Cover

Alabama in den Zwanzigerjahren. Roscoe T. Martin ist Mitte dreißig und in seiner Zeit eine Art Pionier: Er arbeitet als Elektriker und das mit großer Leidenschaft. Als seine Frau Marie jedoch die Farm ihres Vaters erbt, sieht er sich gezwungen, mit ihr und dem gemeinsamen Sohn aufs Land zu ziehen. Er findet sich in einem Leben wieder, das er so nie gewollt hat.

In der Ehe kriselt es, auch aufgrund wirtschaftlicher Probleme. Um der Farm zu neuem Aufschwung zu verhelfen, zapft Roscoe, unterstützt vom schwarzen Hilfsarbeiter Wilson, staatliche Stromleitungen an. Eine Weile geht alles gut – bis ein Techniker bei einer Routinekontrolle einen tödlichen Stromschlag erleidet. Roscoe wird wegen Mordes und Diebstahls zu zwanzig Jahren Haft verurteilt, während Wilson als Zwangsarbeiter in einer Kohlemine quasi-versklavt wird: eine Schuld, die auf Roscoe ebenso lastet wie auf seiner Frau Marie.

›Ein anderes Leben als dieses‹ ist gleichzeitig ein intensives Familienporträt, ein Sittengemälde Alabamas zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts und ein großer Gefängnisroman, der eindrücklich einen Sozialraum zeigt, in dem sich alle moralischen Regeln verkehren.

Autorin

Credit: © Suzanne Koet

Virginia Reeves studierte am Michener Center for Writers in Texas. Sie veröffentlichte u.a. in The Baltimore Review. Mit ihrem Debütroman ›Ein anderes Leben als dieses‹ stand sie auf der Longlist des Man-Booker-Preises. Sie lebt mit ihrer Familie in Austin, Texas.

Simone Jakob übersetzt englische Literatur ins Deutsche, u.a. von Anne Tyler, David Nicholls, Karen Russell, Gregory Sherl und Shreyas Rajagopal.

Hannes Meyer lebt und arbeitet als freier Übersetzer in Düsseldorf. Er übersetzte unter anderem Bücher von Dana Spiotta, Giles Foden und James Franco.

Virginia Reeves

EIN ANDERES LEBEN
ALS DIESES

ROMAN

Aus dem Englischen von
Simone Jakob und Hannes Meyer

Für meine Großmutter, Therese Reeves

 

»Alabama bedeutet nicht ›Hier ruhen wir‹. Das hat es nie.«

Mrs. L. B. Bush,
A Decade of Progress in Alabama, 1924

 

»Kilby Prison wird den Staat Alabama in Kürze von einem der hinteren Ränge auf einen der vordersten im Bereich der Gefängnisverwaltung katapultieren. Der Staat Alabama folgt dem Beispiel von New York und Virginia, indem er ein zentrales Verteilungsgefängnis einrichtet, wohin Gefangene unverzüglich nach ihrer Verurteilung überführt werden. Dort erwartet sie Folgendes: erstens eine genaue Überprüfung ihrer Vorgeschichte; zweitens eine gründliche psychologische und körperliche Untersuchung durch ausgebildete Spezialisten; drittens eine umfassende Behandlung all ihrer heilbaren Gebrechen; viertens die Zuweisung der Beschäftigung im Gefängnis, für die sie sich am besten eignen; und fünftens eine systematische Schulung zum Zwecke der Bewährung, damit der Insasse eines Tages, wenn möglich, als produktiver, nützlicher, aufrechter und anständiger Bürger in die Gesellschaft zurückkehren kann.«

Hastings H. Hart,

Social Progress of Alabama, 1922

TEIL EINS

KAPITEL EINS

Die Transformatoren, die eines Tages George Haskin töten würden, befanden sich auf einem hohen Mast etwa zehn Meter vom nordöstlichen Teil der Farm entfernt, auf der Roscoe T. Martin mit seiner Familie lebte. Es waren insgesamt drei, und sie wandelten den Strom der Alabama Power Company um, sodass er durch die neuen Leitungen um einen Zaun herum, durch den Wald und dann auf direktem Weg zur Farm und zur Scheune fließen konnte. Roscoe hatte sie selbst gebaut und auch die neuen Leitungen verlegt – ohne Genehmigung.

Die Idee, hier Strom abzuzweigen, war ihm vor fast einem Jahr gekommen. Roscoe hätte damals eigentlich mit seiner Familie beim Abendessen sitzen sollen, aber er hatte seinem Sohn wehgetan und seine Frau zum Weinen gebracht, also streifte er stattdessen über das verdammte Land, das seine Frau ihm aufgezwungen hatte. Er nahm den Weg durch das nördliche Maisfeld, der ihn zu den neuen Stromleitungen an der Old Road führte. Der junge Mais reichte ihm bis zur Taille, und die riesigen Gräser streiften seine Finger; ein so scheußliches Gefühl, dass er um sich schlug wie nach Insekten. Von all den Nutzpflanzen auf der Farm seiner Frau war Roscoe der Mais mit seinen monströsen Ausmaßen, dem unnatürlichen Wachstum am meisten zuwider. Halme, Blätter, Samen: Alles an ihm war zu groß.

Seine Frau und sein Sohn hatten zusammen auf dem Sofa gesessen und im Schein einer Öllampe gelesen. Zu der Zeit, als Roscoe ihr den Hof gemacht hatte, war das eine Sache gewesen, die sie miteinander geteilt hatten, aber mittlerweile war das ihrem Sohn vorbehalten.

Sie hatten nicht aufgesehen, als Roscoe den Raum betrat.

»Was lest ihr?«, fragte er.

»Ein Buch«, murmelte sein Sohn und kuschelte sich an seine Mutter.

Roscoe warf einen Blick auf den Einband. »Das Haus der verlorenen Bücher, so, so. Und worum geht’s?«

Ein Ausdruck von Ärger breitete sich auf Maries Gesicht aus. »Es geht um eine Frau, die eine reisende Buchhandlung betreibt. Sie hat die Nase voll davon, sich um ihren Bruder zu kümmern.« Überdruss lag in ihrer Stimme, als würde sie mit einem widerspenstigen Kind sprechen, das sich weigert, seine Lektionen zu lernen. »Der Bruder drückt sich nämlich davor, die Farm zu bestellen.«

Sie wusste, dass sie zu weit gegangen war, noch bevor Roscoe reagieren konnte, und streckte in einer Art beschwichtigender Geste unsicher die Hand nach ihm aus, doch er schlug sie beiseite. Gerald presste sich noch enger an seine Mutter.

»Meine Schuld ist das nicht«, sagte Roscoe zu ihr. »Du wusstest, dass ich kein Farmer werden will.«

Sie griff nach seinem Arm, aber der Zorn packte ihn rasend schnell, das kannte er schon, er wuchs mit der Wut – der Zimmerdecke entgegen, die ihr Vater eigenhändig verputzt hatte. Er riss ihr das Buch aus der Hand und warf es quer durch den Raum. Es traf einen Keramikteller an der Wand, der zerbrach.

»Geh nach oben, Gerald«, sagte sie.

Roscoe beugte sich zu seinem Sohn hinunter. »Du liest also etwas über Abschaum wie deinen Pa, hm? Einen nichtsnutzigen Faulpelz, der seine Farm nicht bestellen will?« Der Junge machte große Augen, das Weiße darin quoll rund hervor, er presste die zitternden Lippen aufeinander wie ein Feigling.

