds langsam in der Ferne. Als die Luft wieder klar ist, ist alles wieder still und brütet in der Nachmittagssonne. Die einzige Bewegung ist das Flirren der Hitze, die die blauen Hügel in der Ferne verschwimmen lässt.

*

In der Dämmerung verliert der Garten seine Farbe. Wir sind gerade mit unserem ausgedehnten Abendessen aus Tomaten, Käse und Brot fertig. Ein Außenstehender würde denken, da machen es sich Mutter und Tochter im Urlaub gemütlich, aber meine Schultern sind vor Anspannung ganz steif.

Glücklicherweise scheinst du es nicht zu bemerken. Oder vielleicht doch, denn du reckst die Arme in die Luft und gähnst laut. »Daran könnte ich mich gewöhnen«, sagst du mit der Altherrenstimme, die mich immer zum Lachen bringt. »Was meinst du, mein Schatz? Bleiben wir hier?«

Es ist unser Lieblingsspiel, so zu tun, als wären wir ein altes Rentnerehepaar, das sich an Kleinigkeiten erfreut; wir spielen es auch zu Hause, wenn ich Essen mache. In letzter Zeit hattest du weniger Lust dazu, und sie hat mir gefehlt, deine exzentrische Seite, die du sonst niemandem zeigst.

»Wenn es dir hier gefällt, mein Bärchen, dann gefällt es mir auch«, sage ich und versuche, nicht zu eifrig zu klingen.

»Gutes Mädchen. Ich hätte mir all die Jahre keine bessere Frau wünschen können.«

Da fangen wir an zu kichern, können auf einmal nicht mehr an uns halten und sind den Tränen nahe. Ich ziehe meinen Ärmel herunter, um mir über die Augen zu wischen, und wir verfallen in ein Schweigen der angenehmen Art.

»Glaubst du an Geister?«, fragst du plötzlich, und der abrupte Stimmungswechsel nimmt mir schlagartig die gute Laune. Ich greife nach dem Rosé aus Bandol, den ich seit heute Nachmittag trinke. In London trinke ich sonst nur gelegentlich.

»Geister?« Meine Stimme zittert ein wenig. »Nein, ich glaube nicht. Wieso, hast du einen gesehen?« Ich will unbeschwert klingen, schaffe es aber nicht ganz, das Fragezeichen ist zu laut.

»Nein, ich hab mich das nur gefragt.«

»Hast du was Komisches gehört? Denk dran, das Haus ist alt, und jetzt ist auch noch Sommer. Bei Temperaturveränderungen knarrt und quietscht es überall.«

»Das ist es nicht.«

»Sondern?«

Du zuckst die Schultern. »An manchen Orten ist es einfach so … Ich weiß nicht. Wie hier. Klar, das Haus ist alt, aber daran liegt es nicht. Unsere Wohnung ist auch aus dem letzten Jahrhundert. Da spukt es nicht.«

»Und hier schon?«

Du zuckst wieder die Achseln.

»Fängst du morgen an, die alten Sachen durchzugucken?«, fragst du nach einer Weile. »Ich kann dir helfen, wenn du willst.«

»Das ist lieb von dir, Süße, aber das wird bestimmt eine ziemlich langweilige und staubige Angelegenheit. Ich dachte, du willst dich sonnen.« Ich versuche weiter, beiläufig zu klingen, weil ich nicht will, dass du all die Sachen siehst. Ich weiß nicht, worauf du stoßen könntest oder was ich dir auf die Fragen antworten soll, die du möglicherweise haben wirst.

Du tippst dir auf den Arm. »Meine Haut ist so käsig, die wird doch eh nie braun. Ich bin jetzt schon so rot wie Dad.« Du fixierst mich. »Willst du nicht, dass ich dir helfe?«

So nachzubohren sieht dir gar nicht ähnlich. Wir haben die unausgesprochene Übereinkunft, nur indirekt über sie zu sprechen. Aber ich habe dich schon oft dabei ertappt, wie du das Foto zu Hause im Flur betrachtet hast, das einzige Bild deiner Schwester, das bei uns an der Wand hängt. Ich nehme an, du sagst nie etwas, weil du mich nicht traurig machen willst, und ich habe dich glauben lassen, dass es wirklich so einfach ist. Aber hier liegen die Dinge anders. Vielleicht ist das erst der Anfang, die tektonischen Platten verschieben sich gerade so weit, dass ein erstes Beben droht.

»Du kannst mir helfen, wenn du möchtest«, sage ich hölzern.

»Ist noch viel von ihren Sachen übrig?«

Du siehst mich nicht an, sondern blickst in den immer dunkler werdenden Garten. Du hast dir auch einen Schluck Rosé eingeschenkt, ich habe gar nicht mitbekommen, wann.

»Ich … ich weiß nicht«, sage ich ehrlich. Ich erinnere mich nicht genau, was wir weggeschafft haben und was nicht. Während viele meiner Erinnerungen von vor zehn Jahren noch taufrisch sind, sind andere verschwommen.

