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Houellebecq entdeckt Schopenhauer im Alter von etwa sechsundzwanzig Jahren. In diesem Alter begreift er sich als »fertigen« Leser, für den sich bereits alles zu wiederholen beginnt – doch das Erlebnis der Lektüre von Schopenhauers Aphorismen zur Lebensweisheit bringt sein ganzes festgefügtes Denkgebäude »innerhalb von Minuten zum Einsturz«. Im Anschluss an diese im Grunde zufällige literarische Begegnung in einer öffentlichen Bibliothek beginnt Houellebecq ganz Paris nach einem Exemplar von Die Welt als Wille und Vorstellung abzusuchen, das zu diesem Zeitpunkt nur antiquarisch erhältlich ist.

(»Da waren wir in Paris, einer der bedeutendsten europäischen Hauptstädte, und das wichtigste Buch der Welt wurde nicht einmal nachgedruckt!«) Als er den Text schließlich in Händen hält, krempelt die Lektüre sein Leben vollends um.

 

Das Hinterfragen unserer Betrachtung der Welt, unseres Wissens über sie; die Betrachtung des Künstlers und seiner inneren Verfassheit; die Bedeutung der Kunst in der heutigen Zeit, in der sie zum Massenphänomen geworden ist; Poesie und Wahrheit: Das sind einige der Themen, mit denen sich Houellebecq anhand der für ihn wichtigsten Passagen in Schopenhauers Werk auseinandersetzt.

 

HOUELLEBECQ LIEST SCHOPENHAUER

»Ich kenne keinen Philosophen, dessen Lektüre auf Anhieb so ansprechend und trostreich ist wie die Schopenhauers.«

 
autor

© Philippe Matsas, Flammarion

MICHEL HOUELLEBECQ wurde 1958 geboren. Er gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart. Für seine Bücher, die in über vierzig Ländern veröffentlicht werden, wurde er mit den wichtigsten Preisen ausgezeichnet, u. a. dem Prix Goncourt. 2015 erschien sein Roman Unterwerfung, der wochenlang auf der Bestsellerliste stand und ein großes Medienecho hervorrief.

 

STEPHAN KLEINER, geboren 1975, lebt als freier Lektor und Übersetzer in München. Zu den von ihm übersetzten Autoren zählen T. C. Boyle, Keith Gessen, Chad Harbach, Geoff Dyer und Hanya Yanagihara.

MICHEL HOUELLEBECQ

IN SCHOPENHAUERS
GEGENWART

Aus dem Französischen
von Stephan Kleiner

 

 

 

SORS DE L’ENFANCE, AMI, RÉVEILLE-TOI!1

Unser Leben vollzieht sich im Raum, und die Zeit ist nichts weiter als Beiwerk, ein bloßer Reststoff. Bewahre ich mir ein nutzlos präzises fotografisches Andenken an die Schauplätze der Ereignisse meines Lebens, dann gelingt mir die zeitliche Einordnung nur durch mühsames Abgleichen und Schätzen. Als ich die Aphorismen zur Lebensweisheit in der Stadtbibliothek im 7. Arrondissement (genauer gesagt, im Nebengebäude im Viertel Latour-Maubourg) auslieh, mag ich sechsundzwanzig, vielleicht aber auch fünfundzwanzig oder siebenundzwanzig Jahre alt gewesen sein. In jedem Fall war es ziemlich spät für eine derart erhebliche Entdeckung. Zu jener Zeit kannte ich bereits Baudelaire, Dostojewski, Lautréamont, Verlaine, nahezu alle Romantiker; auch viel Science-Fiction. Ich hatte die Bibel gelesen, Pascals Gedanken, Simaks City, Manns Der Zauberberg. Ich schrieb Gedichte; mich beschlich schon das Gefühl, eher erneut zu lesen, als wirklich etwas Neues zu lesen – zumindest glaubte ich, in Bezug auf meine literarischen Entdeckungen eine Kreisbewegung vollzogen zu haben. Und dann brach innerhalb weniger Minuten alles zusammen.