Roscoe packte seine Arme und entriss ihn seiner Mutter. Marie zerrte an Geralds Hemd, doch Roscoe war stärker. Er hob den Jungen hoch, bis ihre Gesichter sich fast berührten, umklammerte seine Oberarme noch etwas fester und flüsterte: »Ich bin klüger, als du es je sein wirst.«

Dann tauchte Marie wieder in seinem Blickfeld auf, sie griff nach Roscoes Arm, in sein Gesicht, schrie ihn an, er solle loslassen, und er tat es – ließ ihr ihren Sohn vor die Füße fallen, stürmte türenknallend aus dem Haus und rannte über die grässlichen Felder zu den Stromleitungen, die er so liebte.

Eine Farm war kein Ort für einen Elektriker. Das hatte er ihr oft genug gesagt. Er hatte das ganze letzte Jahr damit verschwendet, an einer alten mechanischen Dreschmaschine herumzubasteln und in der Bibliothek seines verstorbenen Schwiegervaters zu lesen. Jeden Tag fragte Marie ihn, was er heute vorhabe, und jeden Tag sagte er: »Auf alle Fälle werde ich nicht diese gottverdammte Farm bestellen.«

»Du bist freiwillig mit hierhergekommen«, antwortete sie dann. »Niemand hat dich gezwungen.«

Sie war genauso verbittert wie er, nach dem, was er gerade getan hatte, verachtete sie ihn wahrscheinlich sogar noch mehr. Der Junge würde an den Armen blaue Flecken bekommen.

Unter der nächstgelegenen Stromleitung blieb Roscoe stehen. Es wurde langsam dunkel, und das harte, metallische Zirpen der Zikaden schwoll an. Wäre Maries Vater nicht gestorben, würde Roscoe heute noch im Kraftwerk an Schleuse 12 arbeiten. Er würde mit seiner Familie im Dorf wohnen und den Beruf ausüben, der ihm so viel bedeutete.

Sein Vorarbeiter hatte ihm vor Kurzem einen Brief geschickt – seine Stelle sei noch frei, falls er sie zurückhaben wolle.

Er dachte über diese Möglichkeit nach, als ihm plötzlich die Idee mit den Transformatoren kam, sie tauchten vor seinem inneren Auge auf wie eine Vision – zwei oder drei, auf einem eigens dafür errichteten Mast, angeschlossen an neue Stromleitungen, die er selbst legen würde. Er sah die Farm vor sich, elektrisch beleuchtet, die Küchengeräte, die Marie im Dorf so gefallen hatten. Und er sah, wie die Farm gerettet werden konnte. Die Elektrizität würde alles richten.

Irgendwann trieb die Müdigkeit ihn zurück in Richtung des Hauses, und als er die Mitte des Maisfelds erreichte, hatte er eine glasklare Vorstellung davon, wie die Elektrizität Maries Farm wieder zum Aufschwung verhelfen konnte. Er würde die verdammte Dreschmaschine so umbauen, dass sie mit Strom betrieben werden konnte – hatte er das im Grunde nicht schon die ganze Zeit versucht? –, und er würde dafür sorgen, dass die Maschine die Arbeit all der Männer erledigte, die Marie jedes Jahr für die Ernte einstellen musste, mit Geld, das sie nicht hatten. Die Dreschmaschine würde umsonst arbeiten, mithilfe des abgezweigten Stroms, und die Farm würde so viel Gewinn abwerfen, wie Marie es nur aus den Erzählungen ihrer Kindheit kannte.

Er sann einen Monat lang über die Idee nach, bis er damit zu Wilson ging.

Marie saß auf der Vorderveranda, trank Kaffee und las im Almanach. Seit der Auseinandersetzung hatte sie kaum ein Wort mit ihm gesprochen, und auch als er jetzt durch die Fliegengittertür trat, beachtete sie ihn nicht.

Das Wetter war mild, alles grünte und blühte unter der Aprilsonne.

»Weißt du, wo Wilson ist?«, fragte Roscoe sie.

Marie sah nicht auf.

»Marie, weißt du, wo Wilson ist?«

Sie hielt den Blick gesenkt. »Bei der Arbeit.«

Roscoe wünschte, er könnte ihr von seinem Plan erzählen, wünschte, sie wäre noch der erste Mensch, zu dem er mit Neuigkeiten und Ideen gehen wollte. Er wünschte, da wäre irgendetwas Einladendes, Ermutigendes in ihrem Gesicht, die Andeutung eines Lächelns. Marie, wollte er sagen, ich habe da etwas, was dich interessieren könnte, vielleicht fällt dir dazu ja sogar ein Vergleich mit deinen Vögeln ein. Marie interessierte sich für Vogelkunde – etwas, was ihm von Anfang an an ihr gefallen hatte –, sie nahm jedes Zwitschern, jedes gemusterte Gefieder, jedes noch so flüchtige Aufblitzen von Blau in der Stechpalme wahr. Sie versuchte Menschen und ihre Eigenschaften zu fassen, indem sie sie mit den Vögeln verglich, denen sie ähnelten. Als er damals um sie geworben hatte, waren sie eines Abends am Coosa River entlangspaziert, und sie hatte ihn auf die Seidenschwänze aufmerksam gemacht, Vögel mit schwarzen Streifen über den Augen und gelblich-orangefarbener Schwanzspitze. »Sieh nur«, hatte sie gesagt und auf die wild durcheinanderfliegenden Vögel gedeutet, die über dem Wasser herumwirbelten und ihre Kreise zogen. »Sie sind völlig betrunken, weil sie die getrockneten, vergorenen Beeren fressen.« Sie schwieg kurz. »Manchmal erinnerst du mich an sie. Wie berauscht von der Elektrizität.« Später hatte sie zugegeben, dass die trunkenen Seidenschwänze ihre Lieblingsvögel waren, und Roscoe nahm es als Kompliment, streng und zärtlich zugleich.

Er konnte sich nicht erinnern, wann Marie ihn zuletzt auf einen Seidenschwanz hingewiesen oder wann es zuletzt so etwas wie Zärtlichkeit zwischen ihnen gegeben hatte.

»Wo arbeitet Wilson?«, fragte er.

»Auf dem Nordfeld. Er repariert die Querbalken am hinteren Zaun. Er könnte etwas Hilfe gebrauchen.« Sie wandte sich wieder ihrem Buch zu, den üblichen Ausdruck ständiger Erschöpfung im Gesicht, und Roscoe verließ sie, ohne sich zu verabschieden. Über so etwas wie Begrüßungen oder Abschiedsworte waren sie längst hinaus.

Die Farbe der Verandatreppe war gesprungen, einige Splitter davon flogen durch die Luft, als Roscoe die Stufen hinunterging. Früher war die Treppe ebenso weiß gewesen wie das Haus, aber jetzt war alles grau, sowohl die nackten Bohlen als auch die verbliebene, vom Alter stumpf gewordene Farbe. Roscoe blickte zu seiner Frau auf der Veranda zurück, sah, wie trostlos alles war, was sie umgab, die Spuren des Verfalls am Haus und auf dem Land ihres Vaters. Kletterpflanzen überwucherten die Schornsteine und Fliegengitter der Veranda, zerfraßen den Mörtel. Das Heim ihrer Kindheit war nicht mehr dasselbe, und Roscoe konnte, hier und jetzt, die Enttäuschung seiner Frau verstehen. Sie hatte die Farm retten und den Glanz, den diese unter ihrem Vater erlebt hatte, wiederherstellen wollen, aber seit ihrer Ankunft hatte sich nichts zum Besseren gewendet. Ihnen gelang es nicht einmal, den Status quo aufrechtzuerhalten. Ihre Erträge und ihre Ersparnisse schrumpften mehr und mehr, das Haus verfiel und das Land ließ sie im Stich.