»Ich weiß, dass du nicht gerne über sie redest, Mum«, sagst du und trinkst deine heimlich abgezweigten zwei Zentimeter Wein mit einem Schluck aus. »Aber ich weiß nicht, wie das gerade gehen soll. Es wäre doch merkwürdig, oder, jetzt, wo wir hier sind? Sie war meine Schwester, aber ich weiß so gut wie nichts über sie. Sie ist gestorben, du und Dad, ihr habt euch getrennt, und wir sind nach London gezogen. Das wars.«

Ich antworte nicht. Ich kann nicht mehr klar denken, weil das Blut mir so laut in den Ohren rauscht.

Du stehst auf und legst die Arme um mich. »Bitte sei nicht traurig«, sagst du, und ich spüre deinen warmen Atem am Ohr. »Du kannst mit mir reden, weißt du. Ich bin mittlerweile auch älter.«

»Aber du bist noch lange keine Erwachsene«, sage ich schärfer, als ich wollte. Eigentlich wollte ich sagen: »Du bist immer noch mein kleines Mädchen. Deine Schwester war mit dreizehn viel älter als du.«

Du richtest dich beleidigt wieder auf und ziehst deine Hand weg, als ich sie festhalten will.

Ich weiß, dass ich dir alles richtig erklären sollte. Man denkt immer, es käme noch ein besserer Zeitpunkt, bis es irgendwann zu spät ist. Aber ich fühle mich nicht dazu in der Lage, nicht jetzt.

Wir schweigen beide, und ich lausche auf die leisen Geräusche des Gartens, der sich auf die Nacht vorbereitet.

Du musterst mich eine Weile und streichst mit dem Finger über den Rand deines Glases. »Meinst du, ihr Geist lebt vielleicht hier in La Rêverie?«

Deine schauerlichen Worte wirbeln hell durch die Dunkelheit wie Nachtleuchten. Um uns herum, und das hört man nur, wenn man ihn so gut kennt wie ich, stößt der Garten ein leises Seufzen aus.

1968

Ich werde in Paris schwanger, während um uns herum die Studentenunruhen toben. Greg sagt, unser erstes Kind könne ja nur aus Feuer und Funken sein – schließlich wurde es gezeugt, während das alte, konservative Frankreich in Flammen aufgegangen ist.

Wir sind selbst Studenten oder waren es zumindest bis vor Kurzem – mit gemieteten Zimmern in der vierten Etage eines Hauses im sechsten arrondissement, von dessen Belle-Époque-Fassade der Putz abbröckelt. Greg hat bereits seinen Abschluss in Politikwissenschaft in der Tasche, während ich mein Studium in London abgebrochen habe, um hier bei ihm zu sein, nachdem er mich überzeugt hat, dass ein Abschluss sowieso nicht zählt. Es sei doch nur ein Blatt Papier, sagt er, wenn ich mal wieder darüber nachgrüble, und lässt seine langen Pianistenfinger meinen Nabel umkreisen, nur ein weiterer Trick des Establishments, um Leute dazu zu bringen, sich in eine konventionelle Halbexistenz zu begeben. Was zähle, sei das hier. Er deutet in Richtung der Stadt hinter unseren hohen, verstaubten Fenstern. Das echte Leben.

Wir waren nach Paris gekommen, weil er angeblich mein Heimatland besser kennenlernen wollte. Er hatte Französisch in der Schule immer gemocht und als Kind einige Urlaube in Frankreich verbracht: anregende Wochen an der Küste der Nordbretagne, wo er sein erstes erotisches Erlebnis hatte. Ich denke manchmal über sie nach, diese Madeleine von damals, die in den frühen Sechzigern einen jugendlichen Greg verführte. Seit ihr hat er diese Schwäche für Französinnen, die ihn eines dunklen Winternachmittags zielsicher zu mir führte, als ich an einem milden Ale nippend in einer Studentenbar saß und versuchte, den Eindruck zu vermitteln, dass ich in London weder Kälte noch Heimweh verspürte und englisches Bier mochte. Ohne Madeleine wäre er vielleicht geradewegs an mir vorbeigelaufen und hätte stattdessen eine Engländerin geheiratet. Und ich? Ich wäre wieder nach Hause gegangen, hätte einem netten Jungen aus meinem Heimatdorf das Jawort gegeben, und London hätte sich so leicht von mir gelöst wie Dreck unter der Dusche. Wenn ich darüber nachdenke, über das Schicksal und seine Launen und wie wir uns um ein Haar verpasst hätten, wird mir ganz schwindelig.

Greg wollte auch wegen der zunehmenden Unruhen nach Paris. Er hatte von Nanterre gehört, wo nach dem Konflikt zwischen Behörden und Studenten die Universität geschlossen worden war. Ich necke ihn oft wegen seines Versuchs, seine bürgerliche Herkunft abzuschütteln und sich gefährlicher zu geben, als er ist. Seine armen Eltern sind entsetzt darüber, dass ihr gescheiter Sohn auf die schiefe Bahn geraten und mit einer ausländischen Geliebten nach Paris durchgebrannt ist.