Nach zweiwöchiger Suche schaffte ich es, mir ein Exemplar von Die Welt als Wille und Vorstellung zu besorgen, das ich in einem Regal der Buchhandlung Presses Universitaires am Boulevard Saint-Michel ausfindig machte. Das Buch war seinerzeit nur antiquarisch erhältlich (monatelang machte ich meinem Erstaunen darüber Luft, ich muss meine Verwunderung mit Dutzenden von Menschen geteilt haben: Da waren wir in Paris, einer der bedeutendsten europäischen Hauptstädte, und das wichtigste Buch der Welt wurde nicht einmal nachgedruckt!). Was die Philosophie anging, wäre ich um ein Haar bei Nietzsche geblieben, obwohl unsere Beziehung eigentlich bereits gescheitert war. Ich fand seine Philosophie unmoralisch und abstoßend, aber seine Geisteskraft imponierte mir. Gern hätte ich den Nietzscheanismus zerstört, sein Fundament zertrümmert, aber ich wusste nicht, wie ich es anstellen sollte – in intellektueller Hinsicht musste ich mich ihm geschlagen geben. Unnötig zu erwähnen, dass die Schopenhauer-Lektüre auch diesbezüglich alles veränderte. Ich kann es ihm nicht einmal übel nehmen, dem armen Nietzsche. Er hatte eben schlicht das Pech, nach Schopenhauer zu kommen – so wie er in der Musik das Pech hatte, Wagners Weg zu kreuzen.

Meine zweite philosophische Erschütterung überkam mich, als ich etwa zehn Jahre später Auguste Comte begegnete, der mich in eine diametral entgegengesetzte Richtung führte; zwei unterschiedlichere Geister kann man sich kaum vorstellen. Hätte Comte Schopenhauer gekannt, er hätte in ihm wohl einen bloßen Metaphysiker gesehen, einen Vertreter der Vergangenheit (fraglos einen schätzenswerten, der sich in der Tradition Kants, des »größten aller Metaphysiker«, bewegte, aber nichtsdestoweniger einen Vertreter der Vergangenheit). Hätte Schopenhauer Comte gekannt, hätte er dessen Überlegungen vermutlich nicht besonders ernst genommen. Die beiden waren, das nur am Rande bemerkt, Zeitgenossen (Schopenhauer 1788  1860, Comte 1798  1857). Oft bin ich versucht zu denken, dass auf intellektueller Ebene seit 1860 nichts mehr passiert ist. Es zerrt allmählich an den Nerven, in einer Ära der Mittelmäßigen zu leben, umso mehr, wenn man sich selbst außerstande sieht, das Niveau wieder anzuheben. Ich werde gewiss keinen einzigen neuen philosophischen Gedanken hervorbringen; in meinem Alter hätte ich sonst wohl schon entsprechende Anzeichen zeigen müssen. Aber ich bin mir fast sicher, dass ich bessere Romane hervorbringen würde, wäre das geistige Klima um mich herum nur ein wenig fruchtbarer.

Schopenhauer oder Comte? Letztlich musste ich mich für eine Seite entscheiden, und so wurde ich schrittweise, begleitet von einer Art ernüchtertem Enthusiasmus, zum Positivisten und hörte damit sukzessive auf, Schopenhauerianer zu sein. Das bedeutet jedoch nicht, dass ich Comte häufiger erneut lese, und wenn ich es tue, dann nie mit schlichtem, unvermitteltem Vergnügen, sondern eher mit jener leicht perversen (und, ist man einmal auf den Geschmack gekommen, gewiss auch heftigen) Freude, die man oft angesichts der stilistischen Verschrobenheiten Verrückter empfindet; dagegen kenne ich keinen Philosophen, dessen Lektüre auf Anhieb so ansprechend und trostreich ist wie die Schopenhauers. Es geht dabei auch gar nicht um seine »Schreibkunst« oder irgendeinen Blödsinn dieser Art; es geht vielmehr um die Grundbedingungen, mit denen sich jeder arrangieren können sollte, der die Stirn hat, seine Gedanken der Öffentlichkeit darzulegen. Im dritten, kurz vor seiner Abwendung von Schopenhauer verfassten Teil von Unzeitgemäße Betrachtungen preist Nietzsche dessen tiefe Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Rechtschaffenheit; er lobt seinen Tonfall, jene mürrische Herzlichkeit, die im Leser einen Widerwillen gegen Schönschreiber und Stilisten weckt. Dies ist im weitesten Sinne der Gegenstand der vorliegenden Schrift: Ich möchte versuchen, anhand einiger meiner liebsten Stellen aus Die Welt als Wille und Vorstellung zu zeigen, warum Schopenhauers Geisteshaltung in meinen Augen noch immer dazu geeignet ist, allen nachfolgenden Philosophen als Vorbild zu dienen, und warum man