Es hatte Zeiten gegeben, in denen Roscoe ihr sein Mitgefühl gezeigt hätte; früher, als er damit noch etwas bewirkt hätte.

Er ließ Marie in dem zerfallenden Haus zurück und nahm einen Pfad, der durch ein Dickicht zu einer Weggabelung führte. Links ging es zu der Hütte, in der Wilson mit seiner Familie wohnte, rechts zu dem Maisfeld, an dessen Furchen der Weg endete.

Er machte so viel Lärm, dass Wilson ihn schon kommen hörte, bevor er ins Feld trat.

»Was bringt dich her, Ross?«

Roscoe stützte sich schwer auf den Querbalken, den Wilson gerade angebracht hatte. »Ich denke über ein neues Projekt nach. Könnte deine Hilfe brauchen.«

Wilson lachte, wie er es auch abends beim Kartenspielen tat, wozu Roscoe ihn manchmal überreden konnte, oder wenn sie die Angelschnur im Teich auswarfen, um Wolfsbarsche oder Blaue Sonnenbarsche anzulocken. Ein kurzes Auflachen, ein Schnauben durch die Nase.

»Kann mir nicht vorstellen, dass dein Projekt viel mit der Farm zu tun hat.« Wilson hämmerte einen Nagel in einen dicken Zweig, den er gerade frisch abgesägt hatte und aus dem noch Harz tropfte.

»Ich weiß, wie man die Farm retten kann.« Davon war Roscoe mittlerweile fest überzeugt. Und nicht nur die Farm, auch seine Beziehung mit Marie. Der Gedanke löste ein sehnsüchtiges Ziehen in seiner Magengrube aus. Er konnte alles wieder in Ordnung bringen. Die Dinge geraderücken.

»Die Farm braucht nicht gerettet zu werden, Ross.«

Das war, was Marie dachte, und sie verbreitete ihre Ansichten wie das Wort Gottes. Sie erzählte jedem, einschließlich der Hilfsarbeiter, dass die Farm nichts weiter brauche als mehr Arbeitskräfte. Aber da irrte sie sich. So wie ihr Vater sich in dieser Hinsicht geirrt hatte.

»Ich will Stromleitungen verlegen. Hier am Feldrand. Das ist der perfekte Ort, der Strommast steht direkt um die Ecke.«

Wilson hatte einen zweiten Nagel eingeschlagen und rüttelte an dem neuen Querbalken, um zu prüfen, ob er fest genug saß. Das Holz bewegte sich keinen Millimeter. »Der Strom gehört der Stadt, Ross. Wie kommst du darauf, dass sie dir einen Anschluss genehmigen?«

»Ich würde sie nicht fragen.«

Wieder lachte Wilson und ging einen Zaunpfahl weiter. Der nächste Querbalken war verrottet und hatte in der Mitte einen Riss. »Du willst Strom stehlen?«

Jetzt war es Roscoe, der lachte. »Es geht sowieso schon jede Menge bei der Übertragung verloren – was wir nehmen würden, wäre nichts im Vergleich dazu. Ein Tropfen auf den heißen Stein, Wilson. Das bisschen würde niemand vermissen.«

Wilson zog mit dem Kuhfuß die Nägel aus dem morschen Holz. »Wie willst du die Stromleitungen anzapfen, ohne dabei draufzugehen?«

»Wir würden zuerst die Leitung lahmlegen. Außerdem mache ich so was ja nicht zum ersten Mal.«

Wilson sah ihn an. »Selbst wenn du das schaffst, wie soll ein bisschen Strom die Farm retten?«

Roscoe schlug mit der flachen Hand auf den Zaun, diese Idee war so gut! »Ich kann eine Benzin-Dreschmaschine so umbauen, dass sie mit Strom läuft. Überleg mal – kein Enthülsen und Dreschen mehr. Wir könnten deutlich mehr Erdnussfelder abernten. Und die Maschine macht fast die ganze Arbeit. Ich weiß, dass wir die Farm wieder ans Laufen bringen können, Wilson. Ich bin mir todsicher.«

Wilson schaute auf das Nachbargrundstück, auf dem das Gras in die Höhe geschossen war, weil die Kühe an anderer Stelle grasten. Vermutlich versuchte er sich die Dreschmaschine vorzustellen. Roscoe wünschte, er könnte seine Vision in Wilsons Kopf pressen, die riesige, gedrungene Maschine in der Werkstatt, die von den Halmen befreiten Ähren, fertig zum Verkauf. Sieh es vor dir, Wilson.

Wilson schüttelte den Kopf. »Die Farm braucht keine Elektrizität, Ross. Sie braucht mehr Leute.«

»Verdammt, Wilson. Das ist Maries alte Leier, aber selbst mir ist klar, dass wir uns nicht mehr Leute leisten können. Dass Marie hier aufgewachsen ist, macht sie noch lange nicht zur Expertin. Das weißt du doch selbst. Teufel, du kanntest sie schon, als sie noch ein Schulmädchen war, das den ganzen Tag lang in der Bibliothek seines Vaters gelesen hat. Und dann ist sie bei der erstbesten Gelegenheit zur Universität abgehauen. Sie ist Lehrerin, keine Farmerin, verdammt.«

»Es ist ihr Land, Ross.«

»Es ist auch meins.«

Wieder schüttelte Wilson den Kopf. »Willst du jetzt den Boss rauskehren?«

Roscoe trat gegen das Grasbüschel, das um einen der Zaunpfähle wuchs. Er war nicht Wilsons Boss. Und Marie auch nicht. Wilson lebte auf diesem Land, seit er ein kleiner Junge war, und hatte Maries Vater schon während ihrer Kindheit geholfen, es zu hegen und zu pflegen. Er war der Boss der Farm, wenn es denn so etwas gab, und Roscoe war gekommen, um ihn um Erlaubnis zu fragen, ein Untergebener mit einer revolutionären Idee. Bitte, geben Sie mir eine Chance, Boss! Lassen Sie es mich versuchen.

»Ich bin nicht dein gottverdammter Boss. Ich bin Elektriker, und wenn ich hierbleiben will, muss ich zeigen, was ich kann.« Roscoe stützte den Ellbogen auf den Zaun. »Ich weiß, wie wenig ich hier im letzten Jahr geholfen habe. Aber so kann ich wirklich etwas bewegen.«

Wilson arbeitete weiter.

»Ich habe eine Nachricht von meinem alten Vorarbeiter im Kraftwerk bekommen. Er sagt, sie halten mir einen Job frei. Alle Türen stehen mir offen. Wenn ich das hier nicht machen kann, muss ich wohl zurückgehen.«

»Du würdest Marie und Gerald nie im Stich lassen.«

»Doch.« Als Roscoe es aussprach, wusste er, dass es stimmte. Wenn dieser Plan – die Transformatoren, die Leitungen, die Dreschmaschine – nicht funktionierte, würde er ins Dorf, zur Schleuse 12 am Ufer des Coosa River zurückkehren, wo er Marie kennengelernt hatte. Er würde in eine Wohnung für ledige Arbeiter ziehen und jeden Morgen über die lehmige Straße zum Damm gehen, wo Drähte, Isolierrohre und neue Leitungen darauf warteten, verlegt zu werden. Er würde seine Frau und seinen Sohn verlassen, um seinen Elan und Tatendrang zurückzubekommen. Daran bestand kein Zweifel.