Bald ist Juli, und während sich die Stadt wie üblich allmählich mit Touristen füllt und in der Hitze zu glühen beginnt, gehen die Aufstände weiter. Wir kündigen unsere Studentenbuden und nehmen den Zug nach Süden, wo Greg meine Eltern kennenlernen soll. Wir rattern durch das weite Landesinnere meiner Heimat, und mein Mund schmeckt nach alten Münzen, denn ich bin inzwischen im dritten Monat schwanger. Ich greife nach der Hand meines frischgebackenen Ehemannes. Wir sind seit zweiundzwanzig Stunden verheiratet. Sein Vorschlag zu heiraten, als er von meiner Schwangerschaft erfuhr, hat mich überrascht. Ich hatte erwartet, er würde auf solche Konventionen pfeifen.

Genauso überrascht mich, dass er La Rêverie, das Dorf und sogar meine Eltern ins Herz schließt. Ich hatte insgeheim befürchtet, er würde sie für biedere Konformisten halten und beim Abendessen mit meinem Vater über Katholizismus streiten. Aber das tut er nicht, ihre exotische Ausstrahlung und der sanfte Zauber des Hauses schlagen ihn mühelos in ihren Bann.

Die Monate ziehen friedlich dahin, und eine Rückkehr nach Paris oder London wird mit keinem Wort erwähnt. Stattdessen bleiben wir im Haus meiner Kindheit. Während Silberstreifen meinen wachsenden Bauch überziehen und dunkle Tupfer auf meinen Wangen sprießen, schwebe ich in einer Art Himmel, vertrödle still die Tage – ein wattiertes, mit funkelnden Regenbogen überzogenes Leben. Meine Mutter strickt winzige Kleidungsstücke aus der weichsten Wolle, und ich bemale die Wände des künftigen Kinderzimmers mit Dschungeltieren.

Als der Sommer langsam in den Herbst und dann in den Winter übergeht, kann ich es kaum mehr erwarten, sie kennenzulernen. Ich weiß mit Sicherheit, dass es ein Mädchen wird. Wenn sie tritt, ziehe ich meine Bluse hoch und betrachte, wie meine Haut unter ihren Fersen wogt. Vorfreude durchströmt mich bei dem Gedanken, dass ich schon bald diese kleinen Füße in meinen Handflächen halten werde.

Ich habe keine Angst, sondern freue mich einfach. Eines Nachts finde ich keine bequeme Schlafposition. Ich denke wieder einmal daran, wie sehr ich mir wünsche, dass sie schön und intelligent wird. Ich will, dass sie etwas Besonderes wird, und drücke mir unter der Decke selbst die Daumen. Am Morgen drehe ich mich zu Greg und gebe ihm einen Kuss auf die nackte Schulter. »Mir ist ein Name für sie eingefallen«, sage ich und streiche ihm die langen Strähnen aus den Augen. »Ich habe ihn geträumt. Wir nennen sie Élodie.«

1993

Vielleicht ist es das, was du über Geister gesagt hast, was mich nach dem Abendessen in ihr Zimmer zieht. Ich habe zu viel getrunken, auf der Treppe wird mir leicht schwindelig. Ich spüre ein Kribbeln im Bauch, als ich den Treppenabsatz erreiche.

Ich habe noch einen alten Vorrat an Glühbirnen in der Küche gefunden, und mir gelingt es, die Birne in der Flurlampe unfallfrei zu ersetzen, denn aus den umliegenden Zimmern fällt genügend Licht hinein. Mir kommt der flüchtige Gedanke, dass ich mit der Birne in Élodies Zimmer bis morgen warten sollte, aber ich kann mich nicht länger zurückhalten, und der Alkohol spornt mich zusätzlich an.

Wie selbstverständlich trage ich einen Stuhl in ihr Zimmer, klettere summend darauf, um meine Nervosität zu überspielen, eine Hand tastet im Halbdunkel nach der Lampenfassung. Als ich gegen das alte Bakelit stoße und das Kabel zu schwingen beginnt, zucke ich zusammen, und als ich versuche, es wieder zu fassen zu bekommen, berühre ich für den Bruchteil einer Sekunde ein nicht isoliertes Stück Kabel. Ein gewaltiger Stoß durchzuckt mich, wie ein heftiger Knall in meinem Innern.

Als ich die Augen wieder aufschlage, liege ich rücklings auf dem Boden, über mir schwingt die Lampenfassung hin und her, von unten dringt gedämpfte Musik zu mir. Ich frage mich gerade, ob mein elektrogeschocktes Hirn sie sich einbildet, da drehst du sie lauter. Natürlich kannst nur du es sein, aber einen Augenblick lang gerate ich ins Zweifeln.

Ich kenne dieses Lied in- und auswendig, auch wenn ich es seit Jahren nicht gehört habe. Die sehnsüchtigen ersten Zeilen von »Good Vibrations«, sunlight, hair, perfume