Wilson setzte das Brecheisen in der Lücke zwischen dem Pfahl und dem Querbalken an, um das gebrochene Holz zu entfernen. Während Roscoe ihm zuschaute, hoffte er halb, dass Wilson Nein sagen würde. Dann könnte er zurück ins Haus gehen, eine kleine Tasche packen, seinen Sohn auf den Kopf und seine Frau ein letztes Mal auf die trockenen Lippen küssen und nach Süden aufbrechen. Er würde den ganzen Weg laufen, ohne müde zu werden.

»Was müsste ich dabei tun?«, fragte Wilson.

»Ich brauche deine Hilfe beim Aufstellen der Masten und beim Verlegen der Leitungen.«

»Mehr nicht?«

»Mehr nicht.«

Roscoe sah sich über Felder wie das benachbarte laufen, über staubige rote Wege, vorbei an Farmen, denen es noch schlechter ging als dieser hier.

»Erzählst du Marie davon?«

Roscoe sah, wie er sich umdrehte, zurück zur Veranda ging und Marie in die Arme schloss. »Ja, dass wir Strom bekommen.«

»Aber woher, sagst du ihr nicht?«

»Ich sage ihr, dass er von der Alabama Power kommt. Mehr braucht sie nicht zu wissen.«

»Du willst die Rechnungen fälschen?«

»Wenn’s sein muss. Die Alabama Power Company verlegt bestimmt in den nächsten fünf Jahren hier ihre eigenen Anschlüsse. Das klärt sich schon irgendwie.«

»Also muss ich deine Frau fünf Jahre lang belügen.«

»Höchstens.«

»Und was ist mit Moa?«

An Moa hatte Roscoe gar nicht gedacht, auch wenn er es hätte tun müssen. Sie wusste alles, was auf der Farm vor sich ging. Moa war Wilsons Frau, und sie war die Matriarchin der Farm, eine strenge, gleichzeitig herzliche Erscheinung. Sie war nur acht Jahre älter als Marie, aber als Maries Mutter gestorben war, hatte Moa ihren Platz eingenommen. Sie war groß, gertenschlank und hatte kaffeefarbene Haut, viel heller als die von Wilson, und sie trug die Haare an beiden Seiten zu wellenförmigen Rollen hochgesteckt. Roscoe wusste, dass sie eine Schwäche für ihn hatte und ihn bei jeder Gelegenheit verteidigte, aber er wusste auch, dass sie Marie nie belügen würde. Und Wilson konnte Moa nicht belügen. Ihre Beziehung war innig, abends machten sie immer Spaziergänge zum Teich, während ihre drei Kinder bei Gerald im Haus blieben. Ihr Umgang miteinander war locker und ungezwungen, es wurde viel gelächelt und nur sanft geschimpft.

»Könntest du es vor ihr geheim halten?«, fragte Roscoe.

Wilson stemmte sich gegen das Brecheisen, und ein Nagel löste sich quietschend. »Es wäre besser, wenn sie nichts davon erfährt. Falls etwas schiefgeht, wird sie nicht mit reingezogen.«

»Es geht schon nichts schief.«

Wilson schüttelte den Kopf, nahm den alten Balken und warf ihn auf die Nachbarwiese. »Hier« – er hob den neuen auf –, »kannst du den mal für mich halten?«

Es war das erste Mal, dass Roscoe Wilson bei der Farmarbeit half, und tatsächlich machte es ihm nichts aus. Er sagte sich wieder und wieder, dass er nicht zum Kraftwerk und zu Schleuse 12 zurückkehren musste. Dass er nicht gehen musste. Er würde bleiben und dafür sorgen, dass die Farm Gewinn brachte. Er würde wieder seine Arbeit machen, Arbeit, die mit Stromkreisen und Drähten zu tun hatte, Kräften und Reaktionen, und die Farm würde aufblühen, sodass sie sich praktisch von selbst führte. Marie könnte wieder anfangen zu unterrichten; wenn sie wollte, könnte sie sogar eine kleine Dorfschule eröffnen, die Bücher aus der Bibliothek ihres Vaters benutzen. Sie würden ihre Ehe in Ordnung bringen, und Roscoe würde endlich seinen Sohn richtig kennenlernen. Alles würde ins Reine kommen.

Moa bemerkte die Veränderung sofort. »Meine Güte, Mr. Roscoe. Sie sehen heute Abend aber zufrieden aus. Worüber freuen Sie sich denn so?«

Marie sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an, als wollte sie sagen: Ja, was genau ist da los? Misstrauen lag in ihrem Blick, kratzig wie Maishalme.

»Ich habe heute eine gute Nachricht bekommen.«

Roscoe und Wilson saßen sich an den Tischenden gegenüber. Marie und Gerald flankierten Roscoe, so wie Wilsons Familie ihn einrahmte – Moa und Charles auf der linken, Henry und Jenny auf der rechten Seite. So saßen sie jeden Mittwoch, wenn beide Familien sich im großen Haus versammelten.

»Und?«, bohrte Moa nach.

»Die Alabama Power will einige Farmen ans Stromnetz anschließen, und wir sind die Ersten auf ihrer Liste.«

Neugier schien die Verbitterung aus Maries Zügen zu verdrängen. »Wir kriegen hier Strom?«

»Ganz genau, und sie haben mich gebeten, die Leitungen zu verlegen – eine Auftragsarbeit.«

»Heißt das, wir kriegen elektrisches Licht, Pa?«, fragte Gerald.

»Genau das heißt es, mein Junge, und außerdem – können wir die alte Dreschmaschine wieder in Betrieb nehmen.«

»Du weißt, dass uns dafür das Geld fehlt«, sagte Marie. »Ganz zu schweigen von dem Benzin, das die Maschine schluckt.«

»Das ist es ja«, sagte Roscoe. »Ich kann sie so umbauen, dass sie mit Strom funktioniert.«

»Wäre der Strom denn nicht auch zu teuer?«

»Lange nicht so teuer wie Benzin.«

Roscoe sah, dass Marie eigentlich lächeln wollte, aber sie kämpfte dagegen an, zwang ihr Gesicht, starr und ruhig zu bleiben. »Ich dachte, Farmarbeit wäre unter deiner Würde.«

»Sie ist eben nicht meins. Aber diese Arbeit schon.«

Roscoe folgte Maries Blick auf die andere Tischseite zu Wilson, der still und reglos dasaß. »Was hältst du davon, Wilson?«

Wilsons Miene war ebenso undurchdringlich wie sein Schweigen. »Tja, Miss Marie, Roscoe hat das Ganze mit mir durchgesprochen, und ich glaube, es ist genau das, was die Farm braucht.«

Wilsons Vertrauen – ob vorgetäuscht oder echt – reichte aus, um auch Marie Vertrauen einzuflößen, und Roscoe sah ein flüchtiges Lächeln über ihr Gesicht huschen. »Wirst du den Auftrag annehmen?«, fragte sie.

Roscoe nickte, und für einen Moment waren sie wieder zu zweit, wie vor Geralds Geburt, schlenderten allein, jung und voller Hoffnung am Ufer des Coosa River entlang, sahen zu, wie der Fluss auf den Damm zuströmte, wo er Elektrizität erzeugte, waren wie hypnotisiert von ihrer Zukunft, die voller Licht, Energie und Veränderung zu sein schien, und ihre Freude war wie der Fluss, strömte und drängte vorwärts, und Roscoe erkannte, wie sehr diese Gefühle ihm gefehlt hatten. Wie sehr seine Frau ihm gefehlt hatte.

KAPITEL ZWEI / ROSCOE

Rings um Kilby Prison verläuft eine sechs Meter hohe Mauer, die mit vier Reihen Stacheldraht bewehrt ist. Zwei davon sind mit jeweils sechundsechzigtausend Volt geladen. Die beiden anderen sind geerdet, und soweit ich weiß, hat noch nie jemand diese beiden Drähte überwunden.

Von vorne sieht Kilby Prison aus wie eine Schule aus rotem Backstein, ein Ort für Lehrerinnen, wie meine Frau eine ist. Büsche säumen den Vordereingang, dessen Doppeltür von elektrischen Lampen eingerahmt wird. Über den großen Lettern des Schriftzugs, der den Gefängnisnamen ergibt, spreizt ein Adler in einem Kreis die Flügel.

Es ist 1926, und man sollte doch meinen, es bedeutet etwas, dass schon ein Viertel dieses Jahrhunderts hinter uns liegt. Ich bin jetzt seit drei Jahren an diesem Ort, und auch das bedeutet etwas, sollte man meinen. Ich habe gerade meinen dreiunddreißigsten Geburtstag hinter mir, und mein Leben besteht nur noch aus den Jahren vor Kilby und denen darin. Ich hoffe auf die Jahre danach, aber nicht allzu oft. Hoffnung macht die darauffolgende Enttäuschung nur umso bitterer.

Der Herbst ist gekommen, kraftlos, lohfarben, und ich habe gerade meine Arbeit beendet, die darin besteht, die Risse zwischen den neun Meter langen Mauerabschnitten zu teeren, die entstehen, wenn die Kälte kommt. Jedes Jahr lässt der Gefängnisdirektor eine Truppe zusammenstellen, die besagte Risse mit Teer repariert, und ich bin seit meiner Ankunft dabei. Ich werde dafür von meinen anderen Pflichten entbunden, und für die paar Wochen ist es eine gute Arbeit. Raus aus der Hemdenfabrik, der Baumwollspinnerei und der Molkerei. Durch die Mauer wird die frische Luft von draußen hereingeweht. Auf der anderen Seite des Wetumpka-Montgomery Highways steht ein kleiner Eichenwald. Im Osten liegt Weideland und im Norden sind Felder mit Mais, Bohnen, Senf und Baumwolle. Selbst in der Kies- und Schottergrube, die sich im Westen befindet, riecht es wahrscheinlich angenehmer als innerhalb der Mauern. Und wenn man durch die Ritzen linst, hat man die Welt vor Augen, auch wenn wir sie gleich wieder mit Teer zukleistern müssen. Die Luft wird schwarz und klebrig, und dann sind wir wieder in Kilby Prison eingeschlossen. Wir haben weder die Zeit noch die Werkzeuge, um einen der Risse so zu erweitern, dass ein Mensch hindurchpasst, aber wir träumen davon, denken uns Vorwände aus, um allein in den Hof zu dürfen. Vielleicht schmuggeln wir sogar mal ein, zwei Gabeln aus dem Speisesaal. Bearbeiten die Risse mit den Steinen, die wir finden. Aber wir reden nie darüber. Arbeiten nicht zusammen. Flucht ist etwas ebenso Einsames wie Gefangenschaft – zumindest ist das anzunehmen.

Ich war gerade an der Mauer beschäftigt, als Deputy Warden Taylor mich ansprach. »Du hast dir einen Namen gemacht. Bondurant und Chaplain loben dich über den grünen Klee. Der beste Arbeiter, den sie je hatten, und so weiter und so fort. Ist da was dran?«

»Ich kann nicht für andere sprechen, Sir, aber wenn man mir eine Arbeit gibt, tue ich mein Bestes.«

»Vielleicht bist du ja was für den Hundezwinger. Komm morgen als Erstes bei mir vorbei. Ich habe den Wachen am Tor Bescheid gesagt, damit sie dich durchlassen.«

»Ja, Sir.«

Also gehe ich heute zum Tor, um ihn bei den Hundezwingern zu treffen.

Beau bewacht die Ostseite, und er spuckt mir den Tabaksaft direkt vor die Füße. »Sag bloß, du darfst für Taylor Hundescheiße schaufeln?«

»Weiß nicht, Sir.«

»Wird dich bei deinen Zellengenossen nicht beliebter machen – nicht dass du beliebt wärst.« Er lacht. »Ich wette, du glaubst, wenn du es zum Hundeführer bringst, bringst du es auch zum Kalfaktor, was? Mason hat dir bestimmt erzählt, wenn du erst Kalfaktor bist und Hilfsdienste für die Aufseher erledigst, bist du unantastbar. Ist schon so mancher Kalfaktor auf der Krankenstation geendet.«

»Ich bin nicht daran interessiert, mit Hunden zu arbeiten, Sir.«

»Maul halten.«

Er hämmert an die Metalltür, bevor er sie aufschließt. Ein zweiter Wärter schließt das Tor auch noch von der anderen Seite auf und winkt mich mit seiner Schrotflinte durch.

»Bring ihn zu Taylor. Und immer schön die Waffe auf seinen Rücken halten.«

Beau hatte es von Anfang an auf mich abgesehen. »Hältst dich wohl für was Besseres?«, hat er mich nach zwei Monaten gefragt. »Mit deinen feinen Manieren, deiner Ausbildung und so. Nach allem, was man hört, hast du dir nicht mal die Hände schmutzig gemacht, als du den Jungen umgebracht hast. Hast wahrscheinlich in deinem schicken, elektrisch beleuchteten Haus mit deiner Frau bei einem feinen Abendessen gesessen. Riecht für mich verdächtig nach Feigheit.«

Der Wärter auf der anderen Seite stößt mir den Doppellauf zwischen die Schulterblätter. »Los.«

Meine Nerven flattern zunehmend, als wir uns den Zwingern nähern. Deputy Taylor, der direkt am ersten Zwinger steht, sieht selbst aus wie eine Dogge, mit seinem schnauzenartigen Mund, dem Backenbart und Specknacken. Seine Hängebacken zittern, als er meinen Begleiter anbrüllt. »Wozu das Gewehr?«

Ich höre, wie der Wärter hinter mir Haltung annimmt. »Mir wurde gesagt, ich soll ihn nicht aus den Augen lassen. Wegen Fluchtgefahr.«

»Glaubst du, ich hol einen hier raus, bei dem Fluchtgefahr besteht? Himmel, Junge, ich weiß nicht, ob du helle genug bist, um hier draußen zu arbeiten.«

Der Wärter bleibt neben mir stehen, das Gewehr gesenkt. »Hab nur Beaus Befehle befolgt, Deputy.«

Taylor lacht und deutet mit dem Kopf zum Tor. »Los, zurück auf deinen Posten, und nimm keine Befehle von Beau an. Der ist auch nur ein Wärter, genau wie du.«

»Ja, Sir.«

Als er geht, brüllt Taylor ihm nach: »Und bring keinen mehr mit vorgehaltener Waffe hierher, verstanden?«

»Ja, Sir!«

Es ist tröstlich mitzubekommen, wie ein Wärter gemaßregelt wird.

»Na schön, Martin, mal sehen, was die Hunde von dir halten.«

Taylor zieht einen der Hunde sanft am Ohr, dann lässt er los und ruft: »Zurück!« Seine Stimme ist hart wie ein Peitschenhieb, und die Hunde zucken mit den Vorderpfoten vom Gitter zurück und stehen erwartungsvoll und gespannt da.

Zwei Männer misten in einiger Entfernung die Zwinger aus, füllen die Wassereimer und Futternäpfe. Es riecht noch schlimmer als in der Molkerei, ein stechender, fauliger Gestank liegt in der Luft, und ich will, dass Taylor erkennt, dass ich nicht hierhergehöre, dass es ein Fehler wäre, mich diesen Bestien zuzuteilen.

»Als Erstes bringen wir dir bei, wie man mit ihnen umgeht. Wenn du sie an der Leine hast, bist du der Herr für sie, aber wenn sie dir nachjagen, nur eine Fährte. Hundeführer sein ist eine Frage des Trainings, verstehst du? Lass dir einen Gürtel anlegen, lein einen Hund an, und dann schau einfach mal, wie es läuft.«

»Jones!«, ruft er einem der Männer zu. »Einen Gürtel und eine Leine.«

»Ja, Sir.«

Ich sehe Jones nach, der zu einer nahe gelegenen Scheune geht. »Die Gürtel habe ich selbst entworfen.« Alles an Taylor ist gewaltig – sein Bauch, seine Stimme, seine Hände. »Hab sie so anfertigen lassen, dass ihr bis zu neun Hunde anleinen könnt, wenn ihr wollt.«

Ich will nicht.

Er redet weiter über die Lederleinen, aber mitten in seinem Sermon plärren die Sirenen los; ihr heulendes Kreischen erinnert mich an einen großen Vogel, der vom Himmel herabstößt. Immer, wenn ich sie höre, muss ich an Marie denken und wie sie all die gefiederten Körper allein an ihren Rufen erkennen kann.

»Rotschwanz«, würde sie vielleicht beim Klang der Sirene sagen. »Dichtes Gefieder, braungrau. Verteidigt sein Revier und verjagt Rivalen mit seinen Rufen.«

Die Hunde haben die Pfoten wieder auf den Zaun gestellt und stimmen in das Geheul der Sirene ein.

»Jones!«, ruft Taylor. »Jackson! Leint die Hunde an!«

Jones kommt aus der Scheune gerannt, legt sich einen Gürtel um die Taille und wirft mir einen zweiten vor die Füße.

»Zieh den an, Junge«, sagt Taylor. »Das ist deine Feuerprobe.« Und zu Jones: »Hol Ruthie raus. Der ist es egal, wer sie führt, wenn sie nur einer Fährte folgen kann.«

Der Gürtel ist etwa fünf Zentimeter breit und dicker als alle, die ich bisher getragen habe. Zu beiden Seiten der Schnalle ist ein Ring angenäht und mit Extra-Flicken verstärkt. Daran kann man offenbar die neun Hunde anleinen.

Der Wachmann, der mir das Gewehr in den Rücken gestoßen hat, kommt mit einem Stofffetzen in der Hand auf uns zugerannt.

Ich mühe mich ab beim Versuch, mir den Gürtel über Hose und Hemd zu ziehen.

»Nimm die Leine«, sagt Taylor zu mir. Dann wendet er sich dem Wärter zu. »Gute Geruchsprobe?«

»Frischer geht’s nicht.«

Ich habe die Leine in der Hand, und Jones zerrt einen jaulenden Hund aus dem Zwinger. »Mach ein Ende am Halsband fest, das andere an einem der Ringe am Gürtel.«

»Was ist denn los?«

»Taylor liebt es, die Neuen ins kalte Wasser zu werfen«, sagt Jones. »Folg einfach dem Hund. Der weiß schon, was er tut.«

»Er ist noch in Sichtweite«, ruft Taylor uns zu. »Da hinten im Baumwollfeld. Bringt die Hunde her.«

Mein Hund zieht mich zu Taylor, zu dem Fetzen in seiner Hand, vergräbt die Nase im Stoff, schnüffelt, schnaubt und prustet, dann hebt er den Kopf und stimmt sein eigenes, ohrenbetäubendes Sirenengeheul an. »Folg dem Hund, Martin«, sagt Taylor zu mir. Die beiden anderen Männer haben ihre Hunde jetzt auch angeleint, sie stürzen sich auf den Stofffetzen, und ich stolpere hinter diesem riesigen Vieh her, das an meiner Taille angeleint ist und mich mit einer gewaltigen Kraft mit sich zieht. Es ist wie bei einem Pflug und einem Ochsen oder wie bei einem Wagen: Man lässt den Motor an, legt den Gang ein und los geht’s. Ich wünsche mir einen Zügel, damit ich den Hund bremsen kann.

Der Hund wird nicht langsamer, als er anfängt zu schnüffeln, seine Bewegungen bleiben fließend. Ich höre die anderen hinter mir, dann das Donnern von Hufen, und Taylor taucht neben mir auf, im Sattel eines großen, kastanienbraunen Pferdes. Es sieht aus wie Maries Pferd früher, als sie noch jung war und das Tier auch. Bevor ich nach Kilby kam, knabberte es nur noch an dem Gras um die Farm und trottete herum wie ein großer, fauler Hund; sein Leib schwankte tief zwischen Widerrist und Flanken – ein Senkrücken, der das Gewicht eines Menschen nicht mehr tragen konnte. Ich weiß nicht, ob es noch lebt.

Der Hund zerrt mich in das Baumwollfeld, und wir werden langsamer. Baumwollfelder zu durchqueren ist kein Vergnügen. Die Pflanzen trocknen kurz vor der Ernte aus, ihre Stiele werden hart und spitz wie die Zweige von Bäumen. Taylor reitet voran, die Winchester quer über den Schoß gelegt. Ich höre die Schreie der beiden Männer und ihre beiden Hunde hinter uns.

»Da!«, ruft Taylor, und ich sehe den fliehenden Mann mit dem klaffenden Riss im Gefängnishemd. Daher stammt wohl der Stofffetzen, an dem die Hunde geschnüffelt haben; so etwas zurückzulassen ist ein fataler Fehler im Fluchtgeschäft. Er ist noch im Baumwollfeld, sein Rücken hebt sich hell von den Pflanzen ab.

Einer der Feldaufseher heftet sich an seine Fersen, dann auch Taylor auf seinem Pferd, mein Hund, ich und die anderen.

»Du!«, höre ich Taylor rufen. »Bleib stehen!«

Der Mann wird nicht langsamer. Gleich hat er den Wald erreicht, und ich weiß nicht, was das für mich bedeutet, ob ich ihm folgen muss oder nicht. Wenn diese große Maschine von Hund in dieser Geschwindigkeit weiterläuft, breche ich irgendwann zusammen und werde wie ein Anker durchs Unterholz geschleift, Haut und Haare abgeschürft vom Waldboden und dem Gestrüpp.

Taylor zügelt kurz vor uns sein Pferd und lässt sich aus dem Sattel gleiten. »Halt den Hund zurück!«, ruft er mir zu.

Ich stemme die Fersen in den Boden, lehne mich nach hinten, lasse mich in die Baumwolle und auf den Boden sinken. Der Kopf des Hundes fliegt nach hinten, und er gibt ein trauriges Winseln von sich.

»Halt!«, brüllt Taylor dem Fliehenden nach.

Die beiden anderen Hundeführer tauchen rechts und links von mir auf, strecken die Hände aus und helfen mir auf die Beine.

»Sitz«, sagt Jones zu den Hunden. »Bleib.« Die drei Hunde hocken sich hin, die Schnauzen Taylor zugewandt.

Vor uns richtet Taylor den Gewehrlauf gen Himmel und feuert einen Schuss ab, der wie Kanonendonner klingt. »Ein Warnschuss genügt meist, um sie zu stoppen«, flüstert Jones. »In neun von zehn Fällen, würde ich sagen.«

Aber der Mann bleibt nicht stehen, obwohl er zwischen den Baumwollpflanzen nur noch langsam vorankommt. Ungeschickt, stockend kämpft er sich weiter – dann stürzt er. Ich sehe, wie die Baumwolle ihn verschluckt.

»Sollen wir Sie begleiten?«, fragt Jones.

»Warte«, sagt Taylor, als wäre Jones einer seiner Hunde.

Taylor geht weiter, den Blick auf die Stelle gerichtet, wo der Mann verschwunden ist. Ich stelle mir vor, wie er immer weiter flieht, im Schutz der Baumwollpflanzen auf den Ellbogen durch die Ackerfurche kriecht, sich zum Wald vorarbeitet.

Ich weiß nicht, wie Taylor es schafft, sich so flink zu bewegen. Er ist schon meterweit weg. Der Feldaufseher vor ihm hat ihm den Weg freigemacht. Es sind noch andere Männer hier auf dem Feld, Arbeiter in gestreifter Sträflingskleidung. Bei Taylors Warnschuss haben sie sich aufgerichtet. Hände, die gerade noch gepflückt haben, halten inne. Gebannt beobachten sie die Szene, drücken dem Mann, der gestürzt ist, die Daumen. Das sieht man. Sie alle wünschen ihm einen Geheimgang, genau da, wo er gestürzt ist, einen Fluchttunnel zum Meer, ein Schiff, das auf ihn wartet. Auch ich.

Aber der Mann taucht wieder auf, sein Körper, zerkratzt und zerlumpt, erhebt sich aus der Baumwolle.

»Halt!«, ruft Taylor wieder und bringt das Gewehr in Stellung. »Na schön. Ich werde es tun«, höre ich ihn sagen.

Wie kann es sein, dass ein Schuss, der auf einen Menschen abgefeuert wird, so viel gefährlicher klingt als ein Schuss in die Luft? Ich habe noch nie etwas so Lautes gehört.

Wieder stürzt der Mann, und Taylor dreht sich zu uns um. Der Schock und eine Andeutung von Angst stehen ihm ins blasse, schwitzende Gesicht geschrieben. »Weitermachen!«, brüllt er die Feldarbeiter an.

Zu mir und den beiden anderen sagt er: »Bringt die Hunde her, für den Fall, dass die Kugel woanders gelandet ist, als ich glaube.«

Der Feldaufseher ist schon vor uns da, er markiert die Stelle, und ich sehe Taylor etwas vor sich hin murmeln, während er auf ihn zugeht. Mein Hund ist still, zerrt aber immer noch an der Leine. Wir holen Taylor ein. »Neun«, sagt er. »Zehn, elf.« Er zählt seine Schritte.

Neunzehn, wie sich herausstellt. Er hat den Schuss aus neunzehn Schritten Entfernung abgegeben.

Mein Hund kläfft, als er den Mann erreicht, der am Boden liegt und sein Gesicht bedeckt. »Nicht den Hund auf mich hetzen. Ich laufe auch nicht mehr weg. Bitte, nicht den Hund auf mich hetzen.«

Ich halte den Hund zurück, und Taylor befiehlt ihm, sich zu setzen.

Die Seite des Mannes ist komplett aufgerissen, und ich erkenne ihn fast nicht, als er die Hände vom Gesicht nimmt, so schmerzverzerrt ist es. Er heißt Jennings; manchmal tauschen wir etwas – Milch, die ich aus der Molkerei stehle, gegen Zigaretten. Ich weiß, auch das ist Diebstahl, und ich habe weiß Gott genug gestohlen, aber Rauchen ist eins der wenigen Dinge hier, die mir Erleichterung verschaffen, eine der wenigen vertrauten Routinen.

»Bringen wir ihn auf die Krankenstation«, sagt Taylor zu dem anderen Wärter. »Ich brauche ein paar Männer. Sie sollen aus ihren Säcken eine Trage machen. Los, los. Er verliert zu viel Blut.«

Männer tauchen im abgeernteten Baumwollfeld auf, als wären sie schon immer da gewesen. Ein großer Mann mit nur einem Zahn – einem Schneidezahn – lässt einen Sack unter Jennings’ Kopf und Schultern gleiten. Er fasst ihn an der rechten Schulter, ein kleinerer Mann an der linken. Zwei an Jennings’ Hüfte, zwei an seinen Füßen. Als sie ihn hochheben, klingen die Laute aus seinem Mund feucht wie ein Bauchschuss und dunkel wie das Blut, das den mittleren Sack durchtränkt und die Pflanzen sprenkelt. Auf der Baumwolle ist es hell, auf den Stängeln und dem Boden dunkler. Die Pflanzen sind an dieser Stelle in einem fast perfekten Kreis zerdrückt.

»Bringt die Hunde zurück«, sagt Taylor zu uns und geht.

Wir sehen zu, wie die Männer Jennings wegtragen. Sie gehen zu einer breiteren Ackerfurche, um schneller voranzukommen. Auf den Feldern ist das Chaos ausgebrochen, die Aufseher stehen zusammen und tuscheln, die Männer bilden kleine Menschentrauben.

Wenn je eine Gruppe Hundeführer Gelegenheit hatte zu fliehen, dann jetzt. Wir könnten unsere Hunde auf eine erfundene Fährte im Wald ansetzen, tief ins dichte Unterholz, bevor irgendwer merkt, dass wir in die falsche Richtung gehen. Wir könnten uns aufteilen und in verschiedene Richtungen rennen, ich könnte mit dem Hund an meinem Gürtel durch Bäche waten, würde um Montgomery einen Bogen machen, Flüsse und Seen durchschwimmen, bis ich Maries Farm erreiche. Wir würden die Auffahrt hochgehen, das riesige Vieh und ich, beide erschöpft von der Flucht – »Kaninchen«, würde ich zu meiner Frau und meinem Sohn sagen. »Wir haben Kaninchen gejagt.«

»Was stehst du hier noch rum?«

Ich kenne den Wärter nicht, der mir das zubrüllt, aber er kommt näher. Wedelt mit seiner Waffe. »Taylor hat dir doch gesagt, du sollst den Hund zurückbringen«, schreit er. »Marsch, Marsch!«

»Sir«, sage ich und ziehe meinen Hund in Richtung der Zwinger. Die beiden anderen sind mir weit voraus. Ich hole sie ein, sie sind schweigsam.

»Bring den Hund in den Zwinger. Da kannst du ihn ableinen«, sagt Jones.

Ich bin nervös angesichts der Aussicht, den Zwinger mit der drängelnden Hundemeute zu betreten, aber ich quetsche mich trotzdem durch das schief hängende Tor.

»Die Hölle«, sagt Jones. Er starrt mich an, als ich aufschaue. »Die Hölle.«

»Ja.« Die Szene, deren Zeuge wir waren, hatte wirklich etwas Höllenartiges, mit den Hunden, der Sirene, der Baumwolle, den gestreiften Männern, den Schüssen und dem Blut.

»Normalerweise ist es nicht so. So was hab ich noch nie gesehen. Ich meine, dass Taylor auf jemanden schießt.«

»Nee«, sagt Jackson, der andere Hundeführer. »Ich hab’s auch zum ersten Mal erlebt, und ich bin schon dabei, seit Taylor die verdammte Meute angeschafft hat.«

Ich entlasse meinen Hund ins Gewühl der anderen Hundeleiber – Schnauzen und Schwänze, die sich durch andere Schnauzen und Schwänze schieben. Die Hunde beachten mich nicht, drängen sich um den, den ich gerade zurückgebracht habe, als wollten sie sich nach seinem Tag erkundigen. Wie war die Jagd?, fragen sie ihn mit den Augen. Hast du ihn erwischt?

Taylor ist mit Jennings weggegangen, die anderen Wärter sind zurück auf ihren Posten. Wir drei sind allein mit den Hunden, und der Drang, zu fliehen, packt mich mit solcher Macht, dass auf einmal mein gesamter Körper wie unter Strom steht.

»Die Wärter sind alle weg«, bemerke ich.

Jones lacht. »Glaubst du, du kannst abhauen? Das hier ist dein Ticket in die Freiheit?«

»Viel Glück«, sagt Jackson und lacht ebenfalls.

»Wieso nicht?«, frage ich sie.

»Besser als hier hast du es nirgends«, sagt Jones. »Bei keinem anderen Job hier im Gefängnis. Wenn sie dich zu den Hunden versetzen, kriegst du eher Hafturlaub, mehr Zeit außerhalb der verdammten Mauern. Aber wenn du abhaust? Ein Hundeführer, der in Ungnade gefallen ist, steht in der Hackordnung ganz unten. Man steigt nie wieder auf und kommt ganz sicher nicht früher raus.«

»Stimmt«, sagt Jackson.

Ich weiß, was Marie mir in dieser Situation raten würde: »Geduld, Roscoe. Erledige deine Arbeit. Der Lohn kommt später.«

Aber ich habe gesehen, wie ein Mann angeschossen wurde, würde ich antworten. Ich bin Elektriker. Ich gehöre nicht hierher.

»Das Beste, was du machen kannst, ist, zurück zum Tor zu gehen«, sagt Jones. »Sieh zu, dass du wieder reinkommst, und warte, bis Taylor sich bei dir meldet.« Er schaut mir in die Augen, ruhig und offen. »Das sind gute Hunde. Und deine Fährte wird verdammt leicht zu verfolgen sein, hier vom Zwinger aus.«

Das Bild von den Hunden, die meiner Fährte folgen, lässt den Drang verschwinden – ich auf der Flucht, und die Männer mit den Hunden auf der Jagd. Ich höre praktisch das Schreien der Männer und das Winseln der Hunde, ihre schnellen Schritte und ihr schnüffelndes Einatmen, wenn sie jede Spur meines Geruchs in sich aufnehmen, winzige Partikel, die einen Hunger in ihren Hirnen stillen. Folge ihm, sagen sie den Hunden. Finde ihn.

Ich will nicht gejagt werden.

Und so verlasse ich den Zwinger, Jones, Jackson und die Hunde und gehe zurück zum Tor und dem Wärter, der mir den Gewehrlauf in den Rücken gepresst hat, und ignoriere sein Feixen.

Beau schließt von innen auf und schiebt mich mit dem Gewehrlauf hindurch. »Ab in die Molkerei mit dir. Hast hier draußen sowieso nichts verloren.«

»Ich gehe ja schon, Sir.« Ich bin erleichtert, als das Tor hinter mir zugeschlagen wird. Die brütende Stille der Molkerei-Scheune ist mir lieber als alles, was ich heute gesehen und getan habe. Ich stelle mir vor, wie Marie über diese Ironie des Schicksals lachen würde – dass ich mich in einen Stall zurücksehne.

Am nächsten Morgen ist Jennings schon von der Krankenstation zurück.

»Halb so schlimm«, erzählt er uns im Hof. »Sie haben alle Schrotkörner rausgeholt.« Der Triumph in seiner Stimme steht im Widerspruch zu seinen blutunterlaufenen Augen, seinem schlurfenden Gang und der Art, wie er sich ständig die Hand auf die Seite presst. Als ich ihn am nächsten Tag sehe, ist sein Rücken gebeugt, eine Krümmung, die wohl bleiben wird, dann fängt er an zu schwitzen, sein Gesicht ist aschfahl und düster.

Er kommt im Hof zu mir, möchte die ganze Geschichte noch einmal erzählt bekommen. »Wie ist es, wenn man sieht, wie jemand niedergeschossen wird, Ross? Wie bin ich gefallen? Ich kann mich nicht erinnern. Ging alles so schnell.«

»Weiß nicht. Du bist einfach vornübergefallen.«

»Und was hat der alte Taylor gemacht?«

»Ist zu dir rüber.«

»Der Dreckskerl hat auf dem Weg seine Schritte gezählt, oder?«

Ich nicke.

»Neunzehn«, sagt Jennings. Jeder kennt die Zahl, sie hat sich mit rasender Geschwindigkeit auf den Feldern und in den Zellen verbreitet, als wäre das Ganze ein Geheimnis, dem wir endlich auf den Grund gegangen sind – neunzehn Schritte: weit genug, um danebenzuschießen und die Schrotkugeln über das ganze Feld zu verteilen, aber nah genug, um einem Mann die Seite zu durchlöchern, wenn sie treffen. Neunzehn. Wir murmeln das Wort wie einen Fluch.

Jennings schwitzt zu stark, Schweißperlen stehen ihm auf der Oberlippe und der Stirn.

»Alles in Ordnung?«, frage ich.

»Um ehrlich zu sein, ist mir ganz schön heiß. Hab mir wohl ein Fieber eingefangen.« Wieder presst er sich die Hand auf die Seite und versucht, sich aufzurichten, was ihm aber nur bis zu einem gewissen Grad gelingt – dann fällt er auf die Knie.

Einer der Wärter kommt angerannt. »Was ist los?«

Jennings schweigt.

»Ich glaube, er muss auf die Krankenstation«, sage ich.

»Ist das der Idiot, der sich ’ne Ladung Schrot eingefangen hat?«

»Ja, Sir.«

Der Wärter lacht auf. »He, Zielscheibe. Komm schon. Wir bringen dich auf die Krankenstation.« Jennings rührt sich nicht, und der Wärter zerrt ihn schließlich an einem Arm auf die Beine. »Glaubst du, ich trage dich, oder was?«

Gleich hinter dem Krankenhaus ist die Kapelle, und ich weiß, sie werden den Kaplan rufen, damit er sich zu Jennings ans Krankenbett setzt und mit ihm über sein Seelenheil redet. Jennings ist hier, weil er gegen das Alkoholverbot verstoßen hat. Er hat höchstens noch ein, zwei Jahre vor sich. Aber der Mann, der jetzt neben dem Wärter hergeht, ist ein gebrochener Mann – nicht mehr der, der mir die Zigaretten beschafft hat, und auch nicht der, der vor zwei Tagen über die Felder gerannt ist. Hier verändert man sich unglaublich schnell.

Am nächsten Tag lässt Taylor mich aus der Scheune holen und ich muss wieder durch das Osttor.

»Scheiße, das darf doch nicht wahr sein«, sagt Beau.

Er schiebt mich durch das Tor, und der Wärter auf der anderen Seite führt mich zu den Zwingern, den Lauf seines Gewehrs diesmal zu Boden gerichtet.